Für den Staatssekretär ist es ein Experiment und ein gutes Beispiel für Nachverdichtung, für den Stadtrat ein wichtiger Rettungsanker in persönlichen Kisenzeiten, für die degewo eine gute Tat für die soziale Infrastruktur in Berlin. Die griffigste Beschreibung für den Neubau in der Gotenburger Straße 4 formulierte beim Richtfest am Freitag (18.11.) aber die Architektin Anne Lampen: „Dieses Haus ist ein maßgeschneiderter Anzug für den Kiez“.
Mit der Formulierung der Architektin ist viel über das Modellprojekt gesagt. Wo früher der beliebte Bauwagenspielplatz war, entsteht gerade ein Gebäude. Keine Eigentumswohungen werden hier gebaut, überhaupt keine regulären Wohnungen, kein Bürogebäude und auch kein Studentenwohnhaus. In den jetzt fertiggestellten Rohbau zieht ein Verbund sozialer Träger ein, der vor allem betreutes Wohnen für verschiedene Personengruppen anbieten wird.
„Das Projekt wurde aus der Not heraus geboren worden, weil es keinen geschützten Raum für soziale Träger mehr gab“, erklärte Anne Lampen die Ausgangsbasis 2014. Es war eine Zeit, als der Immobilienmarkt in Berlin immer angespannter wurde und auch soziale Träger ihre Räume verloren oder zu verlieren drohten. Besonders solche, die das sogenannte Trägerwohnen anboten, hatten es schwer, passende Räume zu finden oder zu behalten, auch im Wedding. In dieser Situation entstand die Idee von dem Sozialhaus in der Gotenburger Straße im Soldiner Kiez.
Es folgten viele Gespräche und Überlegungen, Kooperationen und Konzepte. Am Ende fanden sich sieben soziale Träger unter einem Dach zusammen, die Kiezquartier GmbH wurde gegründet. Zusammen mit dem landeseigenen Wohungsunternehmen degewo wurde eine Zusammenarbeit und ein Haus konzipiert, das wie ein Maßanzug passt. Statt Hosenlänge und Kragenweite wurde darauf geachtet, dass die Träger und die künftigen Bewohner:innen beste Bedingungen haben, drunter junge Eltern, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und Menschen mit Suchtproblemen.
Der Neubau Gotenburger Straße in Zahlen
In dem fünf- und siebengeschossigen Neubau entstehen derzeit auf 3.500 Quadratmetern Wohnfläche 58 barrierefreie Wohnungen, davon 47 Ein-Zimmerwohnungen und elf Zwei- bis Neunzimmerwohnungen mit 104 Wohnplätzen. Das KfW-Effizienzhaus 55 bietet außerdem einen Raum für Kinderwagen, einen Raum für Fahrräder und einen Spielplatz. Eine Kita mit 60 Plätzen und eine Produktionsschule für schuldistanzierte Jugendliche ergänzen das Projekt. Der im September 2021 begonnene Bau soll im Jahr 2023 bezugsfertig werden. Soweit die Fakten.
Olaf Trummer von der Ludwig Freytag GmbH & Co. KG liest den Richtspruch vor. Foto: Schnell
Das Sozialhaus Gotenburger Straße ist nicht nur irgendein Neubau in Berlin, das Richtfest daher auch nicht irgendein Richtfest. Das Interesse an der Baumaßnahme ist größer als bei anderen Neubauten, das konnte jeder sehen als der Richtkranz emporgezogen und der Richtspruch gesprochen wurde. Viele Besucher:innen waren dabei: degewo-Vorständin Sandra Wehrmann, Staatssekretär Christian Gaebler, Bezirksstadtrat Christoph Keller, Vertreter der Kiezquartier GmbH, Vertreter der L.I.S.T. GmbH, aber auch Verter:innen von Projekten und Trägern aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Auch ein Fernsehteam hielt das Ereignis fest.
Eine Idee wandert vom Wedding nach Köpenick
Besondere Bedeutung hat dieses Leuchtturmprojekt auch deshalb, weil es als Modell für weitere Kooperationen und Maßnahmen dieser Art dient. Sandra Wehrmann unterstich diesen Punkt auch in ihrer Rede beim Richtfest. Die Vorständin der degewo AG kündigte weitere Projekte dieser Art an: „Trägerwohnen wollen wir als Alleinstellungsmerkmal entwickeln. Es gibt bereits ein Folgeprojekt in Köpenick, Baubeginn ist 2023. Wir wollen diesen Weg für Berlin weitergehen“. Die Erfahrungen aus dem langen Vorbereitungsprozess im Wedding können nun anderswo in der Stadt anderen sozialen Trägern zugute kommen und vielleicht dafür sorgen, dass die Zeit von der Idee bis zum Richtfest deutlich kürzer als die neun Weddinger Jahre ist.
