Die Brauseboys schauen wieder wochenlang bis zum Anfang des Jahres noch fast täglich von der Bühne auf das Jahr zurück. Für den Weddingweiser wagen Sie den Blick auf ihr Jahr im Kiez. Was hat sich verändert, was hat für sie aufgehört, was hat angefangen. Die Weddinger Autoren berichten schonungslos.
Wo denkt man hin
Manchmal schaue ich vom Balkon auf die Seestraße und stelle mir vor, dass hier nur Elektroautos fahren. Es sind dann immer noch viele, aber wie leise könnte das sein im Vergleich? Es würde natürlich viel weniger stinken, womöglich wäre die Sicht auf die Straße klarer. Manchmal stelle ich mir vor, dass dann sogar weniger Elektroautos dort fahren, und wenn ich mir ganz verwegen noch etwas dazu vorstelle, dann, dass an den Seiten kein Auto mehr parkt.
Manchmal schaue ich vom Balkon und stelle mir vor, dass gar keiner mehr oben fährt, sondern in autonomen U‑Bahn-Wagen unter der Seestraße, die jetzt ein grüner Flanierstreifen ist, mit Fahrradwegen und Kinderspielplätzen mit Null-Gravitations-Hüpfburg.
An einem Sonntag zur frühen Stunde schaute ich auf die helle Straße und niemand fuhr vorbei, alles wirkte wie leergefegt. Nur ein Betrunkener wankte, ohne die Ampeln zu beachten, quer über die Straße, auf der anderen Seite schlurfte ein Mann mit Hüftschaden über den Gehweg. Das war eine andere Zukunft, die nach der Zombiekatastrophe. Schnell ging ich wieder hinein und schlief weiter. Manchmal schaue ich vom Balkon auf die Seestraße und stelle mir lieber gar nichts vor.
Frank Sorge
Lifestyle
Die Kinder sitzen auf der Couch und gucken Youtube-Videos auf dem Tablet. „Habt ihr nicht noch Hausaufgaben zu machen?“, frage ich, obwohl ich selbst früher nie Hausaufgaben gemacht, sondern immer vor dem Unterricht abgeschrieben habe. „Nein, noch nicht“, sagen die Kinder, und dann sagen sie: „Aber jetzt wollen wir erst mal unseren Lifestyle chillen.“ Verblüfft schaue ich sie an. „Ihr wollt was?“ „Wir wollen unseren Lifestyle chillen!“ Ich hole tief Luft, aber dann sage ich doch lieber nichts. Es sind empfindsame Seelen, die noch reifen müssen. Dafür braucht man vielleicht nicht zwingend korrekte deutsche Sätze.
Aber dann will ich ihnen wenigstens noch etwas Gesundes unterschieben.„Wollt ihr Erdbeeren?“, frage ich daher. Sie schauen nicht malauf: „Nö.“ „Aber Obst ist gesund!“, hake ich nach, und da werden sie zu meiner Überraschung plötzlich munter und schauen sogar vom Tablet auf. „Obst?“, quiekt der Kleine, „Erdbeeren sind doch kein Obst! Erdbeeren sind Nüsse!“ Ich bin fassungslos, „Erdbeeren sind also Nüsse und kein Obst, so, so. Wer hat euch das denn erzählt? Diese Youtuber, die Sätze sagen wie: Ich chille meinen Lifestyle? Ernsthaft?“ Die Kinder schauen mich irritiert an. „Aber Erdbeeren sind nun mal Nüsse“, sagt der Kleinere, „die vermeintliche rote Frucht ist in Wahrheit nur eine Scheinfrucht. Die eigentlichen Früchte sind die kleinen Körner da drauf. Und das sind Nüsse.“ Ich glaube, es hackt. „Eure Youtuber sollen lieber erstmal sprechen lernen, bevor sie sich den Kopf über Pflanzenmorphologie zerbrechen! Über Scheinfrüchte räsonieren, aber Ich chille meinen Lifestyle sagen! Und was kommt als Nächstes? Dass sie nicht süß schmecken, sondern scharf?“ Der Große ruft:„Scharf ist doch kein Geschmack! Scharf ist ein Schmerz! Es gibt nur süß, bitter, salzig und sauer, mehr können unsere Geschmacksrezeptoren nicht wahrnehmen!“ „Eure vielleicht nicht! Weil ihr eure Geschmacksrezeptoren von diesen Youtubern verkleistern lasst!“, bin ich allmählich richtig in meinem Element, „nicht richtig sprechen können, aber das dann neunmalklug, diese korintenkackenden Arschlöcher!“ „Ey Alter“, sagt mein Älterer, „jetzt geh mal nicht so krass ab. Ist doch alles nice. Setz dich einfach dazu. Gerade haben Larsoderso und Arazhul das neue Süßigkeitenvideo aus Thailand released.“ „Ich soll mir angucken, wie diese sprachgestörten Schwachmaten thailändische Süßigkeiten in sich reinstopfen und dabei sinnloses Zeug plappern?“Aber mein Jüngerer hält mir das Tablet vor, und versehentlich schaue ich kurz drauf und denke: Bääääh, was ist das denn?, und auf dem Bildschirm ploppt in Comic-Schrift ein großes Bäääh auf, und ich denke, das Zeug sieht aber wirklich krass eklig aus, und Arazhul sagt, dass das aber wirklich krass eklig aussieht, und dann denke: ach Scheiße, was soll’s, und setzte mich mit aufs Sofa. Hausaufgaben können sie morgen ja noch irgendwo abschreiben. Und vielleicht sollte ich auch einfach mal ein bisschen meinen Lifestylechillen.
Heiko Werning
Babylon Berlin
Bei der Szene, wo der edle Kommissar sich auf den Weg macht, um seinen ebenfalls edlen Chef auf den drohenden Staatsstreich durch monarchistische Reichswehr-Putschisten aufmerksam zu machen und das Droschken-Taxi zur Eile mahnt, erwische ich mich bei dem Ausruf: „Mann, ruf den an oder schicke eine Message.“
Ich brauche einen Moment, um mir klar zu machen, dass die Serie 1929 spielt.
Robert Rescue
„Sie haben mich ins Gesicht gefilmt, das dürfen Sie nicht!“, diktierte der sächsische LKA-Pegidist Maik G. der Lügenpresse ins Mikrofon. Die Brauseboys lassen sich das nicht zweimal sagen und filmen dem Jahr 2018 voll ins Gesicht: Was bleibt, und was verhallt ungehört in der Geschichte?
Bild: http://www.brauseboys.de/?page_id=388
In ihren wöchentlichen Leseshows haben Thilo Bock, Robert Rescue, Frank Sorge, Volker Surmann und Heiko Werning 2018 intensiv beobachtet und kommentiert, nun präsentiert die Weddinger Vorlese-Boygroup ihren Jahresrückblick. Ein Abend zwischen Diesel und Chemnitz, überraschenden Gipfeln und spielerischen Niederlagen, zwischen Trumptweets, Erdoganfotos und Gaulands verschwundener Badehose.
Satire vom Blatt, Liedgut vom Klavier und Bilder von der Wand. – Ein Multimediaereignis!
Alle Vorstellungen im Comedyclub Kookaburra
Schönhauser Allee 184, Berlin-Mitte
Karten: 030⁄4862 3186, Ticket-Link