In fünf Minuten bei einer Tasse Kaffee kann man einander kaum kennenlernen. Aber man kann aufgeschlossen sein, zuhören, Fragen stellen. Und das hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Montag (11.12.) bei seinem Besuch der Tagesstätte für wohnungslose Frauen Evas Haltestelle getan. Mit seiner Visite wollte er Aufmerksamkeit auf das Projekt Housing First lenken.
Die Aufregung unter den wohnungslosen Frauen ist deutlich zu spüren. Man treffe ja nicht jeden Tag den Bundespräsidenten, sagen sie. Einige von ihnen sind noch wohnungslos, einige haben es geschafft, über Housing First ihre eigene Wohnung (wieder) zu finden. Sie alle kommen regelmäßig wegen vielfältiger Hilfen in die Müllerstraße 126. Der Bundespräsident will den Frauen die Scheu nehmen; deshalb lässt er sich nicht bedienen, sondern schenkt den Frauen den frisch gebrühten Kaffee ein. In der Küche von Evas Haltestelle schält er Kartoffeln. Beim Beisammensein stellt Fragen, erkundigt sich. Die Frauen wiederum stellen keine Fragen. Das ist schade, so lernen sie den Menschen Frank-Walter Steinmeier nicht näher kennen. Dafür erhält er einen Einblick in ihre Geschichten.
Wie Frauen obdachlos werden
Eine dieser Lebensgeschichten fängt an mit dem Satz: "Da kamen dumme Sachen zusammen". Es folgte eine Flucht Hals über Kopf von Frankfurt/Main nach Berlin. So klingt es zumindest in den Worten der Erzählerin durch, die in der Runde von ihrem Weg in die Obdachlosigkeit berichtet. In Berlin habe sie Halt gefunden. Der Bundespräsident möchte wissen, ob nun der nächste Schritt, die Aufnahme einer Arbeit anstehe. "Einen Job zu finden, ist ohne Meldeadresse schwierig."
Eine andere Frau sagt: "Mein Weg in die Obdachlosigkeit ist eine lange Geschichte". Auch sie kommt aus Frankfurt/Main. Sie sei in Berlin bei der Bahnhofsmission gestrandet. Zum regelmäßigen Frühstück in Evas Haltestelle komme sie, um Anbindung zu finden. "Man fühlt sich nicht so deplatziert", sagt sie. Das Frühstück allein mache es nicht, es seien die angenehmen Menschen, wegen derer sie regelmäßig in die Müllerstraße 126 komme. Und wieder will der Bundespräsident wissen, wie es mit der Aufnahme einer Arbeit stehe. Die Antwort bleibt vage.
Nicht mehr wohnungslos ist eine dritte Frau. Sie hat mittlerweile dank Housing First eine eigenes Zuhause. Ihre Geschichte beginnt 2001 in einer unsanierten, verschimmelten Wohnung. Sie erzählt, wie sie für einen Sicherheitsdienst im Museum gearbeitet habe. Wie es dann wegen der Wohnung zu Gerichtsprozessen und Mieterhöhungen gekommen sei, bis sie im Oktober 2019 rausgeflogen sei. Nach einer mehrjährigen Wartezeit habe ihr Housing First eine eigene Wohnung vermittelt. Und wieder fragt der Bundespräsident nach dem Happy End, das heißt nach der eigenen Arbeitsstelle. In der Antwort der Frau kommt das Wort Neustart vor.
Housing First ist Start für psychische Stabilisierung
Ein Gespräch bei einer Tasse Kaffee, das dauert fünf Minuten. Doch der Weg von ganz unten zurück in die Mitte der Gesellschaft und in einen Job, der braucht viel mehr Zeit. Deutlich wird das in einem überraschenden Moment in dieser dritten Lebensgeschichte. Als sie durch Housing First wieder ihr eigenes Zuhause besaß, habe sie sich nicht gefreut, erzählt die Frau. Sie habe sich nicht freuen können. Sie sei müde gewesen. Das Gefühl der Trauer wegen der verlorenen Jahre habe überwogen. "Obdachlosigkeit ist belastend, bedeutet Zermürbung".
Deshalb sprechen die Sozialarbeiterinnen bei der Tasse Kaffee viel von psychischer Belastung. Drogen, das sei vielleicht zu 30 Prozent ein Problem. Aber alle Frauen, die zu Evas Haltestelle kommen, sind überschuldet. Und die meisten brauchen vor allem erst einmal psychische Stabilisierung. Gewalterfahrung sei das besondere Merkmal bei Obdachlosigkeit von Frauen, sagt Claudia Peiter, Leiterin von Evas Haltestelle. Von Zeit geben, sprechen die Sozialarbeiterinnen. In der eigenen Wohnung müsse Erlebtes erst einmal verarbeitet werden. Das ändere nichts an der Wohnfähigkeit, die manchmal abgestritten werde. 98 Prozent der Frauen, die über Housing First wieder die eigenen Dielen unter den Füßen haben, bleiben in ihren Wohnungen. Wohnstabilität wird dieser Wert genannt.
Housing First seit 2018 in Berlin
Housing First – auf Deutsch: zuerst ein Zuhause – ist ein relativ neues Konzept in der Obdachlosenhilfe. Es geht darum, vor allen anderen Hilfen erst einmal mit einer Wohnung zu helfen. Mit den eigenen vier Wänden. Nicht mit einer Unterkunft, Bleibe oder einem Schlafplatz.
In Berlin starteten die Träger Neue Chance e.V. und Sozialdienst Katholischer Frauen (SKF) im Oktober 2018 je ein Modellprojekt Housing First. Evas Haltestelle gehört zum SKF. Der Senat hat die beiden Modelle als Erfolg bewertet und in den letzten Jahren Geld für Hilfen nach diesem Konzept gegeben. Dennoch sind die Aufnahmelisten lang, die Menschen ohne Wohnung müssen Jahre warten. Berlin möchte später einmal Housing First ins Regelsystem der Wohnungsnotfallhilfe bringen.
Erfunden hat Housing Frist der New Yorker Psychiater Dr. Sam Tsemberis in den 1990er Jahren. In Europa starteten erste Pilotprojekte 2011. Zugrunde liegen dem Konzept mehrere Prinzipien. Unter anderem das Grundrecht auf eine Wohnung. Außerdem gilt das Prinzip der Trennung von Hilfesystem und eigenem Wohnraum. Ein Allheilmittel ist das Konzept nicht. Voraussetzung für die Aufnahme ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Wohnungslose, die unter akuten Psychosen oder massiver Drogenabhängigkeit leiden, gehören nicht zur Zielgruppe des Konzepts.
Berlin gibt aktuell rund drei Millionen Euro pro Jahr für Housing Frist aus. Aktuell gibt es sechs Träger, die Housing First anbieten (Neue Chance gGmbH/Verein Berliner Stadtmission, Sozialdienst katholischer Frauen, Phinove, Schwulenberatung, Zuhause im Kiez und My Way Soziale Dienste).