Tag 1 – Sonntag, 27.02.2022
Sonntagmorgen. Frühlingswetter in Berlin. Krieg in Kyiv. Es fällt mir schwer damit umzugehen, was passiert. Entsetzen, Hilflosigkeit, Wut. Ich verspüre seit Tagen ein starkes Bedürfnis etwas zu tun und treffe den schon zuvor schwelenden Entschluss loszufahren. Packe Kameras und einige warme Klamotten ein, schwinge mich aufs Motorrad.
Schon im Süden der Stadt verlässt mich die Sonne und der immer stärker werdende Nebel lässt die Fahrt gerät zu einem kalten, ja etwas bedrückendem Unterfangen werden. Ähnlich entwickelt sich mein möglicherweise etwas naiver Plan, spontan mit Flüchtlingen aus der Ukraine sprechen zu können.
Die Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt.
Als ich an meinem Ziel Eisenhüttenstadt ankomme, stehe ich vor verschlossenen Türen: die Zentrale Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge Brandenburgs ist ein umzäunter Komplex. Das Security-Personal verweist mich ans Innenministerium.
Ernüchtert fahre ich zurück nach Frankfurt (Oder) und dann über die Stadtbrücke nach Słubice. Life as usual: die Straßen sind bei der Kälte weitgehend leergefegt. Menschen sitzen in Cafés. Auch ich gönne mir einen wärmenden Tee und entscheide dann, die Nacht eine halbe Stunde hinter der Grenze auf dem Land zu verbringen. In der Dämmerung fahre ich über Landstraßen, durch kleine Dörfer mit holprigen Pflasterstraßen, qualmenden Schornsteinen und halb-verlassenen Gehöften. Ich verbringe den Abend mit Recherche und trinke heißes Wasser (mehr bietet die Teeküche nicht).
Straße in der Nähe von Gądków Wielki.
Tag 2 – Montag, 28.02.2022
Mithilfe einer Übersetzungs-App kann ich einige Wörter mit meiner Gastgeberin austauschen und gelange an einen Kaffee. In der Morgensonne sitzend rufe beim Brandenburger Innenministerium an, werde dort an die Kommune verwiesen, dann an den Landkreis, dann wieder ans Innenministerium. Schließlich erhalte ich den Hinweis, ich möge bitte eine E‑Mail mit meinem Vorhaben und Redaktionsauftrag schicken. Es hilft alles nichts, einige Stunden später heißt es: „Wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte, bitten wir um Verständnis, wenn wir Drehgenehmigungen auf der Liegenschaft der Zentralen Ausländerbehörde derzeit nicht erteilen können. Wir bewerten die Lage aber fortlaufend.“
Links: Ein kleines Dorf in Polen nahe der deutschen Grenze. Rechts: Junge Wehrdienstleistende in Rzepin.
Inzwischen bin ich zurück über die Grenze gefahren, zum Bahnhof in Frankfurt (Oder). Auf dem Weg begegnete ich beim Frühstück an einem Supermarkt jungen polnischen Wehrdienstleistenden. So wie später im Laufe des Tages, als ich einen Militärlaster und einen Panzer auf einem Transportfahrzeug sehe, läuft mir ein Schauer den Rücken herunter. Ich erinnere mich noch, wie mir als Kind dieser Anblick jedes Mal so fremd und absurd vorkam. Warum hier, mitten in Europa, wo wir über jede Grenze fahren können so oft und wann wir wollen? Sehr bewusst und froh nehme ich wiederum wahr, wie unspektakulär Menschen über die Odergrenze schlendern.
Links: Solidaritätsbekundung vor einem Supermarkt in Słubice. Rechts: Polizeibeamt*innen begleiten Flüchtlinge auf die Wache zur Kontrolle der Personalien.
Am Bahnhof treffe ich tatsächlich einige Flüchtlinge. Viel mehr als 20–30 sind es nicht. Helfer*innen sehe ich keine. Die Polizei geleitet einige von ihnen auf die Wache, um die Personalien zu prüfen. Andere sitzen in der Bahnhofshalle und warten. Ich spreche sie an und erfahre, dass viele von ihnen nicht wissen, wie sie weiterkommen können. Mit ukrainischem Pass oder Visum sollten und scheinen sie keinerlei Probleme mit der Einreise in Deutschland zu haben und Fernzüge dürfen sie ja nach der Entscheidung der Deutschen Bahn kostenlos nutzen. Regionalbahnen zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht.
Flüchtlinge warten am Bahnhof Frankfurt (Oder).
Ich fange an, ihnen am Ticketautomaten Verbindungen auszudrucken, die nur ICE/IC/EC enthalten und versuche, ihnen auf Englisch oder Französisch (einige der Flüchtlinge kommen ursprünglich aus afrikanischen Ländern) dieses System zu erklären. Viele haben konkrete Reiseziele wie Berlin, Dortmund, Heidelberg, Frankfurt am Main, weil sie Familie, Freunde oder Bekannte in diversen Städten haben. Diese Verbindungen zu konkreten Orten erklären wohl auch, warum die Erstaufnahmestelle laut Medien bisher nicht viele Ankommende vermeldet.
Links: Flüchtlinge beim Versuch sich mit dem WLAN im Bahnhof zu verbinden. Rechts: Fahrkartenautomat.
