Ein dunkler Raum. Eine Stuhlreihe zeichnet drei Seiten eines Viereck nach, sie wird durch drei Mikrophone, die die Bühne markieren, unterbrochen. Vor den Mikrophonen Freiraum auf Parkett, hinter den Mikrophonen eine Bühne mit zwei Stühlen. Die neue Veranstaltungsreihe „Literatur Aktion Wedding“ hat am 26. März im Ballhaus Prinzenallee begonnen. Das von Martin Zähringer ausgearbeitete Konzept sieht vor, dass quartalsweise Sonntagnachmittage jeweils einer Autorin, einem Autor gewidmet werden.
Im ersten Teil der Veranstaltung geht es darum, die Werke der literarischen Gästinnen in einen Kontext zu stellen. Hierfür wählen die Autorinnen, denen die jeweilige Veranstaltung gewidmet ist, Werke anderer Literatinnen, die in einem Zusammenhang zu ihrem eigenen Schaffen und Wirken stehen, aus. Die Texte werden als szenische Lesung aufbereitet und von Schauspielerinnen theatralisch vorgetragen. Die Texte erwachen somit zum Leben und werden so plastisch, dass das Publikum mit ein bisschen Phantasie beim Verlassen des Ballhauses auf dem Bürgersteig in Charaktere der gelesenen Werke hineinstolpert. Literatur und Theater werden bei der „Literatur Aktion Wedding“ miteinander verbunden und stellen so die Brück zum Ballhaus Prinzenstraße, was hauptsächlich als Theaterort gilt, her. Im zweiten Teil der etwa zweistündigen Veranstaltung geht es um die Autorinnen selber und um ihre Romane. Passagen werden durch die Autorinnen gelesen und es folgt ein Gespräch mit Martin Zähringer und dem Publikum.
Thematisch beschäftigt sich die Reihe sowohl mit dem Wedding als physischen Ort, der beispielsweise der heutige Wohnort oder der Ort des Aufwachsen der Autorinnen selber oder ihrer Protagonistinnen war oder ist, als auch mit dem Wedding als Metapher. Wobei die Interpretation des Weddings als sprachliches Sinnbild verallgemeinernd für alle gedanklichen und physischen Räume, unabhängig von ihrer geographischen Verortung, steht. Hiermit sind Räume gemeint, die Fragen der Zugehörigkeit, insbesondere in sozialer und kultureller Hinsicht, aufwerfen. Postmigrantische und migrantische Perspektiven sollen hierbei besonders im Vordergrund stehen, um auf die transnationale Gesellschaft, in der wir leben, hinzuweisen und zum Nachdenken zu bewegen. Entfremdungen, (Alltags-)Rassismen und Erfahrungen von Mehrfachdiskriminierung, Intersektionalität, spielen dabei in den Büchern der eingeladenen Autorinnen immer eine Rolle. In wohlsezierten Alltagsgeschichten wird dies für die Lesenden erlebbar; Situationen im Job, im Supermarkt um die Ecke, in der Schule und der Uni, in der Familie und etliche mehr, verdeutlichen, dass Klassimus und Rassismus eng miteinander verzahnt und tief in der Gesellschaft verwurzelt sind. Um Sprache geht es dabei natürlich auch. Sprache als inkludierendes und exkludierendes Moment. Gleichzeitig aber auch als Medium, was es den Lesenden überhaupt erst ermöglicht, so tief in so vielfältige Realitäten einzutauchen und dazuzulernen.
Am Sonntag, den 26. März, hat Nadire Biskin im Ballhaus gelesen. Die Autorin ist im Wedding geboren und aufgewachsen. Auch ihr vorgestellter, 2022 erschienener Debütroman „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ spielt streckenweise im Wedding und dreht sich um Huzur, die von ihrem Referendariat in Berlin suspendiert wurde und nun Zwangsurlaub zwischen türkisch-deutschen Welten und Themen wie Identität und Verantwortung verbringt. Als Kontextliteratur hatte Nadire Biskin Texte von Yahya Hassan, Athena Farrokhzad und Fatma Aydemir ausgewählt. Die Literatur, die Nadire Biskin ausgewählt hat, eint ein postmigrantischer Blick auf die Gesellschaft, unabhängig davon, in welchem Land diese Gesellschaft anzutreffen ist, ob in Schweden, Palästina, Dänemark, Deutschland, Iran oder der Türkei. Alle Autorinnen verbindet, dass sie nach 1980 geboren wurden, transnational aufgewachsen sind und innerhalb der letzten Jahre bekannt geworden sind. Die Notwendigkeit eine Sprache und einen neuen Blick auf die Einwanderungsländer des Westens und ihre oft sehr weißen Anpassungs- und Assimilierungsvorstellugen zu werfen, ist ihnen ein Anliegen. Der mit 24 Jahren verstorbene dänische Lyriker Yahya Hassan verarbeitet in seinen Gedichten das eigene Heranwachsen in einem von Gewalt und Kriminalität geprägten Umfeld. Athena Farrokhzad ist Dichterin, Dramatikerin, Übersetzerin und Literaturkritikerin, sie wurde in Teheran geboren, floh mit ihrer Familie nach Schweden, wo sie aufwuchs. In ihrem Lyrikband „Vitsvit“ öffnet sie transkulturelle Erfahrungsräume. Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren, 2017 erschien ihr Debütroman „Ellbogen“ und 2022 ihr Roman „Dschinns“, in beiden Büchern geht sie auf das Leben zwischen den Kulturen und Nationen ein. Die Schauspieler:innen Christian Bojidar, Jonas Broxtermann und Franziska Krol setzten die Texte der drei Autor:innen szenisch um. Sie interpretierten Gedichte von Yahia Hassan, im Hintergrund spielte ein HipHop-Beat, der die Dringlichkeit und Schlagkraft der Worte unterstrich. Aus „Ellbogen“ wurde mit verteilten Rollen gelesen und gespielt. Im Anschluss las Nadire Biskin aus ihrem 2022 veröffentlichten Buch „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ vor. Ein Zitat, was sowohl das Cover des Buches ziert als auch bei der Lesung benannt wurde, schildert eine Einkaufsszene beim Penny im Soldiner Kiez und macht deutlich, dass sich trennende Linien zwischen Menschen nicht nur sichtbar bemerkbar machen, sondern häufig auch unsichtbar verlaufen: „Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde Huzur bewusst, dass zwischen den Frauen ihrer Familie und der blonden, großen Kundin Niemandsland lag, etwas Trennendes, über das man niemals laut sprach, obwohl es immer da war. Es ging um sichtbare Unterschiede und zwischen zwei Welten, um Kleidung, Sprache und Aussehen, und im Unsichtbaren, wie das, was man in einer bestimmten Anzahl von Schuljahren lernen kann.“ Eine weiteres Zitat verweist darauf, dass sich manche dieser Linien und Unterschiede im universitären Kontext nicht auflösen, sondern weiter existieren und sich vielleicht sogar verstärken: „Sie behauptete im Berghain ginge gar nichts mehr, es wäre voller Touris. Dabei fühlte sie sich den Touris näher als den zugezogenen Deutschen, mit denen sie Tag für Tag in den Seminaren saß, mit denen sie in der Mensa aß und in der Grimm-Bibliothek Hausarbeiten schrieb. Maries und Sophies das zu erklären, dass sie da eigentlich ungern hinging, weil sie wusste, ihre türkischen Brüder kämen da genauso wenig rein wie syrische Geflüchtete, und dass sie diesem Moloch aus Solidarität fernblieb, wäre zu mühsam gewesen. Sie waren privilegiert genug, um an individuelle Erfahrungen zu glauben.“
Für 2023 sind drei weitere Termine der „Literatur Aktion Wedding“ geplant. Zu Gast werden Behzad Karim Khan, Musa Okwonga und Emine Sevgi Özdamar sein. Alles Autorinnen, die sich aktuell großer Beliebt- und Bekanntheit in der (deutschen) Literaturszene erfreuen. Zu Berlin haben alle der Autorinnen ein besonderes persönliches oder literarisches Verhältnis. Behzad Karim Khani, der als nächstes zu Gast bei der „Literatur Aktion Wedding“ ist, schreibt über das Aufwachsen in Neukölln, über Kriminalität und Entgleisungen und schließlich über die Entdeckung des Lesens als Rettungsanker. Musa Okwonga, der im Sommer im Ballhaus lesen und sprechen wird, schreibt über Friedrichshain und Uganda. Am Ende des Jahres kommt Emine Sevgi Özdamar in den Wedding, sie hat „Ein von Schatten umgrenzter Raum“ geschrieben und damit 2022 den Georg Büchner Preis erhalten. Die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa fördert die Veranstaltungsreihe. Für eine zukünftige weitere Förderung des Formates sollte die thematische Rahmensetzung eigentlich für sich sprechen. Die Relevanz einer Lesereihe mit dieser thematischen Ausrichtung sollte kein Glücks- oder Sonderfall, sondern die Regel sein, da der Wedding als Ort und als Metapher in uns allen wohnt. Wir sollten also weiterhin versuchen, ihn verstehen zu lernen. Dafür braucht es Stimmen und Räume, in denen solche Erklärungsansätze vermittelt werden. Das Ballhaus bietet mit einen solchen Raum für diese Stimmen. Inzwischen ist das Parkett vor den drei Mikrophonen unregelmäßig mit bedruckten A4-Seiten bedeckt. Wortfetzen hängen noch in der Luft. Gedanken zu einer gleichberechtigten transnationalen Gesellschaft und welche Mitverantwortung bzw. Mitschuld jede*r Einzelne von uns dafür trägt, lassen die Jackentaschen, in die sie behelfsmäßig gesteckt wurden, ausbeulen. Schwer wird die Jacke zusätzlich vom gerade erstandenen Buch, „Ein Spiegel für mein Gegenüber“, was auf einer der ersten Seiten die frische Unterschrift der Autorin Nadire Biskin trägt.
Gut zu wissen: Die nächsten Termine der „Literatur Aktion Wedding“
1.5.2023: Behzad Karim Khani, 03.06.2023: Musa Okwonga, 03.12.2023: Emine Sevgi Özdamar
Der Text ist auf Grundlage eines Gesprächs mit Martin Zähringer und dem Besuch der Auftaktveranstaltung der „Literatur Aktion Wedding“ entstanden. Vielen Dank fürs Öffnen der Tore und den Austausch.
Danke für diesen schönen Bericht von der Veranstaltung mit Nadire Biskin.
TERMINÄNDERUNG: Behzad Karim Khani kommt am Montag 1. Mai ins Ballhaus Prinzenalle, nicht am 30. April,
Beste Grüße
Martin Zähringer