Für die einen sind sie ein ständiges Ärgernis, für die anderen ein großer Verlust. Für manche sind sie nur verbogenes Alteisen, für andere eine Ersatzteil-Fundgrube. Fahrradleichen, Schrotträder und vergessene Schmuckstücke findet man nach dem langen Winter an jeder Straße im Wedding. Und es werden immer mehr. Ganz unbemerkt hat sich das Ordnungsamt dem Problem angenommen. Und so wird manchem Schrottrad ein zweites Leben geschenkt.
Es ist immer traurig, ein einsames Fahrrad sterben zu sehen. Es steht es an einer Laterne, einem Fahrradbügel oder einem Straßenschild festgeschlossen. Manchmal hat es schon ein paar Macken, oft ist es aber noch ganz in Ordnung, und überraschend oft ist es sogar ein richtig gutes Rad, das eigentlich nicht alleine auf die Straße gehört. Zuerst fällt es nicht auf, dann sieht man es Tag für Tag und man weiß, dass etwas nicht stimmt. Es steht unbewegt an seiner Stelle. Wem es gehört und wer es da hin gestellt hat, weiß niemand, aber man ahnt schon, dass es keiner mehr abholen kommt. Und man ahnt, was mit ihm geschehen wird. Und es ist jedes Mal grausam. Immer ist es der Sattel, der zuerst weg ist, oft noch bevor die Reifen die Luft verloren haben. Dann tritt jemand gegen das Vorderrad, das kraftlos zusammen sinkt. Das ist dann das Zeichen für die anderen Leichenfledderer. Lenker, Schaltung und Hinterrad werden herausgerissen, bis nur noch ein verrosteter Rahmen übrig bleibt und ein Schloss, das niemand knacken konnte. Irgendwann, nach einer Zeit langen Leidens, klebt dann ein weißer Zettel mit gelben Punkt am Rahmen oder eine gelbe Banderole. Und irgendwann ist es dann weg. Und niemand weiß wohin. Gibt es einen Friedhof der vergessenen Fahrräder?
Nein, aber es gibt das Ordnungsamt. Tausend tote Räder hat das Ordnungsamt Mitte im Jahr 2022 markiert. Ein Höchststand für diesen Bezirk. Und das sind nur die Räder, die im „öffentlichen Raum” gefunden wurden. Hinzu kommen noch die Räder, die von der BVG und der S‑Bahn von den Haltestellen entfernt oder von der Polizei sichergestellt werden. Wer sein Rad vor dem Bahnhof Gesundbrunnen vergessen hat, muss erst einmal das Grundbuch studieren, um herauszufinden, wer für den Abtransport zuständig war. Denn was dort der Deutschen Bahn gehört und was „öffentlicher Raum” ist, kann noch nicht mal das Bezirksamt auf Anhieb sagen. Die Flut von Schrotträdern ist ein Trend, der sich in allen Großstädten seit Jahren verfolgen lässt.
Für so eine Flut von Schrott muss es Gründe geben. Ganz sicher hat sich jeder und jede nach einer heftigen Kneipentour oder nach einem langen Urlaub schon mal die Frage gestellt, wo er oder sie sein Fahrrad abgestellt hat. Und wenn es nicht mehr das Allerneueste und Allerschönste war, wird sich der Aufwand für die Suche in Grenzen halten. Das Fundbüro der Polizei anzurufen oder anzuklicken, verspricht wenig Erfolg. Weniger als hundert herrenlose Damenräder oder damenlose Herrenräder werden dort gelistet. Die Polizei sortiert wirklich noch nach diesen altmodischen Geschlechter-Kategorien. Immerhin gibt es auch noch die Liste „sonstige Fahrräder”, sozusagen die Diversen unter den Rädern. Da findet man dann Klappräder und Mountainbikes. Aber meist endet die Suche nach dem verschwundenen Drahtesel mit einer Diebstahlsanzeige bei der Polizei, und wer Glück hat kann damit dann zu seiner Versicherung gehen. Das war’s dann meist.
Aber mehr als 1000 vergessene Fahrräder. So besoffen kann man selbst im Wedding nicht ständig sein. Mitarbeiter des Ordnungsamtes skizzieren in einer rbb-Reportage einen anderen möglichen Verlauf. Es seien oft gestohlene Räder, die als Schrottrad enden. Sie würden eine Zeitlang von den Dieben genutzt, dann irgendwo abgestellt. Anscheinend werden sie vorher oft vorher noch mutwillig zerstört. Die Wracks sind dann Opfer für andere Diebe, die die Einzelteile abschrauben. Trauriges Ende eines Joyrides.
