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Die kleene Weddingerin und das Virchow-Klinikum

18. Juli 2014

Informationsabend für werdende Eltern

Virchow bei Tag

Jeden ers­ten Diens­tag im Monat, vor­zugs­wei­se drei Ster­ne nach Son­nen­un­ter­gang oder wie Pedan­ten es nen­nen wür­den: Ab 19:00h fin­det im Virch­ow-Kli­ni­kum im Wed­ding der Infor­ma­ti­ons­abend aller Infor­ma­ti­ons­aben­de für Eltern­men­schen in spe statt. Wenn man Glück hat, ist sogar eine Kreiß­saal- bzw. Geburts­saal­be­sich­ti­gung inklusive.

Im Publi­kum vor­ne links eine schwan­ge­re Frau. Ganz ohne Part­ner und völ­lig allein. Nein, die Arme. Wie schlimm. Und sie­he, auch das über­heb­li­che Mit­leid der Kom­par­sen aller Sitz­rei­hen hin­ter ihr hat sich nun also ein­ge­fun­den. Man zeigt nicht mit Fin­gern, aber das Tuscheln ist auf die Flu­re deut­lich zu ver­neh­men. Ich blät­ter’ durch’s Pro­gramm. Es geht los. Ers­ter Auf­zug. Ers­ter Satz.

Chef­arzt, Sta­ti­ons­lei­tung, Heb­am­men ste­hen im Ram­pen­licht. Hör­saal 6 ist aus­ver­kauft, so scheint’s. Ein in die Jah­re gekom­me­ner Lap­top unbe­kann­ter Mar­ke über­nimmt schnell das Pro­gramm und führt die Ver­neh­mer­schaft durch die wun­der­sa­me Welt der Babys und Krankenhäuser.

Prof.Dr.med. Sta­ti­ons­arzt ver­si­chert, 90% der Väter sei­en bei der Geburt des eige­nen Nach­wuch­ses im Kreiß­saal prä­sent. Uns aber erschien das immer unpas­send. Wir sind näm­lich die Ande­ren, die Aus­sät­zi­gen. Die zehn Pro­zent. Ich blät­te­re wei­ter durch’s Pro­gramm und ver­hal­te mich mög­lichst unauf­fäl­lig. Seit­dem wir wuss­ten, dass wir das Frei­los für die Are­na des Eltern­seins gezo­gen hat­ten, wuss­ten wir auch, die­se wun­der­sa­me Welt soll­te nicht unnö­tig mit geburt­li­chen Details belas­tet wer­den. Mythisch und auf­re­gend soll­te sie blei­ben. Welch guter Plan. Welch idio­ti­scher Plan. Die Ent­schei­dung für eine Kli­nik in Lauf­nä­he, zumal mit Neo­na­to­lo­gie, das war wahr­schein­lich die ein­zig klu­ge Ent­schei­dung an die­sem Abend.

Auf dem Weg in die Geburtsklinik

Fahrstuhl Virchow-Klinikum

Sonn­tag Mor­gen, 1h Uhr Orts­zeit, sie­ben Tage vor ora­kel­tem Geburts­ter­min. Ber­lin schläft. Alles wie immer. Ich befin­de mich auf einem Sprung im fer­nen Neu­kölln, auf dem Weg zum Taxi­stand. Her­mann­platz. Ein Anruf. Bla­sen­sprung. Ver­wirrt. Frucht­was­ser. Ach­so. 40 Minu­ten und alle Umwe­ge und Tun­nel die­ser Stadt zwi­schen Neu­kölln und Wed­ding spä­ter bin ich vor Ort. Im Virch­ow gibt es so genann­te Stor­chen­park­plät­ze. Ein Park­platz für wer­den­de Eltern also, der zum 30minütigem Par­ken berech­tigt. Wer sol­che Park­plät­ze ein­rich­tet, hat ver­mut­lich selbst nie Kin­der gehabt und soll­te von die­sem Ansin­nen wohl auch die Fin­ger lassen.

Wir lau­fen über den Augus­ten­bur­ger Platz, vor­bei an der Kapel­le. Mit­tel­al­lee 9. Kli­nik für Geburts­me­di­zin. Der Fahr­stuhl öff­net sich und da ste­hen wir. Die Tore der Geburts­kli­nik. Ich stel­le mir müdes­trun­ken vor, es sei der ein­sams­te Ort der Welt. Doch wie vie­le Men­schen auf den Bei­nen sind. Wie vie­le von ihnen in Trau­ben, am Tropf, heim­lich rau­chend, mit Han­dys in Hän­den. Zir­kus-Atmo­sphä­re in der Virch­ow-Mane­ge könn­te man mei­nen. Nein, so viel Leben hät­te ich sonn­tag­mor­gens hier nicht erwartet.

