Viele Dinge sind komplexer als sich auf den ersten Blick erahnen lässt. Ein Beispiel dafür ist die Nachwahl für den im September abgesetzten Bezirksbürgermeisters Stephan von Dassel. Sein Abgang hat eine Kette von Entscheidungen nach sich gezogen. Unter anderem gab es in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) gestern zwei Nachwahlen. Neue Bürgermeisterin ist nun Stefanie Remlinger und Dr. Maja Lasić ist neue Stadträtin.
32 der 43 anwesenden Verordneten für Stefanie Remlinger
Die Bezirksverordneten haben Stefanie Remlinger von den Grünen gestern Abend (20.10.) zur neuen Bürgermeisterin in Berlin-Mitte gewählt. 32 Ja-Stimmen standen zehn Nein-Stimmen und eine Enthaltung gegenüber. Ein für BVV-Verhältnisse ordentliches, wenn auch kein überwältigendes Ergebnis. Die Wahl war auf Antrag der CDU geheim.
Für Historiker: Sie ist die zweite Frau in dem höchsten politischen Amt nach Erika Heß (SPD), die im Wedding von 1981 bis 1986 regierte. Die alten Bezirke Tiergarten und Mitte hatten nie eine Frau im Amt der Bürgermeisterin.
Aufgrund einer Corona-Erkrankung schaltete Stefanie Remlinger sich digital zur Wahl-Sitzung zu. Mit deutlich hörbar angekratzter Stimme dankte sie den Verordneten und mahnte: “Gegen alle Zweifler und Montagsdemos – seien Sie selbstbewusst”. Die BVV sei der Ort, in der über Konflikte gesprochen wird und in der Lösungen entwickelt würden. Es gebe mehr, was die Menschen verbindet als sie trennt. So fänden laut Umfragen 79 Prozent der Menschen die ungleichen Einkommens- und Vermögensunterschiede ungerecht und 75 Prozent machten sich Sorgen über den Klimawandel und 84 Prozent fänden Menschen mit geändertem Geschlecht normal. “Deshalb geht es um das Wie” und weniger um die Unterschiede, so die neue Bezirksbürgermeisterin in ihrer ersten Rede.
33 Stimmen für Dr. Maja Lasić
Nötig wurde auch die Wahl eines neuen Stadtrats für Schule und Sport. Bisher hatte Stefanie Remlinger dieses Amt inne. Doch aus rechtlichen Gründen darf sie als Bezirksbürgermeisterin nicht auch für Schule Verantwortung tragen. (Kultur und Weiterbildung wird sie behalten). Und dies, obwohl es ihr nach eigener Aussage schwerfalle, die Verantwortung für den Bereich Schule aufzugeben. Das Vorschlagsrecht für das Amt fiel der SPD zu, obwohl der Posten bisher in Verantwortung der Grünen lag. Grund ist, dass Ingrid Bertermann im Frühjahr von der Fraktion der Grünen zu den Linken wechselte. Damit verschob sich die Zusammensetzung der BVV. Weil nicht das Wahlergebnis direkt die Verteilung der Stadträte pro Partei bestimmt, sondern die Aufteilun indirekt über die Zusammensetzung der BVV geschieht, erhält die SPD einen Stadtratsposten mehr als bislang.
Die SPD schlug Dr. Maja Lasić vor und 33 Bezirksverordnete stimmten ihr zu. Acht stimmten in der geheimen Wahl gegen sie und zwei enthielten sich.
In ihrer Ansprache erwähnte Dr. Maja Lasić die Anna-Lindh-Grundschule, das leerstehende Schulgebäude des Ex-Diesterweg-Gymnasiums im Brunnenviertel und die ausstehende Sanierung der Ernst-Reuter-Oberschule. “Die Verzahnung von Bezirkspolitik mit Landespolitik ist essenziell”, sagte die neue Stadträtin. Sie sei an einem guten Zusammenspiel von Bezirk und Land interessiert. Der Auffassung, “richtige” Bildungspolitik würde im Land gemacht und im Bezirk gehe es nur um Beton, trat Dr. Maja Lasić entgegen. In Bezirkshand liege, wie viele Gemeinschaftsschulen es gibt, wie es mit der Öffnung der Schulen in die umgebende Stadtgesellschaft vorangeht oder ob mehrere Schulen einen Campus bilden.
