Wohlmeinende Sonntagsreden zur DDR-Geschichte waren allerorten am 17. Juni zu hören, der Aufstand der Arbeiter vor 70 Jahren wurde wortreich gewürdigt. Ebenfalls im Juni: Ein bei Bauarbeiten in der Bernauer Straße entdeckter Fluchttunnel aus DDR-Zeiten wird nicht so dokumentiert, wie es möglich gewesen wäre. Dietmar Arnold, Vorsitzender des Berliner Unterwelten e.V., sagt, er sei richtig sauer.
Heute heißt es Dienst nach Vorschrift, zu DDR-Zeiten sagte man: Es geht alles seinen sozialistischen Gang. An diese Redewendung erinnert der Umgang mit dem frisch entdeckten Fluchttunnel in der Bernauer Straße. Die Möglichkeit, ihn zu vermessen, zu fotografieren und komplett zu erfassen, wurde verpasst. Alles richtig gemacht, sagen die einen zu dem Fall. Vertane Chance, kommentieren die anderen verbittert.
Bauherr auf dem Grundstück Bernauer Straße 26 bis 30 ist die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM). Sie teilt mit: “Die Entscheidung, den historischen Tunnel zu bewahren, spiegelt unser Engagement für den Schutz und die Anerkennung des kulturellen Erbes wider.” Bewahren heißt an dieser Stelle, “den Tunnel nicht zu zerstören oder mit Beton aufzufüllen”. Stattdessen lässt die WBM den Tunnel mit Flüssigboden verfüllen. Das Landesdenkmalamt ist mit diesem Vorgehen einverstanden. Denn Flüssigboden sei reversibel, wie das Amt mitteilt. “Damit ist der Tunnel gegen Einsturz oder auch gegen unkontrolliert eindringendes Schichtenwasser geschützt”, schreibt das Landesdenkmalamt.
Unterwelten sprechen von vertaner Chance
Dietmar Arnold ist alles andere als glücklich, er ist sehr verärgert. Ihn regt die Eile der WBM auf. Bevor der Bauherr den Fluchttunnel verfüllen ließ, hätte er den Fund zumindest gern fachgerecht dokumentiert, Messdaten gesichert und Fotos vom Inneren gemacht. Das hätte nicht lange gedauert, sagt der Vorsitzende der Berliner Unterwelten. Falls die WBM Angst vor Verzögerungen gehabt haben sollte, so wären diese minimal gewesen, sagt er. Die WBM sagt dagegen, dass auf der Baustelle eine archäologische Fachfirma tätig gewesen sei. Dabei handelt es sich um das Büro Archaeofakt Döhner, Uschmann und Partner GbR.
Bildunterschrift: Eingang zum freigelegten Fluchttunnel. Fotos: Landesdenkmalamt, Marlit Seeger
Dietmar Arnold sagt, er hätte umfangreichere Ergebnisse liefern können als die, die bekannt gewordenen sind. Denn er wäre mit weiteren ausgewiesenen Experten in den Fluchttunnel hineingegangen. Das Büro Archaeofakt hat den Tunnel lediglich vom Eingang her begutachtet. Das sagt das Landesdenkmalamt. Dietmar Arnold verweist darauf, dass er und Archäologen seines Vereins Erfahrung mit ungesicherten Bauwerken unter der Erde haben. Man müsse wissen, was man tut und wie man sich dort bewegt. Der Berliner Unterwelten e.V. sei darauf spezialisiert, unbekannte Anlagen zu erschließen. Das sollte nach mehr als 25 Jahren des Vereins in der Stadt bekannt sein.
Selbst als die WBM eine Abdeckplatte aus Beton gegossen hatte, sei der Tunnel für eine umfassende Dokumentation noch nicht verloren gewesen, so Dietmar Arnold. Einen 3D-Scan, ein Befahren mit Robotern und die Suche nach Fundstücken seien bis zur Verfüllung mit dem Flüssigboden möglich gewesen. “Ich verstehe, dass das Landesdenkmalamt nicht anordnen kann, in einen solchen Tunnel zu gehen. Wir hatten angeboten, auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko den Tunnel zu dokumentieren”, sagt Dietmar Arnold und verweist auf andere Fluchttunnel, die die Berliner Unterwelten bereits erfasst haben. Fakt ist, dass der gemeinnützige Verein bereits an zahlreichen anderen Orten, Herzblut und Engagement bewiesen hat. Der WBM scheint dennoch das Vertrauen zu fehlen, sie teilt zu dem Angebot knapp mit: “Eine Begehung des Tunnels ist aus technischen Gründen nicht möglich.”
Auf die Frage, was aus Sicht des Landesdenkmalamtes mit der durchgeführten Dokumentation an Erkenntnissen gewonnen wurde, antwortet die Pressestelle des Amtes: “Der Tunnel lag in einer Tiefe von circa fünf Metern unter der heutigen Oberfläche, er ist als schmaler Kriechgang gegraben und vermutlich ohne durchgehende Aussteifung in den harten anstehenden Lehm gegraben. Sein Verlauf kann im Wesentlichen rekonstruiert werden.”
Die Bernauer ist die Straße der Fluchttunnel
Grundsteinlegung in der Bernauer Straße. Hier befindet sich der Tunnel. Fotos: Andrei Schnell
Dass unter der Baustelle Bernauer Straße 26 bis 30 ein Fluchttunnel liegen muss, das wusste die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) schon vor Baubeginn. Deshalb seien Messungen veranlasst worden, deren Ergebnisse sogar auf einen möglichen zweiten Tunnel hingewiesen hätten. So war es am Freitag (16.6.) bei der Grundsteinlegung auf der Baustelle von Mitarbeitern der WBM zu hören. Allerdings habe sich die Existenz eines zweiten Tunnels nicht bestätigt, sagt die Pressestelle des Landesdenkmalamtes. Die Verantwortlichen auf der Baustelle sind davon ausgegangen, den Fluchttunnel nicht nahezukommen. Die Anomalien seien tief im Boden angezeigt worden. Für sie sei es eine Überraschung gewesen, als der Tunnel beim Verfüllen eines gemauerten Ringbrunnens sichtbar wurde.
Der in der Bernauer Straße entdeckte Tunnel verlief zwischen der Hausnummer 80 und der Schönholzer Straße 18 bis 22. Er wurde im Jahr 1970 von Weddinger Seite aus vorgetrieben. Sechs Männer gruben, um Familienangehörige aus der DDR herauszuholen. Die Unterdrückungspolizei der DDR, die Stasi, setzte Sonden ein, um anhand von Geräuschen die Fluchthelfer zu orten. Am Ende scheiterte der Fluchtversuch an Verrat. Das Stasi-Unterlagen-Archiv beim Bundesarchiv beschreibt auf ihren Webseiten den Fall aus dem Jahr 1970 anschaulich.
Fast ein Dutzend der heute nachweisbaren 75 Fluchttunnelprojekte in Berlin wurden in der Nähe der Bernauer Straße gegraben. Manche von Ostberlin aus, einige vom Wedding aus. Grund für die Häufung ist neben dem stabilen lehmigen Mergelboden, dass das Grundwasser tief liegt und deshalb den Tunnelbau nicht behindert. Der berühmte Tunnel 29, an den eine Gedenktafel in der Schönholzer Straße 7 erinnert, befindet sich unweit des jetzt entdeckten Tunnels. Über den Tunnel 29 hat der Sender Sat.1 im Jahr 2001 einen Zweiteiler mit Heino Ferch gedreht.