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Literatur Aktion Wedding:
Der Wedding – eine Metapher?

8. April 2023
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Ein dunk­ler Raum. Eine Stuhl­rei­he zeich­net drei Sei­ten eines Vier­eck nach, sie wird durch drei Mikro­pho­ne, die die Büh­ne mar­kie­ren, unter­bro­chen. Vor den Mikro­pho­nen Frei­raum auf Par­kett, hin­ter den Mikro­pho­nen eine Büh­ne mit zwei Stüh­len. Die neue Ver­an­stal­tungs­rei­he „Lite­ra­tur Akti­on Wed­ding“ hat am 26. März im Ball­haus Prin­zen­al­lee begon­nen. Das von Mar­tin Zäh­rin­ger aus­ge­ar­bei­te­te Kon­zept sieht vor, dass quar­tals­wei­se Sonn­tag­nach­mit­ta­ge jeweils einer Autorin, einem Autor gewid­met werden.

Besucher:innen im Eingangsbereich des Ballhauses Prinzenallee. Foto: Schnell
Foto: And­rei Schnell

Im ers­ten Teil der Ver­an­stal­tung geht es dar­um, die Wer­ke der lite­ra­ri­schen Gäs­tin­nen in einen Kon­text zu stel­len. Hier­für wäh­len die Autorin­nen, denen die jewei­li­ge Ver­an­stal­tung gewid­met ist, Wer­ke ande­rer Lite­ra­tin­nen, die in einem Zusam­men­hang zu ihrem eige­nen Schaf­fen und Wir­ken ste­hen, aus. Die Tex­te wer­den als sze­ni­sche Lesung auf­be­rei­tet und von Schau­spie­le­rin­nen thea­tra­lisch vor­ge­tra­gen. Die Tex­te erwa­chen somit zum Leben und wer­den so plas­tisch, dass das Publi­kum mit ein biss­chen Phan­ta­sie beim Ver­las­sen des Ball­hau­ses auf dem Bür­ger­steig in Cha­rak­te­re der gele­se­nen Wer­ke hin­ein­stol­pert. Lite­ra­tur und Thea­ter wer­den bei der „Lite­ra­tur Akti­on Wed­ding“ mit­ein­an­der ver­bun­den und stel­len so die Brück zum Ball­haus Prin­zen­stra­ße, was haupt­säch­lich als Thea­ter­ort gilt, her. Im zwei­ten Teil der etwa zwei­stün­di­gen Ver­an­stal­tung geht es um die Autorin­nen sel­ber und um ihre Roma­ne. Pas­sa­gen wer­den durch die Autorin­nen gele­sen und es folgt ein Gespräch mit Mar­tin Zäh­rin­ger und dem Publikum. 

The­ma­tisch beschäf­tigt sich die Rei­he sowohl mit dem Wed­ding als phy­si­schen Ort, der bei­spiels­wei­se der heu­ti­ge Wohn­ort oder der Ort des Auf­wach­sen der Autorin­nen sel­ber oder ihrer Prot­ago­nis­tin­nen war oder ist, als auch mit dem Wed­ding als Meta­pher. Wobei die Inter­pre­ta­ti­on des Wed­dings als sprach­li­ches Sinn­bild ver­all­ge­mei­nernd für alle gedank­li­chen und phy­si­schen Räu­me, unab­hän­gig von ihrer geo­gra­phi­schen Ver­or­tung, steht. Hier­mit sind Räu­me gemeint, die Fra­gen der Zuge­hö­rig­keit, ins­be­son­de­re in sozia­ler und kul­tu­rel­ler Hin­sicht, auf­wer­fen. Post­mi­gran­ti­sche und migran­ti­sche Per­spek­ti­ven sol­len hier­bei beson­ders im Vor­der­grund ste­hen, um auf die trans­na­tio­na­le Gesell­schaft, in der wir leben, hin­zu­wei­sen und zum Nach­den­ken zu bewe­gen. Ent­frem­dun­gen, (Alltags-)Rassismen und Erfah­run­gen von Mehr­fach­dis­kri­mi­nie­rung, Inter­sek­tio­na­li­tät, spie­len dabei in den Büchern der ein­ge­la­de­nen Autorin­nen immer eine Rol­le. In wohl­se­zier­ten All­tags­ge­schich­ten wird dies für die Lesen­den erleb­bar; Situa­tio­nen im Job, im Super­markt um die Ecke, in der Schu­le und der Uni, in der Fami­lie und etli­che mehr, ver­deut­li­chen, dass Klas­si­mus und Ras­sis­mus eng mit­ein­an­der ver­zahnt und tief in der Gesell­schaft ver­wur­zelt sind. Um Spra­che geht es dabei natür­lich auch. Spra­che als inklu­die­ren­des und exklu­die­ren­des Moment. Gleich­zei­tig aber auch als Medi­um, was es den Lesen­den über­haupt erst ermög­licht, so tief in so viel­fäl­ti­ge Rea­li­tä­ten ein­zu­tau­chen und dazuzulernen. 