Aus den Redebeiträgen beim Richtfest
Christian Gaebler, Staatssekretär für Bauen und Wohnen in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, Berlin: „Ich freue mich darüber, dass degewo sich mit dem experimentellen Wohnprojekt in der Gotenburger Straße für therapeutische und betreute Wohnformen einsetzt. Gemeinnützige soziale Träger haben es auf dem angespannten Berliner Wohnungsmarkt besonders schwer, Wohnungen anzumieten. Dass dies hier an zentraler Stelle in Berlin möglich wird, ist ein großer Erfolg, der in der Zukunft Schule machen sollte.“
Sandra Wehrmann, Vorstand, degewo AG, Berlin: „degewo nimmt seinen sozialen Auftrag sehr ernst. Deshalb sind wir hier zusammen mit Sozialträgern und Politik einen ganz neuen Weg gegangen, um verschiedene Angebote von Trägern unter einem Dach zu vereinen. Das soziale Zentrum ist auf die speziellen Bedürfnisse maßgeschneidert und zeigt, wie Quartiere für alle Bewohnerinnen und Bewohner, auch die mit Betreuungsbedarf, lebenswert bleiben. Der langfristige Mietvertrag garantiert die dringend benötigte Preisstabilität und Sicherheit. degewo stärkt so die soziale Infrastruktur des gesamten Bezirks Mitte, in dem wir mehr als 8.000 Wohnungen bewirtschaften.“
Christoph Keller, Bezirksstadtrat für Jugend, Familie und Gesundheit im Bezirk Berlin-Mitte: „Viele Menschen kommen im Laufe ihres Lebens an einen Punkt, an dem sie auf Unterstützung und Betreuung angewiesen sind – sei es aus sozialen oder gesundheitlichen Gründen. Dieses besondere Wohnprojekt bietet jenen eine Heimat, die vor Herausforderungen stehen, die sie noch nicht eigenständig bewältigen können. Es freut mich, dass das so dringend benötigte Wohnangebot für soziale Träger im Bezirk Mitte damit nachhaltig erweitert wird.“
Der Trägerverbund
Um die Zusammenarbeit mit dem landeseigenen Wohnungsunternehmen degewo zu vereinfachen, schlossen sich sieben soziale Träger zus KIEZquartier GmbH zusammen. Die beteiligten Träger sind die ADV gGmbH, berliner STARThilfe e. V., Casablanca gGmbH, der Lebenswelten e.V., die PROWO Berlin gGmbH und die ZIK gGmbH sowie die Zukunftsbau GmbH. Die L.I.S.T. GmbH hat den Anstoß zur Entwicklung des Bauvorhabens gegeben und die Projektentwicklung von Anfang an begleitet. Mehr über den Verbund gibt es online unter www.kiezquartier.de.
Und noch was. Wer mir jetzt Nimby Verhalten vorwerfen will, kann dies gerne tun, liegt damit aber falsch. Dass die Träger froh sind überhaupt irgendwo einen Standort zu bekommen ist verständlich. Aber das Letzte was Suchtkranke oder Menschen mit allen möglichen Probleme, sowie sehr junge Eltern brauchen können, ist einen Umgebung mit Spielhallen, Dreck und schwierigen Schulen! Wer so etwas als „maßgeschneidert“ bezeichnet, hat sich, sorry, veräppeln lassen.
Ich liebe den Soldiner Kiez. Es ist toll hier. Auch wegen der sozialen Ader dieses Kiezes und der in jedem IHEK Plan viel gelobten „Integrationsfähigkeit“ und Zusammenhalt des Kiezes. Trotz all der Probleme. Aber den Leuten sollte schon mal klar werden, dass bestimmte Gebiete in der Stadt fein säuberlich frei gehalten werden von „sozialen Problemen“, die aber gesamtgesellschaftlich geschaffen werden.
Das sehe ich ganz genau so! Vielen Dank für diesen Beitrag!
