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Berlin – Ukraine:
Eine Reise gegen die Ohnmacht – Teil 1

Irgendetwas muss ich tun gegen die Gefühle des Entsetzens, der Hilflosigkeit, der Empörung - das dachte der in Berlin Wedding lebende Fotograf Tilman Vogler seit Tagen und machte sich auf den Weg. Zunächst an die deutsch-polnische, dann weiter bis zur ukrainischen Grenze. Für den Weddingweiser berichtet er in Text und Bild von seinen Beobachtungen.
3. März 2022

Tag 1 – Sonntag, 27.02.2022

Sonn­tag­mor­gen. Früh­lings­wet­ter in Ber­lin. Krieg in Kyiv. Es fällt mir schwer damit umzu­ge­hen, was pas­siert. Ent­set­zen, Hilf­lo­sig­keit, Wut. Ich ver­spü­re seit Tagen ein star­kes Bedürf­nis etwas zu tun und tref­fe den schon zuvor schwe­len­den Ent­schluss los­zu­fah­ren. Packe Kame­ras und eini­ge war­me Kla­mot­ten ein, schwin­ge mich aufs Motorrad.

Schon im Süden der Stadt ver­lässt mich die Son­ne und der immer stär­ker wer­den­de Nebel lässt die Fahrt gerät zu einem kal­ten, ja etwas bedrü­cken­dem Unter­fan­gen wer­den. Ähn­lich ent­wi­ckelt sich mein mög­li­cher­wei­se etwas nai­ver Plan, spon­tan mit Flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne spre­chen zu können.

Die Erst­auf­nah­me­stel­le für Flücht­lin­ge in Eisenhüttenstadt.

Als ich an mei­nem Ziel Eisen­hüt­ten­stadt ankom­me, ste­he ich vor ver­schlos­se­nen Türen: die Zen­tra­le Erst­auf­nah­me­stel­le für Flücht­lin­ge Bran­den­burgs ist ein umzäun­ter Kom­plex. Das Secu­ri­ty-Per­so­nal ver­weist mich ans Innenministerium.

Ernüch­tert fah­re ich zurück nach Frank­furt (Oder) und dann über die Stadt­brü­cke nach Słu­bice. Life as usu­al: die Stra­ßen sind bei der Käl­te weit­ge­hend leer­ge­fegt. Men­schen sit­zen in Cafés. Auch ich gön­ne mir einen wär­men­den Tee und ent­schei­de dann, die Nacht eine hal­be Stun­de hin­ter der Gren­ze auf dem Land zu ver­brin­gen. In der Däm­me­rung fah­re ich über Land­stra­ßen, durch klei­ne Dör­fer mit holp­ri­gen Pflas­ter­stra­ßen, qual­men­den Schorn­stei­nen und halb-ver­las­se­nen Gehöf­ten. Ich ver­brin­ge den Abend mit Recher­che und trin­ke hei­ßes Was­ser (mehr bie­tet die Tee­kü­che nicht).

Stra­ße in der Nähe von Gąd­ków Wielki.

Tag 2 – Montag, 28.02.2022

Mit­hil­fe einer Über­set­zungs-App kann ich eini­ge Wör­ter mit mei­ner Gast­ge­be­rin aus­tau­schen und gelan­ge an einen Kaf­fee. In der Mor­gen­son­ne sit­zend rufe beim Bran­den­bur­ger Innen­mi­nis­te­ri­um an, wer­de dort an die Kom­mu­ne ver­wie­sen, dann an den Land­kreis, dann wie­der ans Innen­mi­nis­te­ri­um. Schließ­lich erhal­te ich den Hin­weis, ich möge bit­te eine E‑Mail mit mei­nem Vor­ha­ben und Redak­ti­ons­auf­trag schi­cken. Es hilft alles nichts, eini­ge Stun­den spä­ter heißt es: „Wie ich Ihnen bereits am Tele­fon sag­te, bit­ten wir um Ver­ständ­nis, wenn wir Dreh­ge­neh­mi­gun­gen auf der Lie­gen­schaft der Zen­tra­len Aus­län­der­be­hör­de der­zeit nicht ertei­len kön­nen. Wir bewer­ten die Lage aber fortlaufend.“

Links: Ein klei­nes Dorf in Polen nahe der deut­schen Gren­ze. Rechts: Jun­ge Wehr­dienst­leis­ten­de in Rzepin.

Inzwi­schen bin ich zurück über die Gren­ze gefah­ren, zum Bahn­hof in Frank­furt (Oder). Auf dem Weg begeg­ne­te ich beim Früh­stück an einem Super­markt jun­gen pol­ni­schen Wehr­dienst­leis­ten­den. So wie spä­ter im Lau­fe des Tages, als ich einen Mili­tär­las­ter und einen Pan­zer auf einem Trans­port­fahr­zeug sehe, läuft mir ein Schau­er den Rücken her­un­ter. Ich erin­ne­re mich noch, wie mir als Kind die­ser Anblick jedes Mal so fremd und absurd vor­kam. War­um hier, mit­ten in Euro­pa, wo wir über jede Gren­ze fah­ren kön­nen so oft und wann wir wol­len? Sehr bewusst und froh neh­me ich wie­der­um wahr, wie unspek­ta­ku­lär Men­schen über die Oder­gren­ze schlendern.

