Der Bezirk Mitte will mit Hilfe "grüner Gullys" in Nebenstraßen einen Beitrag zur Schwammstadt leisten. Im November vergangenen Jahres ist die Entsiegelungsstrategie vorgestellt worden. Bereits im vergangenen Jahr ist mit den Maßnahmen begonnen worden, auch im Wedding. 2024 soll es weitergehen.
Der Klimawandel hat gerade erst angefangen, sich auf das Stadtklima auszuwirken. Sowohl Trockenheit und Dürre als auch Starkregen und Überschwemmungen werden in Zukunft weit häufiger auftreten, als wir es bislang gewohnt sind – da ist sich die Wissenschaft einig. Die Stadt muss sich darauf einstellen. Was helfen kann, ist der Umbau zur "Schwammstadt". Der Bezirk Mitte möchte deshalb in den kommenden Jahren bis zu 150.000 Quadratmetern Fläche entsiegeln, so hat es die zuständige Bezirksstadträtin für Ordnung, Umwelt, Natur, Straßen und Grünflächen Dr. Almut Neumann (Grüne) angekündigt. Das sind zwar nur knapp zwei Prozent des Straßenlandes im Hauptstadtbezirk, ist aber dennoch mehr als der berühmte "Tropfen auf den heißen Stein". Denn über "grüne Gullys" soll das Regenwasser von vier Mil-
lionen Quadratmetern Straße in den Boden einsickern können.
Eine Schwammstadt zeichnet sich durch eine Regenwasser-Bewirtschaftung aus. Das Regenwasser wird dabei nicht abgeleitet, sondern aufgefangen und zeitverzögert an den Boden abgegeben, der es wie ein Schwamm aufnimmt. In Berlin gibt es bereits Erfahrungen mit diesem System: Seit Ende der 1990er Jahre kommt das städtebauliche Entwicklungsgebiet Rummelsburger Bucht ohne eine Regenwasserableitung über die Kanalisation aus. Dabei sorgen Versickerungsmulden – tiefergelegte, wannenförmige Grünflächen – dafür, dass das Regenwasser bei Starkregen zurückgehalten und zwischengespeichert wird. Zusätzlich sind nahezu alle Dächer begrünt und eine 80 Zentimeter dicke Bodenschicht über den Tiefgaragen kann zusätzlich das Regenwasser speichern. An heißen Tagen wirkt das gespeicherte Wasser durch den Verdunstungseffekt wie eine natürliche Klimaanlage. Die Temperatur innerhalb der Wohnanlage liegt deutlich unter den Temperaturen der umliegenden Stadt.
Vorreiter der Schwammstadt: Kopenhagen
In der dänischen Hauptstadt am Öresund herrscht zwar kein Mangel an Wasser und wenig Dürregefahr. Doch im Juli 2011 gab es ein katastrophales Starkregenereignis: An einem Abend regnete es so viel wie sonst in zwei Monaten. Gebietsweise fiel die Energieversorgung aus, ein Teil der Universitätsklinik musste evakuiert werden, historische Gebäude stürzten ein, sogar der weltberühmte Tivoli wurde geräumt. Und weil die Wahrscheinlichkeit solcher Katastrophen mit dem Klimawandel drastisch steigt, reagierte die Stadt mit einem neuen Konzept: Sie entwickelte den "Skybrudsplan" (Wolkenbruchplan), der künftig Kopenhagen vor den Auswirkungen solch extremer Ereignisse schützen soll, und investiert dafür insgesamt 1,8 Milliarden Euro. Speziell angelegte Straßen leiten nun das Wasser oberirdisch ab oder halten es zurück. Plätze dienen als zeitweilige Rückhaltebecken und begrünte und entsiegelte Straßen und Plätze sorgen für mehr Versickerungsflächen. Der Umbau soll im Jahr 2035 abgeschlossen sein.
Nächtliche Überhitzung droht in Berlin
Von einem so konsequenten Stadtumbau sind wir in Berlin noch weit entfernt. Auch hier besteht im Sommer die Gefahr von katastrophal regenreichen Gewittern. In diesem Jahr hatten wir allerdings Glück: die schwersten Gewitterzellen regneten sich im Umland aus. In Brandenburg an der Havel verursachte im August eine Gewitterzelle mit Windgeschwindigkeiten von fast 150 Kilometern große Schäden – im Stadtzentrum von Berlin wären die vermutlich noch größer gewesen.
Viel stärker als in Kopenhagen besteht in Berlin jedoch die Gefahr der Überhitzung. Vor allem ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen leiden darunter. Ein Bezirk wie Mitte, der zu etwa 60 Prozent versiegelt ist, kühlt sich in Sommernächten nämlich kaum ab, weil Stein, aber zum Beispiel auch die vielen parkenden Autos die Wärme des Tages speichern und nachts kaum Verdunstungskälte entsteht. Wenn es monatelang nicht regnet, dann trocknet zwar auch die "Schwammstadt" aus, normalerweise sind der Juni, der Juli und der August hier aber die regenreichsten Monate. Wenn es gelänge, dieses Wasser im Boden zu speichern, statt es über die Kanalisation abzuleiten, dann wäre schon viel geholfen. Auch Starkregenereignisse könnte die Stadt dann besser verkraften.
