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Autogerechte Stadt:
Das Weddinger Kreuz

Eine Autobahn quer durch den schönen Sprengelkiez und am Volkspark Rehberge entlang - das wäre um ein Haar Realität geworden. Warum diese Pläne am Ende doch scheiterten.
24. Juli 2021
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Heu­te erscheint uns das absurd, aber wenn die Ber­li­ner Auto­bahn­pla­nun­gen der 1960er-Jah­re voll­endet wor­den wären, hät­te es mit­ten im Wed­ding ein Auto­bahn­kreuz gege­ben. Man­che Kieze wären bis zur Unkennt­lich­keit zer­schnit­ten, man­che Grün­flä­che und Gar­ten­an­la­ge ein­ge­eb­net wor­den. Und auch sonst wäre es mit der Lebens­qua­li­tät an man­chen Orten im Wed­ding vor­bei gewesen. 

Foto: Bür­ger­initia­ti­ve Westtangente

Die A 103 wur­de in ihrem Süd­ab­schnitt zwi­schen Ste­glitz und Schö­ne­berg tat­säch­lich rea­li­siert. Sie hät­te ab dem Schö­ne­ber­ger Kreuz (1968 fer­tig­ge­stellt) als “West­tan­gen­te” 8 Kilo­me­ter lang quer durch die dicht besie­del­ten Tei­le Schö­ne­bergs, den Gro­ßen Tier­gar­ten, den Ost­rand Moa­bits und den west­li­chen Wed­ding ent­lang­füh­ren sol­len. Zwi­schen Kurt-Schu­ma­cher-Damm und der Anschluss­stel­le Eich­born­damm wur­de die Auto­bahn tat­säch­lich auch gebaut, wenn auch nur einen Kilo­me­ter lang. Die­ses Teil­stück (A 105) soll im Zuge der Bebau­ung des Flug­ha­fen­are­als übri­gens zurück­ge­baut wer­den – also ganz verschwinden. 

Wie hät­te die sechs­strei­fi­ge Auto­bahn ver­lau­fen sol­len? Der Tier­gar­ten und der Güter­bahn­hof Hei­de­stra­ße wären sicher kein Hin­der­nis gewe­sen, befand sich die geplan­te Tras­se doch direkt an der Mau­er und war kaum von vie­len Anwoh­nern gesäumt. Auf der Höhe des heu­ti­gen Torf­stra­ßen­stegs wäre die Auto­bahn aber in den dicht­be­sie­del­ten Wed­ding gekom­men und hät­te die brei­te Torf­stra­ße in zwei Hälf­ten zer­schnit­ten. Auf Höhe des U‑Bahnhofs Amru­mer Stra­ße war eine Anschluss­stel­le geplant. Der Bahn­hof wur­de bei sei­nem Bau bis 1961 schon dar­auf aus­ge­legt; daher ist die Decke an sei­ner West­sei­te nied­ri­ger ausgeführt. 

Hier hät­te eine Auto­bahn­brü­cke gebaut wer­den sollen

An der See­stra­ße, an der Kreu­zung Amrumer/Afrikanische Stra­ße, wäre das Auto­bahn­kreuz Wed­ding ent­stan­den. Hier hät­te die Stadt­au­to­bahn, die heu­te etwa einen Kilo­me­ter wei­ter west­lich beginnt, ent­lang­ge­führt. Sowohl die See­stra­ße als auch die Amru­mer Stra­ße wären wohl unbe­wohn­bar gewor­den. Nörd­lich der See­stra­ße war (und ist bis heu­te) rela­tiv viel Platz wegen der Klein­gär­ten und der weni­gen Wohn­häu­ser, die hät­ten wei­chen müs­sen. Direkt am Möwen­see und am Enten­pfuhl hät­te die Auto­bahn den Volks­park Reh­ber­ge gestreift, bevor sie an der heu­ti­gen Juli­us-Leber-Kaser­ne den Kurt-Schu­ma­cher-Damm erreicht hät­te. Dort hät­te sie an das bestehen­de Teil­stück ange­schlos­sen wer­den können. 