Links: Soli­da­ri­täts­be­kun­dung vor einem Super­markt in Słu­bice. Rechts: Polizeibeamt*innen beglei­ten Flücht­lin­ge auf die  Wache zur Kon­trol­le der Personalien.

Am Bahn­hof tref­fe ich tat­säch­lich eini­ge Flücht­lin­ge. Viel mehr als 20–30 sind es nicht. Helfer*innen sehe ich kei­ne. Die Poli­zei gelei­tet eini­ge von ihnen auf die Wache, um die Per­so­na­li­en zu prü­fen. Ande­re sit­zen in der Bahn­hofs­hal­le und war­ten. Ich spre­che sie an und erfah­re, dass vie­le von ihnen nicht wis­sen, wie sie wei­ter­kom­men kön­nen. Mit ukrai­ni­schem Pass oder Visum soll­ten und schei­nen sie kei­ner­lei Pro­ble­me mit der Ein­rei­se in Deutsch­land zu haben und Fern­zü­ge dür­fen sie ja nach der Ent­schei­dung der Deut­schen Bahn kos­ten­los nut­zen. Regio­nal­bah­nen zu die­sem Zeit­punkt aller­dings nicht.

Flücht­lin­ge war­ten am Bahn­hof Frank­furt (Oder).

Ich fan­ge an, ihnen am Ticket­au­to­ma­ten Ver­bin­dun­gen aus­zu­dru­cken, die nur ICE/IC/EC ent­hal­ten und ver­su­che, ihnen auf Eng­lisch oder Fran­zö­sisch (eini­ge der Flücht­lin­ge kom­men ursprüng­lich aus afri­ka­ni­schen Län­dern) die­ses Sys­tem zu erklä­ren. Vie­le haben kon­kre­te Rei­se­zie­le wie Ber­lin, Dort­mund, Hei­del­berg, Frank­furt am Main, weil sie Fami­lie, Freun­de oder Bekann­te in diver­sen Städ­ten haben. Die­se Ver­bin­dun­gen zu kon­kre­ten Orten erklä­ren wohl auch, war­um die Erst­auf­nah­me­stel­le laut Medi­en bis­her nicht vie­le Ankom­men­de vermeldet.

Links: Flücht­lin­ge beim Ver­such sich mit dem WLAN im Bahn­hof zu ver­bin­den. Rechts: Fahrkartenautomat.

Die meis­ten der Flücht­lin­ge, nicht alle, wir­ken rela­tiv gefasst. Viel­leicht kommt das aber auch ein­fach von der Müdig­keit. Die Kom­mu­ni­ka­ti­on ist kei­nes­wegs ein­fach, aber ich spü­re Dank­bar­keit und Erleich­te­rung – auch als ich immer wie­der erklä­re, wie man sich in das WLAN der Deut­schen Bahn ein­loggt (man erin­ne­re sich an den berüch­tig­ten Log­in-Bild­schirm, der manch­mal gar nicht oder auch ger­ne nur auf Deutsch erscheint) und die Han­dys vol­ler ver­pass­ter Nach­rich­ten klingeln.

Desti­ny, 25.

Einen von ihnen, Desti­ny (25), der ursprüng­lich aus Nige­ria kommt, beglei­te ich zum Zug. Er erzählt, dass er in sei­nem Hei­mat­land Poli­zist gewe­sen sei, vor Gewalt flüch­te­te und seit eini­gen Mona­ten in Kyiv lebe. Wir ver­ste­hen nicht alles, was wir uns gegen­sei­tig sagen, aber was ich sicher ver­ste­he: dass er Gewalt und Tod in der Ukrai­ne erlebt hat und seit Tagen mit schwe­ren Kof­fern unter­wegs ist. Er lehnt dan­kend ein Stück Scho­ko­la­de ab, weil er, wie er mit einem hei­te­ren Gesichts­aus­druck sagt, bei der Ankunft in Polen mit Essen, Süßig­kei­ten und Geträn­ken über­häuft wurde.

Links: Desti­ny zeigt sei­ne schmer­zen­de Hand, nach­dem er seit Tagen schwe­res Gepäck trägt. Rechts: Desti­ny besteigt den EC in Rich­tung Berlin.

