Der Kiosk im U-Bahnhof Seestraße schließt nach einem Jahrzehnt sein buntes Fenster für immer. Verloren geht ein weiterer Ort der unseren Kiez geprägt hat. Sichtbar, unsichtbar - Alltag im Tunnel. Gestern (29.2). war sein letzter Tag.
Einer kauft eilig eine Weingummi-Schlange, ein anderer heißen Kakao - wie immer - und reicht seinen bereits mehrfach benutzten To-go-Becher durch das bunte Fenster. Minütlich drängen sich neue Kunden vor das mit Neonlicht beschienene, bunte Fenster, unter dem sich die Überschriften der Magazine stapeln. Dass es sowas immer noch gibt, einen Kiosk wie in den 1970er Jahren, zehn Quadratmeter, umgeben von einem Aluminiumgitter und bis zum Rand voll mit bunten Artikeln, erfreut sich eine vorbei kommende Frau wie ich. Keine Kette, kein gesichtsloser Konsum, stattdessen immer ein persönlicher Gruß, eine halbwegs persönliche Frage und ein Lächeln.
800 verschiedene Artikel auf zehn Quadratmetern
Den Kiosk hat der Betreiber, mit dem ich mich unterhalte, für seinen Bruder und seine Frau gekauft. Die Frau gibt es im Leben des Bruders nicht mehr, aber die Bude ist geblieben. Manchmal bekommen sie Besuch von Freunden oder Familie, dann sind sie auch mal zu viert oder fünft zwischen all den Zeitungen und Zeitschriften, kleinen Elektronikartikeln, Fertigsuppen, Schokoriegeln und Schirmen, die von der Decke hängen. Er sei immer günstig geblieben, Ticktack 80 Cent, gibt ja viel Konkurrenz oben auf der Müllerstraße.
Kleiner Raum, alles drin. Auch ein Waschbecken haben sie und einen Heizlüfter für die kalten Tage. Ob er selber auch mal liest, was er so verkauft? Nein, nur die Überschriften, zu mehr kommt er häufig nicht. Und wenn doch, dann schaut er lieber Filme auf dem Handy. Fast ein Jahrzehnt haben die beiden Brüder den Kiosk betrieben. Das Warensortiment umfasst 800 verschiedene Artikel, schätzt er, genau weiß er es nicht. Davon sind alleine 88 verschiedene Getränkesorten. Am besten haben sich früher Zigaretten verkauft, aber jetzt raucht ja kaum noch einer. Überhaupt lief das Geschäft nach Corona nie wieder so an wie in den Jahren davor. Noch immer haben sie sieben Tage die Woche geöffnet, nur nicht mehr von 4 bis 22 Uhr sondern jetzt nur noch von 5 bis 21 Uhr.
Kleine Gespräche und Kaffee ab 4 Uhr morgens
Urlaub habe er einmal lange gemacht, zwei ganze Wochen. Damals hatten sie eine Vertretung eingestellt. Wenn das Geschäft besser gelaufen wäre, wäre der Plan gewesen, dauerhaft jemanden zusätzliches einzustellen. Dann hätten sie beide manchmal einen Tag Pause machen können, nicht von Tagesanfang bis Ende im Tunnel stehen - ohne Tageslicht, tagein tagaus. Dann hätten sie auch weiter gemacht, denn die Arbeit gefällt Ihnen.
Alles Stammkunden - oft weiß ich schon, was die haben wollen - und all die viele kleine Gespräche! Ist aber alles weniger geworden, und die Kundschaft habe sich auch verändert. Früher waren das ganz normale Leute. Männer, Frauen, Kinder die sich vor Fahrtantritt oder eben danach noch schnell eine Zeitung, Taschentücher oder Kaugummis kauften. Gleich um 4 Uhr wollten die Ersten schon Ihren Kaffee. Politiker und Schauspieler waren auch dabei, aber an die Namen erinnert er sich gerade nicht mehr.
Schnell müssen sie oft sein. Morgens wollen alle in die U-Bahn. Meistens fährt die U-Bahn im Fünf-Minuten-Takt. Kurzer Gruß, auswählen und dann Münzen abzählen und schon kommt die Bahn. Bis morgen, oder heute Abend, ja, es gehe gut, danke, auch einen schönen Tag und rein in den gelben Zug. Heute ist das Publikum anders. Viele verbringen ein paar Stunden in der Station, in Gesellschaft mit den anderen. Einer gibt einen aus und hat nur Geld für eine Runde - macht nichts, bring mir nachher den Rest, hier nimm, zum Wohl. Dazu gekommen ist die Drogenszene vom Leo und so. Die sind aggressiver. Aber Probleme hat ihnen nie jemand gemacht. Die Leute sind nicht der Grund dafür, dass sie nun mit dem Kiosk aufhören, die machen am meisten Spaß, man ist nie allein. Nein, er fühle sich kaputt, und die Baustelle kommt. Renovierungsarbeiten, kommt alles neu wie auf der Seite Richtung Alt-Tegel, große gelbe Fliesen, Aufzug, alles.
