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Gegen einsames Sterben:
Nachbarschaft ist wichtig für Hochbetagte

19. September 2023
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Es geht um ein erns­tes The­ma, beson­ders in unse­rer ver­än­der­ten Stadt­welt und Lebens­um­welt: den ein­sa­men Tod. Und hier geht es um Men­schen, die ver­mut­lich nicht nur unbe­glei­tet ver­star­ben, son­dern deren Lei­chen tage­lang, für Wochen oder sogar Mona­te unent­deckt in Woh­nun­gen lie­gen­ge­blie­ben sind. Muss das in der Groß­stadt pas­sie­ren? Unse­re Autorin hat eine ein­fa­che Idee, wie man bes­ser für­ein­an­der sorgt. 

In der Tages­pres­se wer­den sol­che Todes­fäl­le als Ein­zel­fall dar­ge­stellt, jedoch gehö­ren die­se struk­tu­rell zu den moder­ne­ren Phä­no­me­nen des städ­ti­schen Sozi­al­le­bens. Der Tod gerät, auch im Wed­ding, immer mehr ins Abseits.

Als der Cha­ri­té-Rechts­me­di­zi­ner Prof. Tso­kos bekannt­gab, dass er etwa 2.400 Obduk­tio­nen in Ber­lin-Mit­te jedes Jahr durch­füh­ren müs­se (Ber­li­ner Zei­tung vom 13. Feb. 2022), wor­un­ter auch spät ent­deck­te Woh­nungs­lei­chen sei­en, war ich zutiefst erschüt­tert. Manch­mal sei­en es als ers­te die Gast­wir­te, die ihre Knei­pen­be­su­cher an der The­ke ver­mis­sen, nicht etwa Ange­hö­ri­ge, Haus­nach­barn oder der Ver­mie­ter, der kei­ne Miet­zah­lung mehr erhält. Die­se Igno­ranz gegen­über Ver­ein­sam­ten, Alten und Ver­ster­ben­den ist in einer tole­ran­ten Stadt wie Ber­lin nicht hinnehmbar.

Soeben erschien eine Stu­die von Susan­ne Loke, die sich dem The­ma dem Phä­no­men der soge­nann­ten Woh­nungs­lei­chen wid­met. Susan­ne Loke hat für Ihre Stu­die aus etwas über 71.000 Ster­be­fäl­len in den Jah­ren von 2006 bis 2016 in zwei deut­schen Städ­ten die­je­ni­gen mehr als 3400 Fäl­le unter­sucht, die zu den sog. unent­deck­ten Toten gehö­ren. Nach ihrer Defi­ni­ti­on sind dies die­je­ni­gen Ver­stor­be­nen, die län­ger als 12 Stun­den an zwei auf­ein­an­der­fol­gen­den Tagen nicht ver­misst oder ange­fun­den wur­den. Frau Loke schätzt, dass etwa 20 Pro­zent der pri­va­ten Ster­be­fäl­le ver­zö­gert ent­deck­te Tote sind. Pro­ble­me der Ver­ein­sa­mung und unbe­glei­te­tes Ster­ben spie­len stark in die­ses Gesche­hen hin­ein, eben­so wie die Nach­bar­schaf­ten und deren Netzwerke.

His­to­risch bese­hen hat sich seit dem 19. Jh. ein gro­ßer Wan­del in der Ster­be­kul­tur gezeigt. War in die­ser Zeit noch der Lebens­ort auch der Ster­be­ort, so hat sich die­ser räum­li­che Zusam­men­hang immer mehr auf­ge­löst mit den moder­nen Klein­fa­mi­li­en, den Patch­work-Fami­li­en, dem Sin­gle­da­sein und zudem den ent­frem­de­ten oder ein­sei­tig struk­tu­rier­ten Nach­bar­schaf­ten vor allem in den Städ­ten. Hin­zu kommt: Lag die Lebens­er­war­tung bei der Geburt in Deutsch­land um das Jahr 1881 noch bei sage und schrei­be nur 35 (Män­ner) und 38 (Frau­en) Jah­ren, so liegt die­se in den Jah­ren 20192021 bei 78 (Män­ner) bis 83 (Frau­en) Jah­ren. Durch das anstei­gen­de Lebens­al­ter mit mehr gesun­den Jah­ren rückt auch die Erfah­rung des Ster­bens aus dem Hori­zont der jün­ge­ren und mitt­le­ren Altersgruppen.