Eine steile, aber nicht unwahrscheinliche These stellt der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) auf. Er vermutet, dass viele Räder einfach von Anfang an keine lange Lebensdauer hatten. In seiner Sprache heißt das „Die Käufer haben nicht in Qualität investiert.” Auf Deutsch heíßt das: Es gibt Räder, die waren von Anfang an Schrott, Schrott im Schaufenster. Ein Blick auf einen beliebigen Fahrradständer an einem S‑Bahnhof, oder die Nachfrage bei einer Fahrradwerkstatt bestätigt das. Obwohl in den letzten Jahren der Trend zu immer hochwertigeren und teureren Rädern, vor allem E‑Bikes geht, ist in den letzten Jahrzehnten von Baumärkten oder Discountern auch sehr viel Ramsch auf zwei Rädern verkauft worden. Und so kultig und leidenschaftlich die schnittigen Rennräder aus den 70er-Jahren derzeit gehandelt und gepflegt werden, so achtlos wird mit den klobigen Citybikes aus den 90ern umgegangen. „Bei dem fünften Platten innerhalb kurzer Zeit wird das Fahrrad dann einfach an irgendeine Ecke gestellt.”, vermutet Rainer Kolberg vom ZIV. Sind Fahrräder zu Wegwerfartikeln geworden?
Neues Leben für Schrotträder
Diesen Trend will man in Mitte zumindest im Umgang mit den Fundrädern von den öffentlichen Plätzen und Räumen etwas entgegensetzen. Seit 2019 arbeitet der Bezirk Mitte mit der gemeinnützigen Goldnetz GmbH zusammen. Vier Wochen nach der Markierung meldet das Ordnungsamt die Schrotträder an Goldnetz. Diese sollen in der Regel innerhalb von zwei Wochen von den Laternen oder Fahrradbügeln abgeflext werden. Wer allerdings zur Zeit durch die Straßen des Wedding flaniert, sieht, dass weder Ordnungsamt noch Goldnetz mit der Arbeit hinterher kommen. In einer medienwirksamen Aktion von Bezirksstadträtin Almut Neumann wurden im Januar vor dem Hauptbahnhof Schrotträder vom Ordnungsamt mit gelben Banderolen markiert. Für die Müllerstraße oder Gesundbrunnen haben die Kapazitäten dann anscheinend nicht mehr gereicht. Hier findet man jede Menge Schrotträder, aber kaum eins hat eine gelbe Markierung.
In den Sozialwerkstätten des Bildungsträgers in Spandau und Moabit werden die Räder dann für das Projekt „Good Bikes” aufgearbeitet. “Good Bikes” ist ein Projekt zur Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen. Die Rahmennummern werden der Polizei gemeldet, um sicherzugehen, dass die Räder nicht als gestohlen gemeldet sind. Nach der Freigabe durch die Polizei beginnt in den Werkstätten die Auslese: Wo es möglich ist, werden die Fahrräder repariert, oder verwendbare Teile werden demontiert, mit dem Ziel, möglichste viele instand gesetzte Räder zu produzieren. Allein 2022 wurden 560 Schrotträder eingesammelt und 9 Tonnen sortierter Schrott recycelt. Die reparierten Fahrräder gibt „Good Bikes“ an gemeinnützige Einrichtungen kostenfrei ab. So konnten beispielsweise Geflüchtete bei Rückenwind e.V. mit über 30 Rädern unterstützt werden.
Noch einen Tipp vom Ordnungsamt: Die mit dem weiß-gelben Punkt markierten Fahrräder sind nicht vogelfrei. Sie dürfen nur von Goldnetz oder einem anderen Beauftragten entfernt werden. Auch wenn es noch so schwer ist, einem Rad beim Sterben zuzusehen: Einfach mit nach Hause nehmen darf man ein verlassenes Fahrrad nicht. Aber man kann sein Leiden verkürzen, indem man es online beim Ordnungsamt meldet.
Hallo nochmal
der Link zur Uni-Mainz funktioniert noch immer nicht !!
Warum wurden meine Links zur Uni.Mainz im obigen Kommentar weggelassen ??
https://www.hs-mainz.de/fileadmin/Hochschule/Publikationen/Sonstiges/Arbeitspapier_Schrottraeder-20230118.pdf
Gruß
Sorry, jetzt geht der Link
Hallo,
Ergänzung von mir , ja das ist ein seltsames Phänomen welches ich auch überall beobachte . Ob es der fallen gelassene zum-mitnehmen-Pappbecher ist oder die zu tausenden Zigarettenstummel , ebenso die wilde Vermüllung der Stadt durch Sperrmüll oder eben die Fahrräder, die irgendwer irgendwann am Zaun anschließt und es verrosten lässt … möglich das die Menschen immer asozialer werden !!??
frühlingshafte Restwoche
Unsere HV (Heimstaden) hat zuletzt auch den Innenhof von alten Fahrradleichen beräumen lassen – eine Aktion, die schon längst überfällig war! Nun ist wieder Platz!