Im Sommer vor einem Jahr tauchten ungewöhnlichen Straßenschilder auf. „Auch ich in Berlin“ stand nun, wo sonst Gerichtstraße oder Wiesenstraße zu lesen war. In den sozialen Medien gab es Fotos und viele Fragen, vor allem: Was soll das bedeuten? Spekulationen gab es auch auf den Kanälen des Weddingweisers, doch eine Antwort konnte niemand geben. Jetzt wurde das Geheimnis gelüftet.
Hinter der Aktion steht die Künstlerin Ruth Baettig aus Basel in der Schweiz. Sie war im vergangenen Jahr über ein internationales Kunstaustauschprogramm für sechs Monate in Berlin, im Wedding. An dem Verwirrspiel hatte sie große Freude: „Mich interessiert, wer es wahrnimmt und wie man beginnt, sich darüber Gedanken zu machen“. In den sozialen Medien beobachtete sie die Reaktion der Berliner:innen. „Das ging rasend schnell. Schon am nächsten Tag stand es auf Social Media, hauptsächlich auf Instagram, Twitter und Facebook“, sagt sie über die Reaktionen auf ihre künstlerische Intervention. „Einen Gedankenraum öffnen“ nennt sie das, was sie erreichen wollte.
Eine echte Guerilla-Aktion war es nicht, auch wenn es für die temporäre Änderung der Beschriftung keine Genehmigung vom Amt gab. „Die Schilder wurden von einem echten Schildermacher in der korrekten Schrift erstellt und angebracht. Ich habe darauf geachtet, dass es nicht an kritischen Stellen im Straßenverkehr aufgehängt wurde“, sagt Ruth Baettig. Die Orte, die sie für die falschen Straßenschilder ausgewählt hat, haben alle ein Verbindung zu ihr. Etwa in der Gerichtstraße in der Sackgasse vor dem Silent Green, wo Baettig einst an einer Sommerakademie teilnahm. Oder in der Wiesenstraße, wo sie im Atelierhaus in der Nummer 29 Berlinerin auf Zeit war.
Wer die Intervention vollends verstehen will, muss den Blick jedoch über den Wedding hinaus schweifen lassen. Insgesamt zehn Straßenschilder gab es stadtweit. „Auch ich in Berlin“ hing – außer im Wedding – in der Karl-Marx-Allee, am Caligariplatz, Am Flutgraben, in der Okerstraße, in der Rheinsberger Straße, in der Hirtenstraße und am Potsdamer Platz. Alle falschen Schilder sind inzwischen wieder aus der Stadt verschwunden – bis auf eins. Das verbliebene befindet sich im halböffentlichen Raum, auf dem ehemaligen Kindl-Gelände in Neukölln.
„Die Aktion ist auch eine Hommage an Berlin. Sie stellt auch die Frage, ob die Stadt noch immer das kulturelle Paradies ist“, sagt sie. Für sich persönlich hat sie darauf eine Antwort: „Berlin hat sich extrem geändert. Aber man kann hier immernoch sein Netzwerk ausweiten zwischen den verschiedenen Kunstbereichen, hier ist noch Platz für Diskus“, sagt sie. Die Mischung der Kunstsparten ist auch das, was sie in ihrer Arbeit interessiert. Die freischaffende Künstlerin beschäftigt sich mit Video, Fotografie, Performance und als Kulturschaffende im Bereich des Bewegtbildes. Zusammen mit Giuseppe Di Salvatore, der sie nach Berlin begleitete, betreibt sie die Onlineplattform Filmexplorer, die sich kritisch mit Filmen auseinandersetzt.
Die Straßenschilder sind nun etwas ganz greifbares, sie erzeugen Irritation in einem bestehenden System. Die Assoziationen der Passanten, der Betrachter, der Wegsuchenden konnten sich mit und wegen Ruth Baettigs Intervention einmal anders und frei über den Stadtraum entfalten. Einige der Kommentatoren der Straßenschild-Aktion erkannten sogar den Bezug zu Johann Wolfgang von Goethe, der seiner Italienreise 1813⁄17 das Motto „Auch ich in Arkadien“ gegeben hatte. Die lateinische Phrase „Et in Arcadia ego“ geht zurück auf ein Gemälde des italienischen Barockmalers Giovanni Francesco Barbieri. Eine Abbildung des Gemäldes ist auch in der Begleitbroschüre zur Kunstaktion von Ruth Baettig zu finden. Ebenso wie ein Auswahl der Kommentare aus Berlin und ausführliche Texte rund um die Intervention in englischer Sprache. Die Broschüre hat die Künstlerin aus der Schweiz kürzlich in der Wiesenstraße vorgestellt und für neugierige Besucher:innen das Rätsel der Kunstaktion aufgelöst.
Mehr über Ruth Baettig gibt es online unter www.ruthbaettig.com oder bei www.filmexplorer.ch.
Vielen herzlichen Dank für den Ausführlichen Bericht zur Veröffentlichung der Publikation in Form einer Zeitung im Berliner Format:-) Eine kleine Berichtigung: Die Strassen wurden nicht “umbenannt”, denn die Schilder wurden nach den Regeln der Strassennamen montiert; d.h. diese integrierten sich unterhalb des bestehenden Strassennamen, somit war die Orientierung der Bürger zugesichert. Natürlich öffneten diese Schilder – wie im Bericht sehr schön gesagt wird – Gedanken- und Geschichtenräume. Vielen Dank an euch alle!
Danke für die Präzisierung und vielen Dank für die schöne Aktion. Überrasch uns hier im Wedding gerne wieder! Dominique