Am Sonn­tag, den 26. März, hat Nad­ire Bis­kin im Ball­haus gele­sen. Die Autorin ist im Wed­ding gebo­ren und auf­ge­wach­sen. Auch ihr vor­ge­stell­ter, 2022 erschie­ne­ner Debüt­ro­man „Ein Spie­gel für mein Gegen­über“ spielt stre­cken­wei­se im Wed­ding und dreht sich um Huzur, die von ihrem Refe­ren­da­ri­at in Ber­lin sus­pen­diert wur­de und nun Zwangs­ur­laub zwi­schen tür­kisch-deut­schen Wel­ten und The­men wie Iden­ti­tät und Ver­ant­wor­tung ver­bringt. Als Kon­text­li­te­ra­tur hat­te Nad­ire Bis­kin Tex­te von Yahya Hassan, Athe­na Far­rokhzad und Fat­ma Ayd­emir aus­ge­wählt. Die Lite­ra­tur, die Nad­ire Bis­kin aus­ge­wählt hat, eint ein post­mi­gran­ti­scher Blick auf die Gesell­schaft, unab­hän­gig davon, in wel­chem Land die­se Gesell­schaft anzu­tref­fen ist, ob in Schwe­den, Paläs­ti­na, Däne­mark, Deutsch­land, Iran oder der Tür­kei. Alle Autorin­nen ver­bin­det, dass sie nach 1980 gebo­ren wur­den, trans­na­tio­nal auf­ge­wach­sen sind und inner­halb der letz­ten Jah­re bekannt gewor­den sind. Die Not­wen­dig­keit eine Spra­che und einen neu­en Blick auf die Ein­wan­de­rungs­län­der des Wes­tens und ihre oft sehr wei­ßen Anpas­sungs- und Assi­mi­lie­rungs­vor­stel­lu­gen zu wer­fen, ist ihnen ein Anlie­gen. Der mit 24 Jah­ren ver­stor­be­ne däni­sche Lyri­ker Yahya Hassan ver­ar­bei­tet in sei­nen Gedich­ten das eige­ne Her­an­wach­sen in einem von Gewalt und Kri­mi­na­li­tät gepräg­ten Umfeld. Athe­na Far­rokhzad ist Dich­te­rin, Dra­ma­ti­ke­rin, Über­set­ze­rin und Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin, sie wur­de in Tehe­ran gebo­ren, floh mit ihrer Fami­lie nach Schwe­den, wo sie auf­wuchs. In ihrem Lyrik­band „Vits­vit“ öff­net sie trans­kul­tu­rel­le Erfah­rungs­räu­me. Fat­ma Ayd­emir wur­de 1986 in Karls­ru­he gebo­ren, 2017 erschien ihr Debüt­ro­man „Ell­bo­gen“ und 2022 ihr Roman „Dschin­ns“, in bei­den Büchern geht sie auf das Leben zwi­schen den Kul­tu­ren und Natio­nen ein. Die Schauspieler:innen Chris­ti­an Boji­dar, Jonas Brox­ter­mann und Fran­zis­ka Krol setz­ten die Tex­te der drei Autor:innen sze­nisch um. Sie inter­pre­tier­ten Gedich­te von Yahia Hassan, im Hin­ter­grund spiel­te ein Hip­Hop-Beat, der die Dring­lich­keit und Schlag­kraft der Wor­te unter­strich. Aus „Ell­bo­gen“ wur­de mit ver­teil­ten Rol­len gele­sen und gespielt. Im Anschluss las Nad­ire Bis­kin aus ihrem 2022 ver­öf­fent­lich­ten Buch „Ein Spie­gel für mein Gegen­über“ vor. Ein Zitat, was sowohl das Cover des Buches ziert als auch bei der Lesung benannt wur­de, schil­dert eine Ein­kaufs­sze­ne beim Pen­ny im Sol­di­ner Kiez und macht deut­lich, dass sich tren­nen­de Lini­en zwi­schen Men­schen nicht nur sicht­bar bemerk­bar machen, son­dern häu­fig auch unsicht­bar ver­lau­fen: „Zum ers­ten Mal in ihrem Leben wur­de Huzur bewusst, dass zwi­schen den Frau­en ihrer Fami­lie und der blon­den, gro­ßen Kun­din Nie­mands­land lag, etwas Tren­nen­des, über das man nie­mals laut sprach, obwohl es immer da war. Es ging um sicht­ba­re Unter­schie­de und zwi­schen zwei Wel­ten, um Klei­dung, Spra­che und Aus­se­hen, und im Unsicht­ba­ren, wie das, was man in einer bestimm­ten Anzahl von Schul­jah­ren ler­nen kann.“ Eine wei­te­res Zitat ver­weist dar­auf, dass sich man­che die­ser Lini­en und Unter­schie­de im uni­ver­si­tä­ren Kon­text nicht auf­lö­sen, son­dern wei­ter exis­tie­ren und sich viel­leicht sogar ver­stär­ken: „Sie behaup­te­te im Berg­hain gin­ge gar nichts mehr, es wäre vol­ler Tou­ris. Dabei fühl­te sie sich den Tou­ris näher als den zuge­zo­ge­nen Deut­schen, mit denen sie Tag für Tag in den Semi­na­ren saß, mit denen sie in der Men­sa aß und in der Grimm-Biblio­thek Haus­ar­bei­ten schrieb. Maries und Sophies das zu erklä­ren, dass sie da eigent­lich ungern hin­ging, weil sie wuss­te, ihre tür­ki­schen Brü­der kämen da genau­so wenig rein wie syri­sche Geflüch­te­te, und dass sie die­sem Moloch aus Soli­da­ri­tät fern­blieb, wäre zu müh­sam gewe­sen. Sie waren pri­vi­le­giert genug, um an indi­vi­du­el­le Erfah­run­gen zu glauben.“ 