Nach­dem sein EC nach Ber­lin abge­fah­ren ist und auch in der Bahn­hofs­hal­le nicht mehr vie­le War­ten­den sit­zen, fra­ge ich mich: was jetzt? Ich ent­schei­de, ich muss wei­ter und schwin­ge mich aufs Motor­rad, fah­re auf die Auto­bahn A2 gen Osten. Nun sit­ze ich in Łódź und weiß zwar, wohin mich mei­ne Rei­se als nächs­tes füh­ren wird: in die Grenz­re­gi­on zur Ukrai­ne. Aber was mich dort genau erwar­tet und wie lan­ge ich wo unter­wegs sein wer­de, weiß ich nicht. Manch­mal fra­ge ich mich, war­um ich das über­haupt tue. Was bringt das? Sind nicht genug Medi­en und Hel­fen­de vor Ort? Zumin­dest heu­te am Bahn­hof in Frank­furt (Oder) habe ich gemerkt, dass der Ein­druck manch­mal täu­schen kann und es nicht scha­det es ein­mal zu probieren.

Tank­stel­le an der Auto­bahn A2 in Rich­tung Warschau.

Tag 3 – Dienstag, 01.03.2022

Es ist Abend. Ich befin­de mich etwa 50 Kilo­me­ter vor der ukrai­ni­schen Gren­ze in einem Hotel. Drau­ßen bewegt sich das Ther­mo­me­ter um den Gefrier­punkt. Im Hotel­re­stau­rant läuft Fahr­stuhl­mu­sik. Eini­ge Leu­te sit­zen an ihren Tischen. Das Leben hier scheint sei­nen gewohn­ten Gang zu gehen. Ich den­ke an den Tag zurück.

Links: Fuß­gän­ger­über­weg. Rechts: Tank-Stopp.

Ich mache mich am spä­ten Vor­mit­tag in Łódź auf den Weg. Tank­stel­le, Bäcke­rei, die übli­chen Stops. Über eine Land­stra­ße fah­re ich zur Auto­bahn. In der ers­ten Stun­de um War­schau sehe ich zunächst einen Pan­zer auf einem LKW, dann eini­ge Mili­tär-Tank­las­ter, dann Mili­tär-Trans­por­ter. Nach einem Dut­zend höre ich auf zu zäh­len. Es wirkt dann schon nor­mal. Aber noch immer unbe­hag­lich. Tat­säch­lich sehe ich im Lau­fe des Tages wider Erwar­ten nicht viel mehr.

Bei stun­den­lan­gen Fahr­ten, allei­ne auf dem Motor­rad, immer das glei­che Dröh­nen in den Ohren, hat man reich­lich Zeit zum Nach­den­ken. So mache ich, was ich schon als Kind ger­ne mach­te: Num­mern­schil­der lesen, wobei mei­ne Kennt­nis­se der pol­ni­schen Geo­gra­phie kaum aus­rei­chen, um Regio­nen und Städ­te zu erra­ten. Immer wie­der neh­me ich auch in mei­ne Rich­tung fah­ren­de ukrai­ni­sche Autos und Trans­por­ter wahr. Ich fra­ge mich, ob sie zur Gren­ze zurück­fah­ren um Men­schen abzu­ho­len. Oder ob Men­schen dar­in sit­zen, die in die Ukrai­ne fah­ren, um zu kämp­fen. Ich weiß es nicht. Die Gedan­ken schwei­fen immer wie­der auf die­ses eine The­ma und die Nach­rich­ten der letz­ten Tage und Stun­den. Der Him­mel ist den gan­zen Tag strah­lend blau. Wie sieht er wohl eini­ge hun­dert Kilo­me­ter von hier aus? Rake­ten in Kyiv.

Der Him­mel bei Lublin. 

Ver­brann­ter Geruch liegt über der Auto­bahn bei Lub­lin. Feu­er­wehr mit Blau­licht über­holt mich. Ich habe kei­nen blas­sen Schim­mer, was vor sich geht, aber erwi­sche mich, bei jeder „Klei­nig­keit“ in Kata­stro­phen­sze­na­ri­en zu den­ken. Ges­tern Nacht im Halb­schlaf pas­sier­te ähn­li­ches, als die seich­ten Träu­me in unan­ge­neh­me Rich­tun­gen gin­gen. Was kommt als nächstes?

Links: Jedes zwei­te gepark­te Auto hat ein ukrai­ni­sches Kenn­zei­chen. Rechts: Nach Tan­zen ist mir nicht zumute.

Fort­set­zung (Teil 2)

Unter die­ser Sei­te haben wir ein paar Infor­ma­tio­nen zusam­men­ge­stellt, wie man von Ber­lin und Wed­ding aus hel­fen kann. Die Sei­te wird nach und nach befüllt.

Tilman Vogler

Tilman Vogler lebt und arbeitet als Fotograf in Berlin Wedding. Mit einem Hintergrund in Politikwissenschaften interessiert er sich für gesellschaftspolitische und persönliche Themen - am liebsten in Form von tagebuchartigen Fotoessays und Dokumentarfotografie.

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