Ich bin anderer Meinung als der Artikel. Das Projekt bietet dem Kiez wenig was er braucht. Die Produktionsschule für schuldistante Kinder und die Kita ausgenommen. Ausbildungsplätze dieser Art hätten ruhig noch mehr dort sein können. Oder Projekte wie die Quinoa Schule. Sowas braucht der Kiez, weil die Jugendlichen und Kinder hier dringend aufgefangen werden müssen und das geht am besten Vor Ort.
Was die Wohnplätze angeht bin ich der Meinung, daß diese viel viel besser in Gegenden aufgehoben sind, die weniger soziale Probleme haben als ausgerechnet der Soldiner Kiez. “Bessere“ Gegenden haben eine bessere soziale Infrastruktur, von Bildungsangeboten über Sportvereine, Arbeitsmöglichkeiten etc. Für die Leute ist es besser. Ich sehe das an den Kinderheimplätzen. Im Vergleich zu den Kindern, die im Soldiner Kiez untergebracht sind, können Kinder z.B in Frohnau von einem ruhigeren sozialen Umfeld profitieren, was diese dringend benötigen. Das gilt für Suchtkranke und Menschen mit Einschränkungen ebenso.
Warum also hat man die Wohnplätze hier im Kiez geschaffen? Meine Vermutung ist, dass einerseits die Bauplätze an anderer Stelle teurer sind und andererseits die Anwohner:innen in Zehlendorf/Charlottenburg//Pankow etc. mehr Widerstand gegen ein Wohnheim geleistet hätten um statt dessen etwas zu bekommen, was ihnen vor Ort mehr nutzt. Dem wollte man aus dem Weg gehen.
Aber so liebe Leute geht soziale Mischung nicht! Ich komme mir vor, als hätte man uns da einen Bären aufgebunden.
Mit dem Projekt werden wenige der Probleme in unserem Kiez gelöst, dafür unsere Offenheit, Integrationsfähigkeit und Gleichmut ausgenutzt.
Ich glaube nicht, dass da irgendwas ausgenutzt wird. Trägerwohnungen für die verschiedenen Zielgruppen gibt es in der ganzen Stadt, in allen Bezirken. Ein Beispiel, das den Wedding betrifft: Der Träger des Haus Phoenix für Suchtmittelabhängige betreibt ein Haus in der Koloniestraße mit 32 Zimmern – seit Jahren und übrigens ohne größere Probleme für die Nachbarschaft. Der gleiche Träger hat noch eine ein Gebäude mit 28 Zimmern in Pankow. Die meisten Träger dieser sogenannten Trägerwohnungen haben Objekte, die über die ganze Stadt verteilt sind. Entgegen der Vermutung gibt es die auch in Zehlendorf, Pankow und Charlottenburg.
Der Bedarf an Trägerwohnungen ist in der ganzen Stadt hoch, auch im Wedding gibt es zu wenige Plätze. Dabei geht es um kurzzeitige Krisenintervention (Frauen, Kinder, Geflüchtete, Drogenabhängige usw.), aber auch um längere Wohnzeiten mit Betreuung. Die Wohnungen sind vor allem geschützte Räume für die Betroffenen. Es geht eigentlich nirgendwo darum, dass da irgendwer in eine Nachbarschaft integriert wird – das meiste ist – wie zum Beispiel bei Frauennotwohnungen – auf Zeit. Das Ziel ist, dass die Menschen dann wieder in eigene Wohnungen zurück können.
Der Grund für die Wahl des Grundstückes im Soldiner Kiez ist die Verfügbarkeit. Das Grundstück war in öffentlicher Hand und konnte leicht an das städtische Wohnungsunternehmen degewo übertragen werden. Ich habe das Projekt von fast Anfang an als Journalistin begleitet und kenne viele Beteiligte. Daran, dem Soldiner Kiez irgendwas überzubraten und etwas auszunutzen, hat niemand gedacht. Es ist eher genau andersherum. Viele, die sich mit der Materie und der Situation im Kiez auskennen (also vor allem soziale Träger aus dem Wedding/Gesundbrunnen), haben den Eindruck, dass dem Kiez da mal etwas Gutes getan wird.
Es wäre gut, wenn das Modelprojekt anderswo in Berlin auch umgestetzt werden könnte. In Köpenick passiert das ja nächstes Jahr schon.
Ich stimme Ihnen zu und fürchte, dass mit dem Projekt die Probleme im Kiez eher noch zunehmen könnten!