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Bekannt für den POCO-Markt:
"Einmal Wedding mit alles!"

28. Juni 2024
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Noch verweist eine bunte Wandwerbung an der Ecke Osloer Straße / Prinzenallee auf die „Domäne“. So hieß der 1985 eröffnete Einrichtungsmarkt an der Drontheimer Straße bis vor wenigen Jahren.

Ortswechsel. Ein paar hundert Meter weiter, genau in der Mitte der Drontheimer Straße. Einige zusammenhanglos wirkende Fabrikgebäude, davor ein großer Parkplatz mit Blick auf graue Hinterhöfe.

Und doch bietet dieser trostlose Ort ein einzigartiges Flair. Für manche ist er nur ein enger und wuseliger Durchgang zwischen dem U-Bahnhof Osloer Straße und dem Soldiner Kiez. Wer aber in dem Menschengewimmel einmal kurz stehenbleibt und genauer hinschaut, kann den Reiz dieses verbauten Ensembles erkennen. Schon das eigentliche Fabrikgebäude in roter Backsteinoptik strahlt seinen sehr herben industriellen Charme aus. Das wirkliche Leben spielt sich aber daneben in den flacheren, teilweise mit Wellblech verkleideten Ergänzungsbauten rund um den zugeparkten, uneben geteerten und unwirtlichen Hof ab. Schon der hässliche Parkplatz, der von Brandmauern, Hinterhöfen und alten Weddinger Gemäuern begrenzt wird, signalisiert Zurückweisung. Als ob das nicht reicht, hindern schwarz-gelbe Betonbarrieren Autofahrer am Durchfahren des Geländes. Umso lebendiger das Kleingewerbe rund um den Parkplatz: Ein Punjab-Supermarkt lockt mit frischem Obst, in einer Baracke mitten auf dem Gelände hat sich der Avanti-Flickschuster eingerichtet, im Bürogebäude aus den 1960er Jahren ist heute ein Veranstaltungscenter für Hochzeiten und Familienfeiern, und natürlich darf auch eine Döner-Bude nicht fehlen.

Das pulsierende Herz des Geländes ist aber der vierstöckige Poco-Einrichtungsmarkt mit seinem halbrund überdachten Eingang. Ein buntes, mit vielen Waren vollgestelltes Haus. Gardinen, Gartenmöbel, Deko-Artikel – von allem etwas und alles vom Billigsten. „Schönes Wohnen für weniger Geld“ nennt das die Werbung von Poco. Das Sammelsurium hat aber mehr was von einem 1 -Euro-Shop als vom "Marktplatz" im schwedischen Möbelhaus.

Mehr ein "Kaufhaus des Weddings" als ein "Kaufhaus des Westens"

Statt mit einer Rolltreppe wie in anderen Einkaufsparadiesen geht es per pedes (oder, ganz Fabrikgebäude, mit einem Lastenaufzug!) in die oberen Etagen. Hier gibt es auf einmal Elektrogeräte, viel weiße Ware, aber auch Lampen, Bettwäsche, Haushaltsgeräte, Kochgeschirr und Porzellan. Auf 7000 qm eine Warenwelt wie in einem klassischen Kaufhaus, die man in diesem Fabrikgebäude mit seinen niedrigen Decken und grellen Neonleuchten kaum erwarten würde. Aber es ist mehr ein „Kaufhaus des Weddings“ als ein „Kaufhaus des Westens“. Ganz oben kommen dann auch noch Küchen und Möbel aller Art. Immerhin: Wie bei Woolworth, Karstadt und IKEA kann man das meiste auch direkt mitnehmen - an der Seite des Fabrikgebäudes gibt es eine Warenausgabe.

Braucht man Farben und Werkzeuge, heißt es allerdings das Gebäude zu verlassen, denn der kleine Baumarkt ist in einem flachen Nebengebäude untergebracht. Quer über den Hof, in die nächste Mini-Kaufhauswelt. POCO hat nicht die größte Auswahl, aber von allem etwas und ist im Preis immer günstiger als die großen Einkaufstempel. „Das Angebot ist seinen Preis immer wert“, wirbt POCO. Aber manches ist auch so billig und so trashig, dass man sich wundert, wer das denn kaufen möchte.

Was diesen Ort aber wirklich originell macht, ist die Mischung an Leuten, die das Gelände nutzen. Die Kunden tragen Kopftuch oder Turban, weißes Doppelripp-Unterhemd oder Goldkettchen. Ob Büro oder Akademie, Moschee oder Spielhalle: Die Fabrikgebäude aus verschiedenen Epochen müssen für die Besucher nur ihren Zweck erfüllen. Und doch ist das Gelände wie unter einem Brennglas die Vielfalt, die den Wedding ausmacht. Die niedrigen Preise, das breit gefächerte Angebot und die quirligen Menschenmassen, die die Gebäude und den POCO bevölkern, machen einen Besuch dort zu einem Wedding-Erlebnis auf engstem Raum. „Wedding in a nutshell“ sozusagen. Dazu kommt, dass hier unter dem POCO-Personal noch ausgesprochen viel berlinert wird. Auch sonst hat das Einkaufen hier immer etwas Rohes, Unverfälschtes. Wedding-Feeling, wie ihr es nicht mehr überall im Stadtteil erleben könnt.

Die Fabrik selbst nannte sich früher Hydrawerk und ist in verschiedenen Epochen erbaut worden. Die AEG-Tochter befasste sich vor allem mit der Herstellung von elektrostatischen Kondensatoren und anderen elektrischen Bauelementen. Der größte Teil der Gebäude wurden 1928/29 von AEG-Hausarchitekt Ernst Ziesel errichtet.

Mit Rücksicht auf die umgebenden Wohnbauten wurden die beiden oberen Geschosse an den Längsseiten und am Ostgiebel zurückgestaffelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand auf dem Gelände noch ein viergeschossiges Fabrikationsgebäude in Stahlskelettbauweise. Mit dem Niedergang der AEG Anfang der 80er-Jahre wurde auch hier die Produktion zurückgefahren und später aufgegeben. Heute gehören die Gebäude als "Hydrawerke" dem Kölner Projektentwickler Bauwens und erfahren verschiedene Nutzungen. Schlechte Erfahrungen hat das Künstlerkollektiv StattLab e.V. nach dem Auslaufen seines Mietvertrags mit dem angebotenen Ersatzraum machen müssen: doppelte Quadratmeterpreise und kurze Vertragslaufzeit. Der 120 Mitglieder starke Verein ist inzwischen ins Brunnenviertel gezogen.

Das Gelände ist ein schönes Beispiel, wie das industrielle Erbe ein zweites Leben im Wedding bekommen hat. Bleibt zu hoffen, dass die einzigartige Mischung der Gewerbehöfe im Sog der steigenden Gewerbeimmobilienmieten erhalten bleibt.

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

Rolf Fischer

Ich lebe gerne im Wedding und schreibe über das, was mir gefällt. Manchmal gehe ich auch durch die Türen, die in diesem Teil der Stadt meistens offen stehen.

1 Comment

  1. Großartig, Wedding ist Teil meiner Identität. Eure Beiträge sind in diesem Sinne immer wieder eine herrliche Bereicherung, danke ❤

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