Die­se Hoch­alt­rig­keit kann auf­grund man­geln­der Erfah­rung Abwehr­hal­tun­gen ver­stär­ken. Gleich­zei­tig ent­rückt das Ster­ben in den Medi­en und im Inter­net immer mehr dem Pri­va­ten und Per­sön­li­chen. Zudem wer­den die Ritua­le, die mit dem Ster­ben ver­bun­den sind, außer Kraft gesetzt, in den Hin­ter­grund gerückt, wäh­rend dabei indi­vi­du­el­le­re Bedürf­nis­se für das Lebens­en­de und das Bestat­ten in den Vor­der­grund tre­ten. Die Bestat­tung selbst wird häu­fig in engen, teils geschlos­se­nen Per­so­nen­krei­sen durchgeführt.

Hin­zu kommt der Trend, wonach die Ster­ben­den in medi­zi­ni­sche und pfle­gen­de Ein­rich­tun­gen aus­ge­son­dert wur­den. Und dort, wo Fach­kräf­te damit befasst sind, ent­steht die Illu­si­on vom hygie­ni­schen Tod.

Damit ein­her geht, dass alle Betei­lig­ten, dem Ster­ben­den wie den Ange­hö­ri­gen, der Tod ent­frem­det und das Erle­ben des Ster­bens und des Todes ent­per­sön­licht wird. Wo Ster­ben­de wie in Pfle­ge­hei­men oder Hos­pi­zen zu den Rou­ti­ne­auf­ga­ben gehö­ren, herrscht eine sozia­le Iso­la­ti­on der alten Menschen.

Das ers­te Hos­piz wur­de 1967 Jah­ren durch Cice­ly Saun­ders in Eng­land gegrün­det, in den 1980er fan­den  die­se auch in Deutsch­land Ver­brei­tung. Wei­ter­hin wur­den die Ster­be­or­te mit den Pal­lia­tiv­sta­tio­nen aus den pri­va­ten, fami­lia­len und per­sön­li­che­ren Zusam­men­hän­gen ver­stärkt ausgegliedert.

Einsamkeit und Armut gehen Hand in Hand

Was Frau Loke betont, ist die Ver­bin­dung von Ein­sam­keit und Alters­ar­mut. Ein­sam­keit kann Men­schen in pre­kä­ren Lebens­wel­ten nicht addi­tiv, son­dern sich ver­stär­kend in noch mehr Ver­ein­sa­mung brin­gen und von Kon­tak­ten und Hil­fen abschnei­den. Und das betrifft nicht nur alte und altern­de Men­schen. Schließ­lich kön­nen man­che Stadt­vier­tel auf­grund hoher Armuts­ri­si­ken und Armuts­la­gen schon so brü­chig in ihren sozia­len Struk­tu­ren sein, dass Abhil­fe unter­ein­an­der kaum noch mög­lich ist, weil zu vie­le Res­sour­cen feh­len. Die Ster­be­da­ten las­sen den Schluss zu, dass Armut ein ent­schei­den­der Fak­tor für die­se ver­zö­gert ent­deck­ten Toten ist.

