Blauer Himmel, Sonnenschein. Die Welt ist da, um sie zu umarmen. Ich sitze vor meinem Natürlich-Bio-Laden in der Kameruner Straße, mit einem Kaffee, der hier ausdrücklich Espresso mit Milch heißt und nicht Latte Macchiato, weil man ja der Gentrifizierung keinen Vorschub leisten will. Dabei lese ich die taz, die und versinke in Nostalgie: 35 Jahre Mai-Krawalle in Kreuzberg.
Nicht, dass ich jemals dabei gewesen wäre. Maximal zum MyFest in Kreuzberg habe ich es mit meiner Tochter mal geschafft. Aber das war vor Corona. Soll ich morgen, an diesem herrlichen Maisonntag wirklich wieder auf die Straße? Genug Gründe dafür gäbe es ja, aber…. Träge schaue mir die Demo-Routen fürs Wochenende an. Die traditionelle revolutionärer Erster Mai-Demo in Kreuzberg läuft diesmal unter der Parole: “Yallah Klassenkampf!“ Das ist mir zu weit weg. Aber auch im Wedding gibt es was. Von der Badstraße geht eine Fahrraddemo ab mit dem schrägen Ziel „Die Grunewalder:innen abholen – Die Umverteilung auf die Kette kriegen”. Was hab ich aus dem Wedding mit Grunewald zu tun, frage ich mal ganz ehrlich. Und zur Frauendemo „Take Back the night – FLINT*only” bin ich ausdrücklich nicht eingeladen. Also entscheide mich bequem für die 1. Mai-Demo des DGB am Brandenburger Tor, weil das nahe dran ist am Wedding und ich da mit meinen Kolleginnen und Kollegen Franziska Giffey ausbuhen kann. Wie schön, wenn sich der Kampf gegen die Langeweile und der Kampf für das Gute in der Welt so wunderbar verbinden lassen. Aber erstmal muss ich meinen Hintern hochkriegen und meine Wochenendeinkäufe nach Hause bringen. Meine Fahrradtasche ist vollgestopft mit besten Bio-Sachen aus dem Laden und sogar zur angesagten Hansi-Bäckerei in der Tegler Straße habe ich es geschafft und einen Laib des begehrten Hansi-Brots ergattert.
Also genug Frischluft, zurück nach Hause. In routinierter Virtuosität balanciere ich mein Fahrrad mit der seitenlastigen Packtasche durch die schwere Gründerzeit-Holztür und bleibe ernüchtert stehen: Quer vor mir steht ein leerer Supermarkt- Einkaufswagen von Kaufland. Normalerweise stehen die immer draußen auf dem Gehweg, gefüllt mit irgendwelchem Unsäglichen, gammeln sie da ein paar Wochen vor sich hin, bevor sie dann so plötzlich verschwinden wie sie aufgetaucht sind. Ich weiß nicht, wer sie herschiebt, ich weiß nicht, wer sie abholt. Ich hab wechselweise die Alkis von der Trinker-Bude, die Türken- Jungs aus der Shisha-Bar oder die Kiffer vom Kinderspielplatz im Verdacht. Ist mir aber eigentlich auch immer egal gewesen, solange der Mist draußen vor sich hin gammelte. Aber jetzt fühle ich, dass es Zeit ist, die Sache in die Hand zu nehmen. Zum ersten Mai muss die Welt nicht nur im großen, sondern auch im kleinen zu einer besseren Welt gemacht werden! Bürgersinn regt sich in mir. Das Ding muss raus, bevor die halbe Hausgemeinschaft ihren Sperrmüll da rein wirft. Draußen auf der Straße ist das mit dem Müll ja ok, das schreckt die Schnösel ab, die die Mieten hier hochtreiben wollen. Aber hier, in meinem Hausflur – da ist die Grenze klar überschritten.
Ich wuchte mein Rad auf den wackligen Ständer, schnappe mir das rappelnde Elendsgestell, und stehe schon halb damit in der Tür, als zwei erschreckte junge Frauen, na eher noch Mädchen, die Treppe runter kommen. „Entschuldigung, Entschuldigung, wir hatten den Wagen nur mitgenommen, weil es uns zu schwer war, die Sachen vom Supermarkt heim zu tragen.“, jammern sie. Und ich weiß nicht, was mich mehr ärgert: Dass ich jetzt als Blockwart die Erstsemester-Mädchen zurechtweise, die, gerade dem behüteten Elternhaus entflohen, gleich beim ersten Mal erwischt werden, an dem sie versuchten, ein bisschen den Berliner Lebensstil anzunehmen. Oder ärgere ich mich, dass meine Feindbilder durcheinander geraten? Bevor ich mir darüber klar werden kann, gibt’s ein dumpfes, klirrendes Geräusch Mein Fahrrad liegt auf der Seite wie ein sterbendes Pferd. „Der Apfelsaft!“, denke ich, der ökologisch korrekt in einer gläsernen Pfandflasche gekaufte Apfelsaft – und vielleicht auch noch die Eier. An die Tomaten will ich gar nicht erst denken. Die Mädchen schaffen den Einkaufswagen vor die Tür, und ich stelle mir die Matsche vor, die sich jetzt in meiner Tasche breit macht. Zum Glück ist sie wasserdicht – auch von innen.
Oben angekommen schütte ich meine Einkäufe in die Dusche, rette was zu retten ist und ändere meine Pläne für’s Abendessen: Es gibt Rührei. Dann habe ich morgen auch genug Kraft, um „Brüder zur Sonne zur Freiheit“. zu singen.