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Die Kolumne: Ein Balkon auf dem Planeten Wedding

4. Juni 2014

balkon1Ich woll­te kei­ne Kin­der. Und ich woll­te nie in der Stadt leben. Ich woll­te schon gar nicht, dass mei­ne Kin­der, falls ich doch mal wel­che haben wür­de, in der Stadt auf­wach­sen. Ich stell­te es mir zu laut, zu voll, zu ungrün vor. Dann traf ich den Mit-Wed­din­ger und jetzt, fünf Jah­re spä­ter, sit­ze ich auf mei­nem Bal­kon und schaue ins grü­ne Brun­nen­vier­tel, wäh­rend der klei­ne Wed­din­ger in sei­nem Bett liegt und schläft. Es kommt oft anders als man denkt – und das gilt über­all, nicht nur im Wedding.

Der Mit-Wed­din­ger weiß, wie schwer ich mich mit der Stadt tue. Der Mit-Wed­din­ger ist ein net­ter Mensch. Des­halb hilft er mir manch­mal ein wenig beim urba­nen Wohl­füh­len. Gera­de eben bewegt er sei­ne Lip­pen genau aus die­sem Wohl­fühl-Grund. Sie gehen auf und zu, auf und zu, for­men Wor­te, for­men Sät­ze, ich star­re sie an, kon­zen­trie­re mich bis zum Umfal­len und ver­su­che zu ver­ste­hen, was er sagt. Doch ich höre nur die Kin­der unten vorm Bal­kon, obwohl der Mit-Wed­din­ger gewiss nicht flüstert.

balkon3Der Mit-Wed­din­ger ist mein Erzie­hungs­vor­bild, denn er ist ein erfah­re­ner Papa. Also höre ich auf ihn und erzie­he wie er. Er behaup­tet immer, dass Schlaf für Kin­der wich­tig ist. Er sagt, die Kin­der sol­len um acht im Bett sein. Und er erklärt mir die Vor­tei­le für ihre Gesund­heit und unse­re Abend­ge­stal­tung. So kön­nen wir bei Ker­zen­schein auf dem Bal­kon sit­zen und er liest mir aus einem schö­nen Buch vor. Damit ich mich woh­ler füh­le in der gro­ßen Stadt.

Unse­re Nach­barn sehen das mit dem Schlaf offen­bar anders. Sie oder ihre Eltern oder Groß­el­tern kamen irgend­wann aus aller Her­ren Län­der in den Wed­ding und brach­ten ihre Vor­stel­lun­gen von Erzie­hung und Abend­schlaf mit. Das beinhal­tet, dass die Kin­der unter Auf­sicht älte­rer Geschwis­ter den hal­ben Tag mit fro­hem und lau­tem Kin­der­la­chen auf dem Hof vor mei­nem Bal­kon her­um hüp­fen. Das beinhal­tet auch, dass das Her­um­hüp­fen anhält, wäh­rend der klei­ne Wed­din­ger ver­sucht, in den Schlaf zu fin­den. Und es hält sogar an, wenn wir das Buch zuschla­gen und selbst ins Bett gehen. Manch­mal schlie­ßen wir sogar das Fens­ter, weil mir die geräusch­vol­len Abend­ri­tua­le aus aller Her­ren Län­der das Ein­schla­fen schwer machen. Doch dann ist es sti­ckig – puh!

balkon2Ich sage: Wir sind eigent­lich ganz schön alt­mo­disch und klein­bür­ger­lich und ver­krampft, wenn es um den Abend­schlaf und das unbe­auf­sich­tig­te Her­um­hüp­fen der Kin­der geht. Der Mit-Wed­din­ger hält beim Vor­le­sen inne, schaut mich fra­gend an. Er starrt auf mei­ne Lip­pen. Er ver­steht kein Wort. Aber er lächelt. Da füh­le ich mich wohl und läch­le zurück. Wir lächeln bei­de und füh­len uns wohl auf unse­rem Bal­kon mit Ker­ze und Buch mit­ten in der gro­ßen Stadt.

Als der Mit-Wed­din­ger spä­ter im Bad ver­schwin­det, schnap­pe ich mir heim­lich das Buch und lese den Klap­pen­text. Es geht um eine Nord­pol-Expe­di­ti­on von einem Herrn namens Fri­dt­jof Nan­sen. Das klingt inter­es­sant und ich freue mich, dass er sich einen so schö­nen Bal­kon­abend für mich aus­ge­dacht hat.

Fotos und Text: Domi­ni­que Hensel

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