Vor der Kaser­ne wäre die Auto­bahn verlaufen

War­um wur­de die Auto­bahn (und vie­le ande­re auch) letzt­lich nicht gebaut? In die­sem Fall haben wir das einer Bür­ger­initia­ti­ve, der BI West­tan­gen­te, zu ver­dan­ken. Im März 1974 ent­stan­den, erreich­te sie die Bil­dung eines Arbeits­krei­ses mit dem Bau­se­na­tor. Statt jedoch Ideen für die Inte­gra­ti­on der Auto­bahn ins Stadt­bild ein­zu­brin­gen, rief die bis zu 200 Mit­glie­der star­ke BI zu deren voll­stän­di­ger Ver­hin­de­rung auf: mit einem Mani­fest (1976), einer Stern­fahrt (1977) und einer Nor­men­kon­troll­kla­ge (1978). Auch wur­de die Bau­stel­le kurz­zei­tig besetzt. 1982 kipp­te das Abge­ord­ne­ten­haus dann die Pla­nung, aber die Tras­se wur­de sicher­heits­hal­ber noch frei­ge­hal­ten. Erst der rot-grü­ne Senat stopp­te die Pla­nun­gen 1989 dann end­gül­tig. Ein Relikt der West­tan­gen­te war aber noch der Bau des 2006 eröff­ne­ten Tier­gar­ten­tun­nels der B96, bei dem die­se Idee aus der West­tan­gen­ten­zeit auf­ge­grif­fen wurde. 

Jetzt ringt die Ber­li­ner Poli­tik um die noch aus­ste­hen­den Bau­ab­schnit­te der Stadt­au­to­bahn A 100, die der­zeit bis zum Trep­tower Park ver­län­gert wird. Der 16. Bau­ab­schnitt wird immer teu­rer und teu­rer (der­zeit rech­net man mit 650 Mil­lio­nen Euro). Ob der 17. Bau­ab­schnitt bis zur Frank­fur­ter Allee jemals gebaut wird, steht in den Sternen. 

Dass der Wed­ding trotz des star­ken Stra­ßen­ver­kehrs noch immer als Stadt­land­schaft wahr­ge­nom­men wird, in der man ange­nehm und oft auch im Grü­nen leben kann, haben wir auch dem Enga­ge­ment der BI West­tan­gen­te zu ver­dan­ken, die uns die Auto­bahn mit­ten im Wed­ding erspart hat. Mit­glie­der der Initia­ti­ve grün­de­ten übri­gens 1985 den FUSS e.V., der bis heu­te die Inter­es­sen der Men­schen zu Fuß ver­tritt und sei­ne Bun­des­zen­tra­le im Wed­ding hat – in der Exer­zier­stra­ße 20.

Auch wenn uns die­se men­schen­feind­li­che Auto­bahn erspart geblie­ben ist: Eine fuß­gän­ger- und fahr­rad­freund­li­che Stadt ist Ber­lin noch immer nicht gewor­den. Die Lan­des- und Bezirks­po­li­tik steht noch immer in der Pflicht, ihr Ver­spre­chen einer Ver­kehrs­wen­de end­lich ein­zu­lö­sen. Stich­wort: Rad­in­fra­struk­tur in der Müllerstraße. 

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

1 Comment Leave a Reply

  1. Inter­es­sant! Haben wir ein Glück heu­te, dass sich damals jemand enga­giert hat… Erst ges­tern hat mir ein Taxi­fah­rer erzählt, dass er sich noch dran erin­nern kön­ne, dass an der Stel­le des Torf­stra­ßen­stegs (die Fuß­gän­ger­brü­cke über den Kanal) frü­her eine Stra­ßen­brü­cke aus Holz stand. Das fand ich schon unvor­stell­bar, dass dort mal Autos rüber­ge­fah­ren sind. Und frü­her war ja auch das für Autos gesperr­te Stück Nord­ufer anschei­nend eine belieb­te Stra­ßen­ab­kür­zung Rich­tung Flug­ha­fen Tegel. Aber eine rich­ti­ge Auto­bahn an der Stel­le – echt unvor­stell­bar heute.

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