Wer an die Badstraße in Wedding-Gesundbrunnen denkt, der erinnert sich an das imposante freistehende Backsteingebäude unmittelbar neben der Panke, die an dieser Stelle von einer breiten Brücke überbaut ist. Die Panke ist für die Weddinger “die Spree”. Auch die jüdische Schriftstellerin Frieda Mehler (*1871, +1943) nimmt die Panke in ihrem kleinen Kinderbuch „Feiertags-Märchen“ (erschienen 1935) über die wichtigsten jüdischen Fest- und Feiertage auf.
Mose auf der Panke
In der einführenden Erzählung zu „Feiertags-Märchen“ wollen die Geschwister Peter und Mirjam die Geschichte von Mose (führte die Israeliten aus Ägypten durch die Wüste zu einer neuen Freiheit und Einheit) mit der Puppe von Mirjam nachspielen. Sie legen die Puppe in ein Körbchen aus der Speisekammer, laufen damit die Treppen hinunter in den Hof, wo hinten die Panke vorbeifließt und wollen sie schwimmen lassen – wie es die Mutter von Moses tat und ihn über den Nil schwimmen ließ. Erst treibt der Korb flussabwärts, dann kippt er um und die Puppe wird vom Wasser davongetragen. Nach einer Odyssee fischt ein Panke-Reiniger die Puppe aus dem Wasser und gibt sie einem armen Mädchen, das sich über dieses Wunder freut, denn es ist ihr Geburtstag und sie hatte sich sehnlichst eine Puppe gewünscht.
„Die Panke ist ein kleines Flüßchen in dem großem Berlin, es fließt durch die Stadt, und die Kinder kennen es von der Quelle im Park an“, so Frieda Mehler. Die Autorin lässt ihre Geschichte unmittelbar vor bzw. hinter der eigenen Haustür spielen. Sie wohnt zusammen mit Julius Mehler, der Tochter Helene und dem Sohn Ludwig in dem imposanten Backsteingebäude an der Badstraße. Das Mietshaus Arnheim, wie das Haus Badstraße 40 auch heißt, entstand 1891–93. Die Wohnungen waren für die Angestellten der Tresorfabrik S. J. Arnheim gedacht, die gleich dahinter begann.
Vom Wedding in die Welt: Die Tresorfabrik Arnheim
Die jüdische Familie Arnheim gehörte zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit zu den ersten, die in Berlin Kassen und Geldschränke herstellte. Ihr Unternehmen konnte sich im aufstrebenden Kaiserreich rasant entwickeln und erlangte einen ausgezeichneten Ruf, denn die vielen kleinen Privatbanken und schnell expandierende Warenhausketten hatten einen erheblichen Bedarf an Geldschränken.
Am Ende des 19. Jahrhunderts verließ das Unternehmen die Rosenthaler Straße und errichtete ab 1890 im Wedding zwischen Osloer Straße und Badstraße eine große Produktionsanlage samt dem Wohnhaus für Angestellte an der Badstraße 40⁄41. Außergewöhnlich sind die Fassaden mit rotem Backstein, glasierten farbigem Klinker und nur dezentem Schmuck sowie das fehlende Hinterhaus.
Bis zum Ersten Weltkrieg konnte das Unternehmen expandieren. In den 1920er Jahre wurde der Konkurrenzdruck immer größer, gab es Streiks, Massenentlassungen, Rechtsstreits und 1938 die Enteignung der jüdischen Familie. Das Fabrikgrundstück wurde zwangsversteigert. Heute stehen vom ursprünglichen Arnheimschen Gebäudeensemble noch die Shed-Hallen und das Wohnhaus Badstraße 40⁄41 sowie die noch ältere Mühle.
Mehr als eine Wohnung: Immer viel los in der Badstraße 40
Das Ehepaar Mehler zog 1905 in die Badstraße 40 in den 3. Stock rechts (Berliner Adressbuch, 1906). Unbekannt ist, ob Julius Mehler bei Arnheim angestellt war. Was machte das Leben von Julius und Frieda Mehler im Wedding aus? Die private Wohnung der Mehlers wurde in den 1920er Jahren zu einem wichtigen Treffpunkt für die jüdischen Gemeindemitglieder im Wedding und Gesundbrunnen. Vor allem Frieda Mehler war in unterschiedlichen Frauen- und Fürsorge-Vereinen aktiv und organisierte Treffen in der eigenen Wohnung. Sie führte ein in vielerlei Hinsicht modernes Leben als Mutter, aktives Gemeindemitglied und Schriftstellerin.