Die Entsiegelung hat schon begonnen
Der Bezirk Mitte hat mit der Entsiegelung öffentlichen Straßenlandes schon begonnen. Zum Beispiel in der Moabiter Thomasiusstraße: Dort wurden in diesem Jahr die ersten Baumscheiben neuen Typs eingerichtet. Sie sind größer als die bislang üblichen und werden mit Schottersteinchen gefüllt, um der Verdichtung des Bodens entgegenzuwirken. In einer anderen Variante wird der zur Straße gelegene Randbereich des Bürgersteigs entsiegelt. In der Moabiter Kirchstraße kann man sich das anschauen. Hier wurde auf einer Fläche von zirka 300 Metern ein ehemaliger Radweg vom Straßenbelag befreit, der schon seit langem "abgeordnet" ist. Mit den Anwohnerinnen und Anwohnern finden jetzt Gespräche zur Gestaltung dieses Bereiches statt, denn natürlich eignen sich solche entsiegelten Streifen auf dem Bürgersteig besonders zur Bepflanzung. Bereits eingeleitet sind ähnliche Vorhaben in der Pohl- und Kluckstraße in Tiergarten-Süd sowie in der Trift- und Gerichtstraße im Wedding.
Die größte einzelne Entsiegelungsmaßnahme im Bezirk findet derzeit aber am Ufer des Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanals statt wo der ehemaliger "Kiesumschlagplatz" renaturiert wird. Wer hier schon einmal den Uferweg entlang spaziert, gejoggt oder geradelt ist, kennt die Stelle, wo man den großen Bogen um das Trainingsfeld des Football-Clubs Berlin Adler herum einschlagen muss. Dieser Umweg ist nun nicht mehr notwendig, der Weg führt demnächst geradeaus am Ufer entlang an einem neuen Kleingewässer vorbei. Einschließlich dieses Sonderfalls kommt der Bezirk Mitte im Jahr 2023 auf eine Entsiegelung von insgesamt 5000 Quadratmetern, ohne den "Kiesumschlagplatz" aber nur auf gut 2000 Quadratmeter – gerade einmal halbes kleines Fußballfeld. Würden wir in diesem Tempo weitermachen, dann würden wir die anvisierten 150.000 Quadratmeter erst gegen Ende dieses Jahrhunderts erreichen.
Grüne Gullys vervielfachen den Effekt
Und selbst damit wäre nur wenig gewonnen, denn betroffen wären ja nur etwa zwei Prozent des öffentlichen Straßenlandes. Mit der Hilfe von "grünen Gullys" könnte dieser kleine Tropfen jedoch zu einer Gießkanne werden. Denn jeder Straßenablauf entwässert derzeit rund 500 bis 600 Quadratmeter Straßenland. Würde man dem anfallenden Regenwasser die Gelegenheit geben, im Boden zu versickern statt wie bisher direkt in die Kanalisation zu laufen, dann hätte der "Schwamm" unter dem Straßenland die Möglichkeit, sich nach einem Regen tatsächlich aufzusaugen. Die Straßenbäume würden die Feuchtigkeit dann wieder abgeben und vor allem in Sommernächten die Umgebung spürbar abkühlen.
So ein grüner Straßenablauf, wie er in Amtssprache genannt wird, bräuchte eine entsiegelte Versickerungsgrube um sich herum, in der sich das Regenwasser sammeln kann. Nur wenn bei starkem Regen diese Grube vollständig zuläuft, dann würde auch Wasser über den Gully in die Kanalisation ablaufen, bei leichten Regenfällen würde es vollständig im Boden versickern. Wie groß der Effekt ist, hängt dabei natürlich von der Größe der Versickerungsgrube ab. In der Vision des Straßen- und Grünflächenamtes Mitte sollte diese 25 Quadratmeter umfassen, also etwa die Fläche von zwei Parkplätzen am Straßenrand.
Kosten: 7.000 bis 10.000 Euro pro Ablauf
Geeignet wären dafür insgesamt etwa 7.200 der rund 9000 Gullys an Nebenstraßen im Bezirk Mitte, wobei nicht alle Versickerungsflächen tatsächlich die Maximalgröße erreichen könnten. Im Amt schätzt man, dass auf diese Weise die Regenmenge über etwa der Hälfte des vorhandenen Straßenlandes für die Schwammstadt zur Verfügung stände. Der Boden im Bezirk würde somit ungefähr eine Million Kubikmeter Wasser im Jahr zusätzlich aufnehmen können. Die Gießkanne ist also in Wirklichkeit ziemlich groß. Die Kosten für den notwendigen Umbau der Stadt wären verglichen mit dem, was ansonsten für Straßenbauarbeiten fällig wird, sogar gering: 7.000 bis 10.000 Euro pro Maßnahme müssten ausreichen. Förderprogramme, aus denen das finanziert werden kann, existieren bereits. So stehen beispielsweise im Berliner Programm für Nachhaltige Entwicklung (BENE) bis 2029 mindestens 525 Millionen Euro bereit, die unter anderem für die Klimaresilienz eingesetzt werden sollen. Allerdings bräuchte das Straßen- und Grünflächenamt zusätzlich fünf Planerinnen oder Planer. Mit ihnen, so rechnet es vor, könnten innerhalb von zehn Jahren 7.200 grüne Gullys eingerichtet werden.
Und die Parkplätze?
Allerdings würden dafür Parkplätze am Straßenrand entfallen, denn in den Sickergruben wird man keine Autos abstellen können. Insgesamt etwa 14.000 PKW weniger könnten im Bezirk also nach der vollständigen Umsetzung dieser Vision abgestellt werden. Allerdings müssen deshalb die Autobesitzer nicht gleich in Panik verfallen: Innerhalb von zehn Jahren wird sich die Idee nämlich nicht verwirklichen lassen, das widerspräche allen Erfahrungen, die man in Berlin mit innovativen Ideen in der Verwaltung bislang machen durfte.
--> Auf der Webseite t1p.de/entsiegelung hat das Bezirksamt Mitte eine Präsentation zur Ensiegelunsstrategie hochgeladen.
Text: Christof Schaffelder, Ecke Müllerstraße, Grafik: Bezirksamt Mitte