Innerhalb der SPD hatte sich auch Anab Awale beworben, als Stadträtin aufgestellt zu werden. Bei einer parteiinternen Versammlung nur einen Tag zuvor (19.10.) entschied sich die SPD für Dr. Maja Lasić.
Nebeneffekt: Vorsteherin Jelisaweta Kamm geht 2023
Im Zusammenhang mit dem Abgang von Stephan von Dassel steht eine weitere Personalie. Grüne und SPD haben vor kurzem ihre Zählvereinbarung (eine Art Koalitionsvertrag) in wenigen Punkten geändert. Die Änderung war nötig aufgrund des oben beschriebenen Wechsel des Stadtratspostens von den Grünen zur SPD. Die SPD nutzte die Neuverhandlungen dazu, um die Amtszeit der derzeitigen Vorsteherin Jelisaweta Kamm zu verkürzen. Ab September 2023 wird die SPD den Vorsteher stellen. Dieser leitet die BVV-Sitzungen. Dieses mit wenig Macht und dafür mit ein paar Gramm Prestige ausgestattete Amt hatten SPD und Grüne bereits von 2016 bis 2021 geteilt. Auf Sascha Schug (SPD) folgte in der zweiten Halbzeit Frank Bertermann (Grüne).
Zwischenspiel für Ephraim Gothe endet
Bislang lediglich von Insidern vermerkt wurde, dass Stadtrat Ephraim Gothe für fast zwei Monate an der Spitze des Bezirks stand. Er führte als stellvertretender Bürgermeister die Amtsgeschäfte nach der Abwahl Stephan von Dassels. Stellvertreter ist der SPD-Politiker Ephraim Gothe weiterhin. Er übergibt aber die Amtsgeschäfte an Stefanie Remlinger.
Nachwahl ist unabhängig von Wiederholungswahl
Im September, mit der Abwahl Stephan von Dassels, war eine weitere Frage nicht absehbar. Diese lautet, ob eine zügige Nachwahl vielleicht voreilig ist. Sebastian Pieper von der CDU wollte deshalb vorsichtshalber die Nachbesetzung mit Dr. Maja Lasić verschieben. Die Bezirkspolitik folgte seinem Antrag nicht und schloss sich der Auffassung an, dass die Wiederholungswahl keine Neuwahl ist. Die Wiederholung der Bundestags- und Berlin-Wahl wird voraussichtlich im Februar stattfinden.
Dem demokratischen Gefühl entgegensteht ein besonderer Effekt. Sehr wahrscheinlich wird es auf Bezirksebene passieren, dass die Wahlwiederholung keinen Einfluss auf die Verteilung der sechs Stadträte hat. Diese sind für eine volle Legislatur gewählt – also bis 2026. Die laufende Legislatur bleibt von der Wiederholungswahl im Februar unberührt. Zumindest, falls Gerichte zwischenzeitlich nicht anderes entscheiden und die Wiederholungswahl doch noch als Neuwahl ansehen.
Kommt es im Februar zu neuen Kräfteverhältnissen in der Bezirksverordnetenversammlung, blieben Mittes sechs Stadträte voraussichtlich dennoch im Amt. Was auf den ersten Blick überrascht, hat ein Vorbild in der jüngeren Vergangenheit. Obwohl ein Fraktionsmitglied von den Grünen zu den Linken gewechselt war, blieben die kurz zuvor neu gewählten Stadträte im Amt. Die Änderung der Fraktionsstärken hatte keinen Einfluss auf die amtierenden Stadträte.
Dies galt zumindest bis zu dem Moment, in dem eine Nachwahl des Bürgermeisters nötig wurde. Erst in diesem Augenblick wurde die Zahl der Verordneten entscheidend. Nun wurde relevant, dass den Grünen nicht mehr drei, sondern zwei Stadträte zustehen (und der SPD nicht bloß einer, sondern zwei). Aber das ist höhere Wahl-Arithmetik und steht deshalb am Ende dieses Beitrages.