Frieda Mehler machte sich u. a. für den 1923 gegründeten Jüdischen Frauenverein Wedding-Gesundbrunnen stark, deren Vorsitz sie viele Jahre inne hatte. Der Verein hatte 1926 circa 180 Mitglieder, betreute 250 Fürsorgefälle und kleidete 150 Kinder ein. In der Wohnung von Frieda Mehler konnten Hilfsbedürftige um Unterstützung bitten und es gab eine Kleiderkammer. Darüber hinaus kümmerte sich der Frauenverein um Chanukkabescherungen für Kinder. Somit war Frieda Mehler die erste Anlaufstelle für jüdische Frauen aus der Nachbarschaft, die Unterstützung brauchten. Daneben organisierte der Frauenverein auch Vortragsabende. Im Mai 1929 sprach Rudi Nobel über das Thema: „Zionistische Ideen und Palästina-Aufbau“. Im Jahr 1932 hatte der Verein, noch immer unter der Leitung von Frieda Mehler, 100 Mitglieder und erbrachte soziale Arbeit in Verbindung mit dem Bezirkswohlfahrtsamt der Jüdischen Gemeinde.
Für das Jahr 1933 ist bekannt, dass in der Wohnung von Frieda Mehler montags von 10 bis 12 Uhr eine Sprechstunde der Hausfrauen-Auskunftsstellen des Verbandes Berlin vom Jüdischen Frauenbund stattfand, so eine Ankündigung in der Jüdischen Rundschau vom 11.10.1933. Unklar ist, was in dieser Sprechstunde genau an Beratung stattgefunden hat. Im Januar 1934 gründete Frieda Mehler die Frauengruppe des Religiös-liberalen Vereins der Bezirksgruppe Wedding-Reinickendorf. Erneut setzt sie ihr Engagement für die Frauen ein. Das erste richtige Frauentreffen der Gruppe fand am 14.6.1934 statt. Die Frauen hörten einen Vortrag von Studiendirektor Dr. I. Gutmann über das Thema „Wie liest ein Religiös-Liberaler die Bibel?“.
Die Schriftstellerin Frieda Mehler: Eine jüdische Mutter offenbart ihr Leid
Frieda Mehler wurde in ihren 50er und sogar 60er Lebensjahren als Autorin richtig bekannt und machte das Schreiben zum Lebensinhalt. Im Jahr 1925 steht in einer Anzeige in der Central-Verein-Zeitung: „Festdichtung und Theateraufführungen, Frieda Mehler, Badstr 40“. Bei Frieda Mehler konnten jüdische Familien für besondere Anlässe schriftstellerische Werke in Auftrag geben. Ihre Karriere begann jedoch bereits wenige Jahre nachdem ihr Sohn geboren war. 1914 waren von ihr gesammelte Chanuka-Aufführungen herausgebracht worden – eine Fortsetzung von „Aufführungen für Chanuka und Purim“ von 1910. Über den Inhalt heißt es: Ein Spiel für die Kleinen, ein Chanuka-Lied, ein Chanuka-Leuchter etc. Also handelte es sich um eine Grundausstattung fürs Chanukafest, damit Kindern eine Freude bereitet wird und spielerisch an diese wichtige Zeit im jüdischen Jahr herangeführt werden. Frieda Mehler verfasste auch Bühnenstücke u.a. für Chanuka (aufgeführt in Schulen, Kinderheimen, diverse Kindereinrichtungen zwischen Berlin und Wien), kurze Verse und künstlerische Beiträge für Veranstaltungen.