Die meisten der Flüchtlinge, nicht alle, wirken relativ gefasst. Vielleicht kommt das aber auch einfach von der Müdigkeit. Die Kommunikation ist keineswegs einfach, aber ich spüre Dankbarkeit und Erleichterung – auch als ich immer wieder erkläre, wie man sich in das WLAN der Deutschen Bahn einloggt (man erinnere sich an den berüchtigten Login-Bildschirm, der manchmal gar nicht oder auch gerne nur auf Deutsch erscheint) und die Handys voller verpasster Nachrichten klingeln.
Destiny, 25.
Einen von ihnen, Destiny (25), der ursprünglich aus Nigeria kommt, begleite ich zum Zug. Er erzählt, dass er in seinem Heimatland Polizist gewesen sei, vor Gewalt flüchtete und seit einigen Monaten in Kyiv lebe. Wir verstehen nicht alles, was wir uns gegenseitig sagen, aber was ich sicher verstehe: dass er Gewalt und Tod in der Ukraine erlebt hat und seit Tagen mit schweren Koffern unterwegs ist. Er lehnt dankend ein Stück Schokolade ab, weil er, wie er mit einem heiteren Gesichtsausdruck sagt, bei der Ankunft in Polen mit Essen, Süßigkeiten und Getränken überhäuft wurde.
Links: Destiny zeigt seine schmerzende Hand, nachdem er seit Tagen schweres Gepäck trägt. Rechts: Destiny besteigt den EC in Richtung Berlin.
Nachdem sein EC nach Berlin abgefahren ist und auch in der Bahnhofshalle nicht mehr viele Wartenden sitzen, frage ich mich: was jetzt? Ich entscheide, ich muss weiter und schwinge mich aufs Motorrad, fahre auf die Autobahn A2 gen Osten. Nun sitze ich in Łódź und weiß zwar, wohin mich meine Reise als nächstes führen wird: in die Grenzregion zur Ukraine. Aber was mich dort genau erwartet und wie lange ich wo unterwegs sein werde, weiß ich nicht. Manchmal frage ich mich, warum ich das überhaupt tue. Was bringt das? Sind nicht genug Medien und Helfende vor Ort? Zumindest heute am Bahnhof in Frankfurt (Oder) habe ich gemerkt, dass der Eindruck manchmal täuschen kann und es nicht schadet es einmal zu probieren.
Tankstelle an der Autobahn A2 in Richtung Warschau.
Tag 3 – Dienstag, 01.03.2022
Es ist Abend. Ich befinde mich etwa 50 Kilometer vor der ukrainischen Grenze in einem Hotel. Draußen bewegt sich das Thermometer um den Gefrierpunkt. Im Hotelrestaurant läuft Fahrstuhlmusik. Einige Leute sitzen an ihren Tischen. Das Leben hier scheint seinen gewohnten Gang zu gehen. Ich denke an den Tag zurück.
Links: Fußgängerüberweg. Rechts: Tank-Stopp.
Ich mache mich am späten Vormittag in Łódź auf den Weg. Tankstelle, Bäckerei, die üblichen Stops. Über eine Landstraße fahre ich zur Autobahn. In der ersten Stunde um Warschau sehe ich zunächst einen Panzer auf einem LKW, dann einige Militär-Tanklaster, dann Militär-Transporter. Nach einem Dutzend höre ich auf zu zählen. Es wirkt dann schon normal. Aber noch immer unbehaglich. Tatsächlich sehe ich im Laufe des Tages wider Erwarten nicht viel mehr.
Bei stundenlangen Fahrten, alleine auf dem Motorrad, immer das gleiche Dröhnen in den Ohren, hat man reichlich Zeit zum Nachdenken. So mache ich, was ich schon als Kind gerne machte: Nummernschilder lesen, wobei meine Kenntnisse der polnischen Geographie kaum ausreichen, um Regionen und Städte zu erraten. Immer wieder nehme ich auch in meine Richtung fahrende ukrainische Autos und Transporter wahr. Ich frage mich, ob sie zur Grenze zurückfahren um Menschen abzuholen. Oder ob Menschen darin sitzen, die in die Ukraine fahren, um zu kämpfen. Ich weiß es nicht. Die Gedanken schweifen immer wieder auf dieses eine Thema und die Nachrichten der letzten Tage und Stunden. Der Himmel ist den ganzen Tag strahlend blau. Wie sieht er wohl einige hundert Kilometer von hier aus? Raketen in Kyiv.
Der Himmel bei Lublin.
Verbrannter Geruch liegt über der Autobahn bei Lublin. Feuerwehr mit Blaulicht überholt mich. Ich habe keinen blassen Schimmer, was vor sich geht, aber erwische mich, bei jeder „Kleinigkeit“ in Katastrophenszenarien zu denken. Gestern Nacht im Halbschlaf passierte ähnliches, als die seichten Träume in unangenehme Richtungen gingen. Was kommt als nächstes?
Links: Jedes zweite geparkte Auto hat ein ukrainisches Kennzeichen. Rechts: Nach Tanzen ist mir nicht zumute.
Fortsetzung (Teil 2)
Unter dieser Seite haben wir ein paar Informationen zusammengestellt, wie man von Berlin und Wedding aus helfen kann. Die Seite wird nach und nach befüllt.