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Ein Samstagmorgen im Wedding:
Eine Stunde Wedding: Herausgerissen

29. Oktober 2022

Wenn ich gewusst hät­te, dass mir heu­te, noch bevor die Son­ne ihren Zenit erreicht, in einem Hin­ter­zim­mer im Wed­ding hei­ßes Wachs in Nase und Ohren gegos­sen wür­de, hät­te ich wohl kei­nen Schritt vor die Tür gemacht. Woll­te ich sowie­so nicht, denn es ging mir hun­de­elend, als ich heu­te erwach­te. Weil ich eine schlech­te Nacht hat­te und eine Schlaf­ta­blet­te genom­men hat­te. Schlaf­ta­blet­ten machen Kopf­schmer­zen, also brauch­te ich eine Schmerz­ta­blet­te, aber die Schach­tel mit den Kopf­schmerz­ta­blet­ten war leer. Wer stellt lee­re Tablet­ten­schach­teln in mei­nen Medi­ka­men­ten­schrank? Muss wohl ich gewe­sen sein. Was wie­der­um eini­ges über mei­ne Zurech­nungs­fä­hig­keit am frü­hen Mor­gen sagt. Also bes­ser einen Kaf­fee trin­ken, bevor ich neue Dro­gen kaufe. 

Ein Blick ins Porte­mon­naie zeigt, dass es nur für eins reicht: Ent­we­der Kaf­fee oder Pil­len. Heißt, dass ich nach dem hei­ßen Tür­ken­trank von der fröh­li­chen Bäckers­frau neben­an erst­mal zum Super­markt muss, weil dort der Geld­au­to­mat steht. Vor der Bäcke­rei tref­fe ich die klei­ne Frau wie­der, deren rot gefärb­ten Haa­re am Ansatz grau wer­den. Ges­tern habe ich mit ihr in einem der Papp­kar­tons mit unnüt­zem Zeug rum­ge­wühlt, die in der letz­ten Zeit bei uns vor den Haus­ein­gän­gen ste­hen. Ich habe eine Schraub­zwin­ge ergat­tert, sie eine Tee­kan­ne. So was ver­bin­det. Wir nicken uns zu.

Foto: Rolf Fischer

Bis zum Super­markt dau­ert es zehn Minu­ten, das reicht eigent­lich, um den Kaf­fee wir­ken zu las­sen. Trotz­dem bin ich vor­sich­tig bei der finan­zi­el­len Trans­ak­ti­on, prü­fe den Kon­to­stand, denn es ist Monats­en­de und der Unter­halt wird immer abge­bucht, bevor das Gehalt über­wie­sen wird. War­um eigent­lich? Muss ich mal ändern. Ach, es gibt so viel zu ändern, wenn man einen schwe­ren Kopf hat und man weiß an einem sol­chen Sams­tag­mor­gen gar nicht, wie man das je schaf­fen soll. Und ich muss auf­pas­sen, dass ich mir nicht noch mehr Ärger auf­hal­se. Es ist mir an die­sem Auto­ma­ten auch schon mal pas­siert, dass ich zwar die Kar­te raus­ge­zo­gen habe, aber nicht die Geld­schei­ne. Die hat der Auto­mat dann wie­der geschluckt. Hab ich dann bei der Post anru­fen müs­sen, und die haben tat­säch­lich zuge­ge­ben, dass da 200 Euro zuviel in dem Auto­ma­ten waren. Haben sie mir zurück über­wie­sen. Sehr kor­rekt, kann man nicht meckern.

Heu­te schaf­fe ich es auf den ers­ten Anlauf, ver­staue mein Geld, ver­ges­se nicht, die Kar­te aus dem Auto­ma­ten zu zie­hen, tre­te auf die Stra­ße in den win­di­gen Okto­ber­tag und atme durch. Ers­te Auf­ga­be geschafft! Das könn­te ein schö­ner Tag wer­den.
Zur Apo­the­ke müss­te ich jetzt links, aber ich schaue auf die ande­re Stra­ßen­sei­te und sehe, dass der deut­sche Fri­sör­sa­lon auf­ge­ge­ben hat. Kein Ver­lust, denn an die Küns­te der robus­ten Damen mit den Kit­tel­schür­zen und den rosa Kunst­fin­ger­nä­geln erin­ne­re ich mich mit Schmer­zen. Was ich in die­sem Moment noch nicht weiß: Ihre tür­ki­schen Kol­le­gIn­nen, die den Laden über­nom­men haben, über­tref­fen sie in per­fi­der Grau­sam­keit bei weitem.