In den 1930er Jahren tritt Frieda Mehler als Buchautorin und Kolumnistin hervor. Es erscheint 1934 „Vom Wege“ – ein Buch mit Gedichten von Frieda Mehler gewidmet „Allen jüdischen Frauen und Müttern“. Ein Jahr später das Kinderbuch „Feiertags-Märchen“ mit Zeichnungen von Dodo Bürgner und 1937 erneut ein Buch mit Gedichten mit dem Titel „Wir“. Zur Erinnerung: 1936 wurde Frieda Mehler 65 Jahre alt. Im Gedichtband „Wir“ ist ihr Hauptthema das Schicksal der verlassenen Mütter – der alten Generation – und die Trauer darum, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Der Redakteur George Goetz konstatierte im Jüdischen Gemeindeblatt für die Synagogen-Gemeinde in Preußen/Norddeutschland in der Ausgabe vom 1.2.1938 dazu, dass es von Mehler sehr außergewöhnlich sei, über das Schicksal und das Leiden der Mütter zu schreiben. Er vergleicht die Dichtung mit einer Herbststimmung, wenngleich die „allumfassende, warme, mütterliche Liebe und Stärke“ überwiegt.
Auch in anderen Aufsätzen beschäftigte sich Frieda Mehler mit der Loslösung des Kindes von der Mutter und umgekehrt. In einem Text lässt sie einen jungen Mann einen sehnsuchtsvollen Chanukka-Brief aus Afrika an seine Mutter schreiben. Darin beschreibt er den Trennungsschmerz und dass er zu Chanukka jede Kerze in Gedenken an seine Mutter entzünden wird. So bekommt die Mutter die Aufmerksamkeit, die sie sich wünscht.
Ludwig Jakob Mehler: Sohn einer starken jüdischen Mutter wird Rabbiner
Ludwig Jakob Mehler (*1907, +1945) wuchs im Wedding auf. Er lernte als kleiner jüdischer Junge alle Straßen und den Badstraßen-Kiez kennen. Das Engagement der Mutter färbte auf den Sohn ab. Er war im Verband der jüdischen Jugendvereine Deutschlands aktiv und leitete von 1931 bis 33 die Junggruppe Berlin-Ost. Außerdem war er Mitglied im Verein Jüdischer Pfadfinder.
Etwas zeitlich unklar ist sein Ausbildungsweg. In den 1920er Jahren schickten die Eltern ihn in die USA, wo er ein Studium am Hebrew Union College in Cincinnati aufgenommen hat. Dies setzte er nach seiner Rückkehr an der Hochschule (Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums in Berlin fort. Hier lernte er neben vielen anderen hochrangigen Rabbiner auch Leo Baeck (*1873, +1956) kennen. Anschließend ging er 1934 als junger Rabbiner nach Frankfurt am Main. Die nächste wichtige Station war Amsterdam, wo er ab Sommer 1934 maßgeblich am Aufbau der neuen liberalen Gemeinde – LJG Amsterdam – mitwirkte. Leo Baeck war einer seiner großen Fürsprecher, denn er glaubte, dass der junge Mehler die liberale Bewegung prägen kann. In Amsterdam suchte Mehler den Kontakt zur Jugend und sprach schnell die niederländische Sprache.
Leid, Abschied und vergessen
Die Niederlande waren jedoch ab Mai 1940 für Juden genauso unsicher wie Deutschland. Die Orte für jüdische Gottesdienste mussten permanent gewechselt werden und fanden am Ende nur noch im privaten Wohnzimmer statt. Der letzte Gottesdienst wurde am 9.7.1943 abgehalten. Bis dahin hatte Ludwig Mehler zusammen mit der Frauenbewegung alles getan, um die Mitglieder zu begleiten und Hilfe da anzubieten, wo sie nötig war.
Zunächst Frieda Mehler und später ihr Sohn wurden 1943 in das Durchgangslager Westerbork – bekannt als „gateway to hell“ – gebracht – auch Anne Frank war vom 7.8.1944 bis zum 3.9.1944 in Westerbork inhaftiert. Frieda Mehler wurde von Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor gebracht, wo sie am 2.7.1943 ermordet wurde. Ihr Sohn starb am 10.4.1945 in Bergen-Belsen. Ihre Tochter Helene emigrierte im Februar 1939 alleine in die USA und überlebte die Shoa.
Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern, Architektur als Gesellschaftsauftrag und Aushandlungsprozess, 1929–1969, und freut sich über Anregungen und Kritik.
Sehr gut recherchierte Geschichte!! Wir brauchen mehr davon!! Vielen Dank von Wolfgang Blohm!!
Lieber Herr Blohm, vielen Dank für das Feedback. Schön wenn das Thema auf Interesse stößt. Der nächste Beitrag zur jüdischen Geschichte im Wedding kommt in 2 Wochen. Bleiben Sie gesund!