Er ist auf der Suche nach s(einer) deutschen Identität – mithilfe von Schnappschüssen seiner Handykamera, die ihm ganz plötzlich und zufällig ins Auge springen, immer und überall. Als Kulturwissenschaftler hat Lukas Lassonczyk einen besonderen Blick für den Wedding und als polnischer Einwanderer macht er sich seine eigenen Gedanken über den Wedding und für den Weddingweiser. Wir haben uns in seiner Lieblingsbar getroffen.
Lukas bleibt in der Hektik des Alltags einfach stehen, nimmt sich die Zeit hinzusehen, weil ihm die einfachsten Motive mit einem Augenzwinkern begegnen. Es sind die Albernheiten, die ihn reizen: „Ach, Deutschland, würdest du dich manchmal nur auch so goldig finden…“. Die Motive seiner Bilder sind uns vertraut. Und doch offenbaren sie Neues, weil sie das Unsichtbare im Alltag sichtbar machen. Lukas ist in Polen geboren und obwohl in Deutschland aufgewachsen, fühlt er sich wie ein Tourist im eigenen Land. Er lebt im Dazwischen, sucht seine Identität, die deutsche Identität. Und er lässt uns teilhaben, lädt ein, in seine Tagebücher zu schauen, den German Diaries. Und er lässt uns nachdenken über Herkunft, Alltag und den Umgang mit beidem.
Lukas, seit wann lebst du im Wedding?
Ich wohne hier erst seit einem halben Jahr in der Maxstraße. Ich habe in Marburg Kulturwissenschaften studiert und bin dann, weil mir die Arbeit ausging, sehr spontan in den Wedding gezogen. Eine der wichtigsten Impulse war, dass hier die Musikszene ist, die mich interessiert. Ich bin nebenbei Musikblogger und genieße hier das musikalische Leben, die Konzerte und Bands. Und ich muss feststellen, dass ich mich nach so kurzer Zeit schon sehr wohl fühle. Das passt so zu mir. Und das passt auch, um ein Lebensgefühl zu entwickeln, weil ich im Wedding immer wieder merke, dass es nicht der geilste Kiez der Stadt ist. Und ich mag die Underdogs und ich mag den Wedding als Noch-Underdog.
Was findest du goldig am Wedding?
Ich mag, dass ich hier rausgehe und nicht an jeder Ecke eine geile Bar sehe, die die Angesagteste dieser Stadt ist. Und ich mag dieses Brodeln und dieses ´Mal-sehen-was-passiert‘ an Wedding. Ich mag, dass ich hier in die Moritzbar gehen kann und jederzeit nette Leute treffe. Die Inhaber Lukas und Kilian sind die freundlichsten Brüder des Weddings, nette Kerle. Ich mag, dass im Krematorium jetzt eine Galerie aufmacht. Ich mag das Mastul und seine Ausstellungen. Und man glaubt es kaum, aber der Magendoktor hat seinen Charme. Neulich kam ich morgens am Magendoktor vorbei und da ist was Unfassbares passiert: Da waren die Jalousien unten und alles war verrammelt! Gerade als ich vorbeikam, kam ein Typ von einer Security-Firma, der wissen wollte: „Warum ist der Magendoktor nicht offen? Was hängt schief im Hause Wedding?“. Ich musste weiter, aber abends war wieder alles wie früher, gut so! Solange es dem Magendoktor gut geht, lebt der Wedding.
Ich mag den Schriftzug LEOPOLDPLATZ aus Betonelementen zum Sitzen am Leopoldplatz. Marketingmäßig hat das keine Bedeutung, ein ästhetischer Klecks, der kaum zu erkennen ist. Aber auf dem Schriftzug LEOPOLDPLATZ, also in seiner materialisierten Form, sitzen halt diese Leopoldplatzpeople. Und die trinken ihr Bier, machen mit ihrem Handy was oder treffen sich einfach. Und ohne, dass sie es merken, sind sie in der materialisierten Form des Leopoldplatzes verhaftet. Also manchmal muss man als Bürger nicht gerade wissen, was man tut oder warum man das tut. Aber wenn jemand anderes merkt, ihr lebt gerade den Leopoldplatz, finde ich das schön.
Ich mag, dass unser Späti so früh zu macht. Also eigentlich ist es kein Späti, sondern ein Frühi. Der macht morgens um 6 auf und schließt um 18 Uhr. Das sind zwei Brüder, die den Laden schmeißen. Einer ist sehr freundlich und einer ist sehr mürrisch. Wir fragen in der WG immer: „War Grumpy Cat am Start oder der Nette?“. Aber man weiß, der darf einfach so früh zu machen, weil es einfach der Grumpy-Cat ‑Späti ist. Ich bin nicht mal böse darum.
Ich mag das kroatische Restaurant Dubrovnik am „Nickelbackplatz“ (wir nennen den Nettelbeckplatz in der WG immer nach der Band). Das Dubrovnik mag ich, weil die einfach nett sind und gutes Essen machen und weil es einfach an den Ort passt, an dem es sich befindet.