Nadire Biskin
Autorin Nad­ire Bis­kin. Foto: Oellermann

Für 2023 sind drei wei­te­re Ter­mi­ne der „Lite­ra­tur Akti­on Wed­ding“ geplant. Zu Gast wer­den Behzad Karim Khan, Musa Okwon­ga und Emi­ne Sev­gi Özda­mar sein. Alles Autorin­nen, die sich aktu­ell gro­ßer Beliebt- und Bekannt­heit in der (deut­schen) Lite­ra­tur­sze­ne erfreu­en. Zu Ber­lin haben alle der Autorin­nen ein beson­de­res per­sön­li­ches oder lite­ra­ri­sches Ver­hält­nis. Behzad Karim Kha­ni, der als nächs­tes zu Gast bei der „Lite­ra­tur Akti­on Wed­ding“ ist, schreibt über das Auf­wach­sen in Neu­kölln, über Kri­mi­na­li­tät und Ent­glei­sun­gen und schließ­lich über die Ent­de­ckung des Lesens als Ret­tungs­an­ker. Musa Okwon­ga, der im Som­mer im Ball­haus lesen und spre­chen wird, schreibt über Fried­richs­hain und Ugan­da. Am Ende des Jah­res kommt Emi­ne Sev­gi Özda­mar in den Wed­ding, sie hat „Ein von Schat­ten umgrenz­ter Raum“ geschrie­ben und damit 2022 den Georg Büch­ner Preis erhal­ten. Die Ber­li­ner Senats­ver­wal­tung für Kul­tur und Euro­pa för­dert die Ver­an­stal­tungs­rei­he. Für eine zukünf­ti­ge wei­te­re För­de­rung des For­ma­tes soll­te die the­ma­ti­sche Rah­men­set­zung eigent­lich für sich spre­chen. Die Rele­vanz einer Lese­rei­he mit die­ser the­ma­ti­schen Aus­rich­tung soll­te kein Glücks- oder Son­der­fall, son­dern die Regel sein, da der Wed­ding als Ort und als Meta­pher in uns allen wohnt. Wir soll­ten also wei­ter­hin ver­su­chen, ihn ver­ste­hen zu ler­nen. Dafür braucht es Stim­men und Räu­me, in denen sol­che Erklä­rungs­an­sät­ze ver­mit­telt wer­den. Das Ball­haus bie­tet mit einen sol­chen Raum für die­se Stim­men. Inzwi­schen ist das Par­kett vor den drei Mikro­pho­nen unre­gel­mä­ßig mit bedruck­ten A4-Sei­ten bedeckt. Wort­fet­zen hän­gen noch in der Luft. Gedan­ken zu einer gleich­be­rech­tig­ten trans­na­tio­na­len Gesell­schaft und wel­che Mit­ver­ant­wor­tung bzw. Mit­schuld jede*r Ein­zel­ne von uns dafür trägt, las­sen die Jacken­ta­schen, in die sie behelfs­mä­ßig gesteckt wur­den, aus­beu­len. Schwer wird die Jacke zusätz­lich vom gera­de erstan­de­nen Buch, „Ein Spie­gel für mein Gegen­über“, was auf einer der ers­ten Sei­ten die fri­sche Unter­schrift der Autorin Nad­ire Bis­kin trägt. 

Mar­tin Zäh­rin­ger (r.), Foto Jan Michalko

Gut zu wis­sen: Die nächs­ten Ter­mi­ne der „Lite­ra­tur Akti­on Wedding“

1.5.2023: Behzad Karim Kha­ni, 03.06.2023: Musa Okwon­ga, 03.12.2023: Emi­ne Sev­gi Özdamar 

Der Text ist auf Grund­la­ge eines Gesprächs mit Mar­tin Zäh­rin­ger und dem Besuch der Auf­takt­ver­an­stal­tung der „Lite­ra­tur Akti­on Wed­ding“ ent­stan­den. Vie­len Dank fürs Öff­nen der Tore und den Austausch.

1 Comment Leave a Reply

  1. Dan­ke für die­sen schö­nen Bericht von der Ver­an­stal­tung mit Nad­ire Biskin.
    TERMINÄNDERUNG: Behzad Karim Kha­ni kommt am Mon­tag 1. Mai ins Ball­haus Prin­zen­al­le, nicht am 30. April,
    Bes­te Grüße
    Mar­tin Zähringer

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