Idee: Postkarten in den Briefkasten stecken

Ich fra­ge mich: Soll­ten wir nicht mehr Rück­sicht und Vor­sicht bei unse­ren Nach­barn wal­ten las­sen? Wie kann man in Stadt­vier­teln sicher­stel­len, dass man, ohne über­grif­fig zu wer­den, erfährt, ob ein alter Mit­be­woh­ner schon aus den Feri­en zurück ist? Eine eher pri­va­te und siche­re Lösung unter älte­ren Haus­nach­barn ist zum Bei­spiel das regel­mä­ßi­ge Aus­tau­schen von Post­kar­ten mit aktu­el­len Grü­ßen und Infos zum Wohl­erge­hen, und damit ist man davor sicher, nicht jeden Tag mit­ein­an­der plau­dern zu müs­sen und sich trotz­dem im Blick zu haben. Ich den­ke, das soll­te man vor Ort sehen, abspre­chen und regeln. Ich bin mir sicher: Auch in Stadt­vier­teln wie den Wed­ding soll­te das leicht mög­lich sein.

Text: Rena­te Straetling

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Loke, Susan­ne, Ein­sa­mes Ster­ben und unent­deck­te Tode in der Stadt, Über ein ver­bor­ge­nes gesell­schaft­li­ches Pro­blem, tran­script Ver­lag, Bie­le­feld 2023, ISBN 978–3–8376–6648–9

Über Susan­ne Loke: Sie ist Lehr­be­auf­trag­te an der Evan­ge­li­schen Hoch­schu­le Rhein­land-West­fa­len-Lip­pe in Bochum. Sie pro­mo­vier­te zum The­ma ein­sa­mes Ster­ben und unent­deck­te Tode in der Stadt. Schwer­punkt­mä­ßig wid­met sie sich den The­men Ein­sam­keit, Tha­na­to­lo­gie, sozia­le Geron­to­lo­gie und Sozialraumforschung.

Renate Straetling

Ich lebe seit dem Jahr 2007 in Berlin-Wedding, genauer gesagt im Brüsseler Kiez - und ich bin begeistert davon. Wir haben es freundlich, bunt ohne Überspanntheit.
Jg. 1955, aufgewachsen in Hessen. Seit dem Jahr 1973 zum Studium an der FU Berlin bin ich in dieser damals noch grauen und zerschossenen Stadt. Mittlerweile: Sozialforschung, Projekte. Seit 2011 auch Selfpublisherin bei www.epubli.de mit fast 60 Titeln. Ich verfasse Anthologien, Haiku, Lesegeschichten, Kindersachbücher und neuerdings einen ökologisch orientierten Jugend-SciFi (für Kids 11+) "2236 - ein road trip in einer etwas entfernteren Zukunft" (Verlagshaus Schlosser, 28.11.22).-
Meine Beiträge zu meiner Kolumne Ü 60 habe ich für alle, die lieber analog lesen, in einem Sammelband zusammengefasst
Renate Straetling
Kolumne Ü 60 - Sommer 2022 – Sommer 2024
Ein Sammelband
Sachbuchformat, 336 Seiten
ISBN: 978-3-759847-6, - Überall im Buchhandel oder online

2 Comments Leave a Reply

  1. Mir fällt auch noch eine wei­te­re gute Kon­ven­ti­on ein, die vor allem für locke­re Nach­bar­schaf­ten geeig­net ist und dann, wenn man sich gegen­sei­tig in die Fens­ter schau­en kann.
    Eine gute und ein­fa­che Abspra­che kann dar­in bestehen, bestimm­te Deko-Tei­le nach Ver­ab­re­dung ins Fens­ter zu hän­gen und damit zu signa­li­sie­ren, ob man daheim, alles ok oder ob man ver­reist ist. Sol­che ein­fa­chen Deko-Schmuck­tei­le bekommt man hier und da für einen Euro und man kann die­se an jedem der sie­ben Wochen­ta­gen austauschen.

  2. Ich hal­te es für sehr sinn­voll, wenn älte­re Men­schen soge­nann­te Tele­fon­ket­ten bil­den, jeden Mor­gen ein Anruf könn­te ein gewis­ses Gebor­gen­heits­ge­fühl vermitteln.

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