Und warm ist es. Tro­pisch gera­de­zu. Ich den­ke an den Ama­zo­nas, an Ed Staf­ford und mein nie begon­ne­nes Sur­vi­val-Trai­ning. Ich bin ver­lo­ren. Und viel zu warm ein­ge­packt. Ob ich mein T‑Shirt aus­zie­hen kön­ne, über­le­ge ich noch, wäh­rend das CTG lei­se summt. Es erscheint mir aber unangebracht.

Wartende Männer, wartende Frauen

Kreißsaal Virchow-KlinikumMan hört Seuf­zen. Seuf­zen zwi­schen den Zim­mern, seuf­zen auf den Gän­gen. Frau­en, die seuf­zend angeb­lich auf den schöns­ten Moment ihres Lebens war­ten. Mich beschleicht das Gefühl, das Wun­der des Lebens, hier findet’s nicht statt. Halb­göt­ter in weiß sind eben­so wenig in Sicht.

Viel­leicht ist das Wun­der des Lebens nur ein lau­fen­des Band. In einem rie­si­gen Kran­ken­haus. Nachts um halb zwei. Mor­gen für mor­gen kommt es zur Welt. Spä­ter erfah­ren wir, es gab in die­ser Nacht acht wei­te­re Gebur­ten, die meis­ten von ihnen betreu­ungs­in­ten­si­ve “Kai­ser­ge­bur­ten”. Immer­hin eine Geburt mehr als die sie­ben Welt­wun­der. Und das in einer ein­zi­gen Nacht.

Als spä­te Erkennt­nis neh­me ich mit, das Leben kommt. Mit aller Macht. Beson­ders nachts. Beson­ders am Leben ist, was man beson­ders dar­an macht. Mir brennt sich ein: Man braucht über­haupt kein Arzt für einen Geburts­vor­gang. Irgend­wie trös­tet mich die­ser Gedan­ke später.

Män­ner gibt es auch. Sie sind rascheln­des Falsch­geld, sind im Schlepp­tau. “Eng­lish­men in New York” wür­de Sting sagen, wäre er hier. Män­ner. Sie wer­den zu Schoß­hünd­chen, zu Gepäck- oder bes­se­ren Lift­boys, die mal baff, mal brö­selnd her­um­ste­hen. Manch männ­li­ches Gesicht scheint leer. Selbst Sta­ti­ons­ärz­te mei­den den geburts­kli­ni­schen Ort. Wird einer geru­fen folgt.. Stil­le. Zu sehen ist er nicht, der Arzt. Wie gut, dass man für einen Geburts­vor­gang kei­nen Arzt braucht. Wir bewe­gen uns in Heb­am­men-Ter­ri­to­ri­um. Ich füge mich. Ich wer­de Gepäck­boy. Stel­le mir vor, ich trü­ge eine rote Uni­form. Mit Müt­ze. Ich drü­cke den Knopf. Damit kenn’ ich mich aus.

Und dann ist’s soweit

Wei­te­re drei­ßig Minu­ten war­ten. Auf Plas­tik­stüh­len sit­zen, Geburts­kar­ten lesen. Par­ti­el­len Chan­ta­lis­mus stel­le ich fest. Die Sym­pto­me sind ein­deu­tig. Eine wei­te­re Stun­de. Das CTG hat auf­grund einer lee­ren Farb­kar­tu­sche die Aus­sa­ge­kraft einer Kris­tall­ku­gel im Som­mer­mor­gen. Die dann und wann anwe­sen­de Heb­am­me überspielt’s gekonnt und stellt fest: “Wir fah­ren bes­ser sofort in den Kreiß­saal!” Sie weiß, was sie macht. Ein ein­sa­mer Ort fühlt sich anders an, denk ich noch. Ob sie den Geburts­saal meint?

Um 5:07h ist’s soweit. Ob ich die Nabel­schnur durch­schnei­den wol­le? Ich dach­te, ich bin hier der Papa, nicht der Toten­grä­ber. Ich baue mich auf, haue mei­ne Faust in den ima­gi­nä­ren Ama­zo­nas-Strand und rufe: “Ihr Wahn­sin­ni­gen!” – und ver­nei­ne dann doch lie­ber ganz lei­se. Heb­am­men-Ter­ri­to­ri­um. Mei­ne vom Geburts­vor­gang gequetsch­ten Fin­ger ver­ges­se ich für einen Moment und sum­me ganz lei­se.. irgend­was von Sting. Mei­ner Toch­ter, die ich zum ers­ten Mal sehe, ihr scheint’s zu gefallen.

Infor­ma­ti­ons­aben­de

Tobi­as Weber schreibt über sei­ne Erfah­run­gen als Vater einer töch­ter­li­chen Urge­walt regel­mä­ßig auf sei­nem Blog http://johnnyspapablog.de

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