Und ich mag die Maxgärten, die vor einiger Zeit saniert wurden. Das ist der Hof eines riesigen Häuserblocks mit einem Spielplatz und viel Freiraum. Und der ist immer sehr belebt mit Kinderscharen, die da Fußball spielen, Fahrrad fahren und ihre Konflikte ausleben. Und das erinnert mich immer wieder an meine Kindheit. Ich wuchs auch in einem ethnisch sehr durchmischten Umfeld auf, im sozialen Brennpunkt Koblenz Neuendorf. Und oft denke ich: Diese Situation auf der Schaukel könnten wir vor 20 Jahren sein. Es ist ein sehr willkommenes Déjà vu meiner Kindheit, das ich sehr nachvollziehen kann und wo ich sage: Cool, macht mal weiter!
Würdest du etwas an deiner Umgebung verändern wollen?
Das ist wirklich eine Frage, die ich mir selten gestellt habe. Ich würde so manche Dönerläden schließen, weil viele einfach so schlecht sind. Mir gefällt nicht, wenn eine Lokalität geschlossen ist und da schon wieder ein Casino, ein Shisha- oder ein Dönerladen einzieht. Da denke ich: Oh bitte nicht, wir haben unsere 3000 und bitte mal was Überraschendes. Es ist nicht mal dieser Gentrifizierungsgedanke, den ich habe. Ich habe einfach Angst davor, dass es sich selbst kopiert. Ich mag nicht die Wiederholung von Dingen.
Wer ist dein Lieblingsweddinger?
Es ist die Collage aus den Menschen, ich habe keinen Lieblingsweddinger. Ich könnte einzelne Menschen hervorheben, aber diese Menschen funktionieren nie ohne die Menschen drumherum. Dieses Collagendenken erzeugt eine irreale Person, einen personifizierten Wedding, wie der Spruch ´Der Wedding kommt!‘. Dahingehend kann man sagen, ist der Wedding eine Person mit all seinen Macken und mit all seinen Eigenarten und all seinen liebevollen Eigenschaften. Die Person Wedding ist dein coolster Freund und wenn du ihm zuschaust, wie er seine dümmsten Fehler macht, dann kannst du ihm kaum davon abraten.
Glaubst du, dass es ein Lebensgefühl gibt, dass uns Im-Wedding-Lebende eint?
Es ist immer das, was du draus machst. Das Weddinger Lebensgefühl ist, dass ich die Antonstraße entlanglaufe und an tausenden Hundehäufchen vorbeigehe. Und natürlich ärgert mich das, aber am Ende denkst du: Ja, es ist halt die Antonstraße, ist cool. Soll so bleiben. Und dann auch dieser Nickelbackplatz, der das größte Potpourri des Weddings verspricht: Du hast den Markt, da ist dieser Tuchhändler, du hast diese willkürliche Ansammlung von Leuten, die einfach morgens um 10 ein Bier trinken wollen, du hast die verschiedensten Ethnen, du hast den Dönerladen, der scheint 25 Stunden offen zu haben. Dann der Magendoktor, der wirklich 24 Stunden offen hat. Und halt auch so eine gewisse „Scheiß-Drauf-Attitude“, wir sind halt hier, wir müssen nicht auf Touristen achten oder auf Leute, vor denen wir uns verstellen müssen. Da gibt es ja dieses Label Bitch Wedding, was ja auch geboren ist aus einem Geist, der den Wedding betrifft und die auch ja ein bisschen auf Straßenhärte tun. Ich fühle mich sehr sicher im Wedding. Und dann wurden die Klamotten von denen in so einem Späti am Nickelbeckplatz verkauft und ich fragte den Spätibesitzer nach dem Grund, warum er Klammotten verkauft. Und er sagte zu mir: „Ey klar, im Wedding muss was gehen. Klar verkaufe ich Klamotten, wir müssen was bewegen Junge!“. Und da dachte ich, welcher andere Späti verkauft denn Klamotten in Berlin. Im Wedding passiert das halt. Der Wedding wirkt rau, aber er ist es nicht. Die Herzlichkeit kommt nach dem Touristentum eines Bargängers, der nur mal für einen Abend hier reinschnuppert.
Wie lässt sich das Weddinger-Lebensgefühl also für dich zusammenfassen?
[Es ist spät geworden in der Moritzbar. Lukas leert sein letztes Bier und überlegt…]
Es gibt da ein Theaterstück namens Wedding. Es spielt ohne Pointe. Alle Zuschauer könnten befreundet sein, denn alle sitzen sie im gleichen Theater. Aber jeder interpretiert das Stück anders.
Danke an Lukas Lassonczyk für das Interview! Hier gehts zu seinem Blog The German Diaries oder auf facebook
Was, der Magendoktor hatte zu? Das muss das erste Mal seit 1974 gewesen sein. Laut Tresenkraft gibt es ja nicht mal mehr einen Schlüssel für den Laden …
Whow, toller Schlusssatz!