Was danach kommt, wissen die Brüder nicht. Ein weiterer Backshop wie in vielen anderen Stationen? Selber will er erst mal Pause machen, sagt der Bruder, mit dem ich heute spreche, zwei Monate oder so. Und dann? Wieder LKW oder Uber oder sowas, mal sehen.
Kleiner Exkurs: Die Kiosk-Kultur
Der Begriff Kiosk kommt aus aus dem Persischen (Kusk) und Osmanischen (Kösk) und bezeichnet eine kleine Verkaufsstelle in Form eines Häuschens oder einer Bude. Ursprünglich war ein Kiosk ein nach mehreren Seiten geöffneter, freistehender Pavillon in Park- und Palastanlagen. Im 18. Jahrhundert fand diese Gebäudetypologie Einzug in französische und englische Parkanlagen, die sich in zeitgenössischer Mode orientalische Bauformen aneigneten. Sprachlich wurde der Begriff hier zu Kiosque. Aus den Parkanlagen gelangten die Kiosque in öffentliche Parks und auf Boulevards und im Rahmen der Industrialisierung dann schließlich an verzehrstrategisch wichtige Punkte.
Der erste Bahnhofskiosk entstand 1883. In Berlin öffnete der erste Kiosk nach einem Zeitungsbericht 1905 am Leipziger Platz. In der Folge entstanden zahlreiche, reich geschmückte Pavillionbauten, denen bis heute vor allem eines gleich geblieben ist: die Durchreiche als Schnittpunkt zwischen Innen und Außen, Ort der Interaktion und Kommunikation. Die Kiosk-Kultur ist stark mit der industriegesellschaftlichen Arbeitskultur verknüpft und ein wichtiger Ort in der Alltagskultur. Alexander Mitscherlich (Psychoanalytiker und Sozialpsychloge, 1908-1982, „Die Unwirklichkeit unserer Städte: Anstiftung zum Unfrieden, Berlin 1969) spricht in diesem Zusammenhang von „emotionaler Nachbarschaft“ und „einer gewissen Intimität zwischen Kioskbesitzer und Käufer“. Und weiter: „der Kunde erfährt also neben der Befriedigung seiner materiellen Wünsche auch sozialen Kontakt“.
Abschied mit Wehmut
Ich bedaure den Verlust eines (weiteren) Ortes im Sozialgefüge unseres Kiezes, eines Ortes, an dem man die Vielfalt der Bewohner:innen unseres Kiezes wahrnehmen konnte. Danke an die Brüder G., die mit ihrer persönlichen Herzlichkeit unseren Wedding bereichert haben und danke für das freundliche Gespräch heute. Wir werden Euch vermissen.
Text und Fotos: Leila Reese
Schön geschriebener Beitrag. Aber es ist wirklich schade zu lesen, dass dieser gemütliche Kiosk schließt. Aber wer kauft noch Zeitungen? Alle sitzen in den Bahn vor dem Smartphone. Auch im U-Bahnhof Rehberge hat der Kiosk vor einem Jahr geschlossen – und da gibt es keine Baustelle.
Nicht alle Läden! Das Kumpir-Geschäft und der türkische Supermarkt haben es zum Glück geschafft. Die sind sehr froh, dass die Baustelle jetzt bald nach gegenüber zieht.
Die Dauerbaustelle des U-Bahnhofs - seit 4 Jahren! - hat ja auch schon oberirdisch ALLEN Läden die Existenz gekostet, die unmittelbar hinter der Baustelle an der Müllerstraße liegen. Sogar der Optiker Schmiedecke musste aufgeben, aus ähnlichen Gründen wie die Kiosk-Brüder: Corona-Depression und Baustelle kommen zusammen.
Ende unabsehbar: Die meiste Zeit arbeitet da niemand. Was denn auch? Die Baustelle dient vor allem als Lagerplatz.
So war es auch schon am U-Bahnhof Vinetastraße, viele Jahre, viel mehr Proteste als im Wedding. Dort hat immerhin die Hälfte der Geschäfte überlebt.