Sechs kreisfreie Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke, dazu jede Menge unbebautes Land: Wie Berlin durch eine Eingemeindung im großen Stil vor genau hundert Jahren zur Weltstadt aufstieg, erzählt der bekannte Stadthistoriker Felix Escher in einem neu erschienenen Buch namens “Berlin wird Metropole”. Er legt die Siedlungsgeschichte Berlins und seines Umlands frei und zeigt, welche Spuren dieser Entwicklung noch heute erkennbar sind und wie sie die brandenburgische und deutsche Geschichte im Berliner Raum widerspiegeln.
Wie alles anfing
Am 27. April 1920 wurde mit dem „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“ auch der kommunale Rahmen geschaffen, der Berlin seit hundert Jahren ausmacht. Die damals entstandenen Stadtgrenzen haben den Zweiten Weltkrieg, die Teilung der Stadt und auch die neue Rolle Berlins als Bundeshauptstadt fast unverändert überstanden. Dieses Jubiläum nimmt der Autor zum Anlass, einen weiten Bogen zu spannen. Dabei wird nicht nur die ursprüngliche Doppelstadt Berlin-Cölln betrachtet, sondern das gesamte heutige Stadtgebiet mit den älteren Siedlungen Spandau und Köpenick. Weshalb die Gründung der Kaufmannssiedlungen Berlin und Cölln an einer Spreefurt in der günstigen Lage an den zwischen Elbe und Oder führenden Wasser- und Landwegen gelang, woher das Wort Kiez stammt, wie systematisch neue Dörfer rund um Berlin angelegt wurden, wird anschaulich erklärt. Auch das Dorf Wedding stammt aus der Zeit der planmäßigen Kolonialisierung der Mark Brandenburg im Spätmittelalter. Durch die Nähe zum aufstrebenden Berlin gelangten Wedding und Gesundbrunnen schon früh in den Besitz der Stadt. Bis zur offiziellen Eingemeindung dauerte es allerdings noch bis 1861.
Die Phasen der Stadtentwicklung, in denen aus einer relativ spät gegründeten Siedlung eine Residenzstadt wurde, werden in zwei Kapiteln über das Mittelalter und die Zeit bis 1800 zusammengefasst. Die für Berlin so bedeutenden Phasen der Industriellen Revolution, der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, der nationalsozialistischen Herrschaft, der Zeit als Viersektorenstadt, der Teilung und der Zeit als wiedervereinigter Bundeshauptstadt werden in ausführlichen Kapiteln dargestellt.
Wie Berlin groß gedacht wurde
Besonderes Augenmerk legt der Autor auf die Stadtplanungen von Peter Lenné und James Hobrecht. „Das mit dem Hobrechtplan verbundene Projekt, eine Stadt mit wenig mehr als 600.000 Bewohnern ohne moderne Infrastruktur im Jahre 1861 innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts in eine Metropole mit fast drei Millionen Einwohnern mit einer ausgebildeten Stadtstruktur und Infrastruktureinrichtungen sowie Platz für eine weitere Million zu verwandeln, bleibt bemerkenswert. Diese städtebauliche Leistung kann in ihren Dimensionen mit anderen Vorhaben des 19. Jahrhunderts wie der Umgestaltung von Paris durch Georges-Eugène Haussmann oder der Anlage der Wiener Ringstraße verglichen werden – ohne dass dafür im nennenswerten Umfang staatliche Mittel aufgebracht wurden.“
Auch der enge Zusammenhang zwischen dem Nahverkehr und der schnellen Stadtentwicklung des Berliner Umlands wird detailliert erklärt. Ein Kranz selbstständiger Vororte, die teilweise zu kreisfreien Städten oder stadtähnlichen Gemeinden aufstiegen, machten der Kernstadt Berlin Konkurrenz – sei es durch die Ansiedlung zahlungskräftiger Bevölkerungsschichten oder durch Industrieflächen. Viele Versuche, eine einheitliche Kommunalstruktur für das auf mehrere Kreise oder kreisfreie Städte verteilte Siedlungsgebiet zu schaffen, scheiterten am Widerstand der eigensinnigen Gemeinden. Vor allem das Beispiel Spandau wird im Buch dargestellt. Über mehrere Etappen wie dem Zweckverband Groß-Berlin (ab 1912) gelang die Bildung der 884 Quadratkilometer großen Einheitsgemeinde ab 1920, der damals flächenmäßig zweitgrößten Stadt der Welt. Heute ist Berlin die flächenmäßig und nach Einwohnerzahl größte Stadt der Europäischen Union.
Doch nicht nur die politische Geschichte der Stadtwerdung wird im Buch „Berlin wird Metropole“ beleuchtet, sondern auch die nicht weniger wichtige Schaffung der städtischen Infrastruktur, die im Kern bis heute fortbesteht. Wie modern die riesige Einheitsgemeinde Berlin geplant hat, zeigt sich an den Wohnungsbauvorhaben der 1920er-Jahre, die bis heute als wegweisend geltend und zum Teil den Status des UNESCO-Weltkulturerbes besitzen (wie die Weddinger Siedlung Schillerpark). Auch das Verkehrswesen mit der 1929 gegründeten BVG als kommunalem Verkehrsbetrieb und die ab 1927 elektrifizierte S‑Bahn galten weltweit als vorbildlich.
Die geplante Umgestaltung der Stadt in der NS-Zeit, die massiven Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, der Wiederaufbau in zwei konkurrierenden Gesellschaftssystemen, ja selbst die Teilung in zwei Stadthälften haben der 1920 geschaffenen Grundstruktur im Wesentlichen nichts anhaben können. Sogar bei der 2001 vorgenommenen Bezirksreform wurden die 1920 gezogenen und 1938 leicht korrigierten Bezirksgrenzen nicht angetastet. Dabei verlor der Wedding zwar die bezirkliche Eigenständigkeit, die er 1920 erlangt hatte, ging aber als Ganzes in den neuen Bezirk Mitte über.
Um Berlin zu verstehen
„Berlin wird Metropole“ legt die Schichten der Stadt, wie wir sie heute kennen, wie in einem Profil frei. Wer einen guten Überblick über die Entwicklung dieser Stadt sucht und die Entstehungsgeschichte dieser polyzentrischen Stadtlandschaft verstehen will, ist mit diesem gebundenen Buch gut bedient.
ISBN 978−3−96201−038−6
29,95 €