Doch erst­mal siegt die Neu­gier. Ein Grund, den neu­en Laden aus­zu­pro­bie­ren ist schnell gefun­den: In zwei Wochen hei­ra­tet mei­ne Schwes­ter. Nach 35 Jah­ren wil­der Ehe hat ihr Lebens­ge­fähr­te end­lich sei­nen Mut zusam­men­ge­nom­men und sie gefragt. Auf die Knie konn­te er vor ihr nicht mehr gehen, denn er hat Arthro­se. Zur Hoch­zeit muss Mann ordent­lich aus­se­hen, also rein in den Laden.

Ein jun­ger Mann küm­mert sich um eine Kun­din, ein ande­rer steht rum und miss­ach­tet mei­ne Anwe­sen­heit. Erst als er von dem Jün­ge­ren einen Hin­weis auf Tür­kisch bekommt, macht er sich bei mir schüch­ter­nen Ges­ten bemerk­bar und winkt mich freund­lich auf einen Ses­sel zum Haa­re­wa­schen. Das hat­te ich noch nie, aber war­um nicht? Ein biss­chen war­mes Was­ser und Kopf­krau­len ist genau das, was mei­ne gemar­ter­ten Hirn­zel­len jetzt brau­chen. Mit einem Hand­tuch auf dem Kopf wer­de ich dann auf einen Fri­sier­stuhl bug­siert. Gera­de ver­su­che ich mei­nem stum­men Zau­ber­lehr­ling mei­ne Wün­sche zu erklä­ren (Maschi­nen­schnitt, 9 Mili­me­ter), da rauscht aus einem Hin­ter­zim­mer eine Frau in einem bil­li­gen Baum­woll­kleid in den Salon, sieht was los ist und meckert laut: „Ich has­se es, mit Män­nern zusam­men zu arbei­ten.“ Offen­sicht­lich ist mein Juni­or-Figa­ro Ziel ihres Zorns, denn von nun ab weicht sie ihm nicht mehr von der Sei­te. Die Pro­ze­dur nähert sich nach eini­gen Nach­bes­se­run­gen einem akzep­ta­blen Ende, als ich dar­um bit­te, dass er sich auch noch den Haa­ren in den Ohren wid­men soll. Nor­ma­ler­wei­se zücken dann Män­ner, die ihr Hand­werk in tür­ki­scher Tra­di­ti­on erlernt haben, ein Feu­er­zeug oder einen bren­nen­den Wat­te­bausch und wedeln mit der Flam­me ein paar mal über die Ohren ihres Kli­en­ten. Nicht so hier. „Das darf er nicht“, tri­um­phiert die Fri­seu­rin, „das mache nur ich. Wenn sie mir in mein Zim­mer fol­gen wol­len.“ Benom­men wech­se­le ich ein wei­te­res mal den Platz und fin­de mich auf einer Lie­ge wie­der, mit dem Kopf nach unten. Ich sehe, wie sie eine glit­zern­de grü­ne Mas­se anrührt, ahne, was jetzt kommt und wün­sche mir, doch zuerst die Schmerz­ta­blet­ten gekauft zu haben. Mit dia­bo­li­schem Grin­sen nähert sie sich mit dem Wachs mei­nem Ohr und träu­felt es hin­ein. Es wird warm. „Will­kom­men in der Welt des Schmer­zes“, sagt Jeff Gold­blum als unge­schick­ter Fol­te­rer in „The Big Lebow­sky“. Wei­ter kom­me ich nicht mehr, da gibt es einen Ruck und ein Rei­ßen, und mit dem Aus­druck grö­ßer Befrie­di­gung und irre fun­keln­den Augen hält die Magie­rin einen schil­lernd grü­nen Abguss mei­nes Innen­ohrs, gespickt mit ein paar grau­en Här­chen über mein Gesicht. Mein Ohr fühlt sich plötz­lich kühl an und sehr sehr sau­ber. So wie es sich anfühl­te, als ich mit mei­ner Freun­din vor vie­len Jah­ren mit india­ni­schen Ohren­ker­zen expe­ri­men­tier­te. Rich­tig gut. Und von sel­ber fällt mir ein, dass es ja auch noch in der Nase Haa­re gibt, die weg müs­sen. Die Wachs-Rei­ße­rin freut’s.

Als ich den Salon ver­las­se, habe ich drei Mal so viel Geld da gelas­sen wie üblich. Aber mein Kopf ist klar und ich füh­le mich wie ein gepfleg­ter Mann von Welt. Der Wind weht zum einen Ohr rein und zum andern wie­der raus.

Rolf Fischer

Ich lebe gerne im Wedding und schreibe über das, was mir gefällt. Manchmal gehe ich auch durch die Türen, die in diesem Teil der Stadt meistens offen stehen.

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