Heute erscheint uns das absurd, aber wenn die Berliner Autobahnplanungen der 1960er-Jahre vollendet worden wären, hätte es mitten im Wedding ein Autobahnkreuz gegeben. Manche Kieze wären bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten, manche Grünfläche und Gartenanlage eingeebnet worden. Und auch sonst wäre es mit der Lebensqualität an manchen Orten im Wedding vorbei gewesen.
Die A 103 wurde in ihrem Südabschnitt zwischen Steglitz und Schöneberg tatsächlich realisiert. Sie hätte ab dem Schöneberger Kreuz (1968 fertiggestellt) als “Westtangente” 8 Kilometer lang quer durch die dicht besiedelten Teile Schönebergs, den Großen Tiergarten, den Ostrand Moabits und den westlichen Wedding entlangführen sollen. Zwischen Kurt-Schumacher-Damm und der Anschlussstelle Eichborndamm wurde die Autobahn tatsächlich auch gebaut, wenn auch nur einen Kilometer lang. Dieses Teilstück (A 105) soll im Zuge der Bebauung des Flughafenareals übrigens zurückgebaut werden – also ganz verschwinden.
Wie hätte die sechsstreifige Autobahn verlaufen sollen? Der Tiergarten und der Güterbahnhof Heidestraße wären sicher kein Hindernis gewesen, befand sich die geplante Trasse doch direkt an der Mauer und war kaum von vielen Anwohnern gesäumt. Auf der Höhe des heutigen Torfstraßenstegs wäre die Autobahn aber in den dichtbesiedelten Wedding gekommen und hätte die breite Torfstraße in zwei Hälften zerschnitten. Auf Höhe des U‑Bahnhofs Amrumer Straße war eine Anschlussstelle geplant. Der Bahnhof wurde bei seinem Bau bis 1961 schon darauf ausgelegt; daher ist die Decke an seiner Westseite niedriger ausgeführt.
An der Seestraße, an der Kreuzung Amrumer/Afrikanische Straße, wäre das Autobahnkreuz Wedding entstanden. Hier hätte die Stadtautobahn, die heute etwa einen Kilometer weiter westlich beginnt, entlanggeführt. Sowohl die Seestraße als auch die Amrumer Straße wären wohl unbewohnbar geworden. Nördlich der Seestraße war (und ist bis heute) relativ viel Platz wegen der Kleingärten und der wenigen Wohnhäuser, die hätten weichen müssen. Direkt am Möwensee und am Entenpfuhl hätte die Autobahn den Volkspark Rehberge gestreift, bevor sie an der heutigen Julius-Leber-Kaserne den Kurt-Schumacher-Damm erreicht hätte. Dort hätte sie an das bestehende Teilstück angeschlossen werden können.
Warum wurde die Autobahn (und viele andere auch) letztlich nicht gebaut? In diesem Fall haben wir das einer Bürgerinitiative, der BI Westtangente, zu verdanken. Im März 1974 entstanden, erreichte sie die Bildung eines Arbeitskreises mit dem Bausenator. Statt jedoch Ideen für die Integration der Autobahn ins Stadtbild einzubringen, rief die bis zu 200 Mitglieder starke BI zu deren vollständiger Verhinderung auf: mit einem Manifest (1976), einer Sternfahrt (1977) und einer Normenkontrollklage (1978). Auch wurde die Baustelle kurzzeitig besetzt. 1982 kippte das Abgeordnetenhaus dann die Planung, aber die Trasse wurde sicherheitshalber noch freigehalten. Erst der rot-grüne Senat stoppte die Planungen 1989 dann endgültig. Ein Relikt der Westtangente war aber noch der Bau des 2006 eröffneten Tiergartentunnels der B96, bei dem diese Idee aus der Westtangentenzeit aufgegriffen wurde.
Jetzt ringt die Berliner Politik um die noch ausstehenden Bauabschnitte der Stadtautobahn A 100, die derzeit bis zum Treptower Park verlängert wird. Der 16. Bauabschnitt wird immer teurer und teurer (derzeit rechnet man mit 650 Millionen Euro). Ob der 17. Bauabschnitt bis zur Frankfurter Allee jemals gebaut wird, steht in den Sternen.
Dass der Wedding trotz des starken Straßenverkehrs noch immer als Stadtlandschaft wahrgenommen wird, in der man angenehm und oft auch im Grünen leben kann, haben wir auch dem Engagement der BI Westtangente zu verdanken, die uns die Autobahn mitten im Wedding erspart hat. Mitglieder der Initiative gründeten übrigens 1985 den FUSS e.V., der bis heute die Interessen der Menschen zu Fuß vertritt und seine Bundeszentrale im Wedding hat – in der Exerzierstraße 20.
Auch wenn uns diese menschenfeindliche Autobahn erspart geblieben ist: Eine fußgänger- und fahrradfreundliche Stadt ist Berlin noch immer nicht geworden. Die Landes- und Bezirkspolitik steht noch immer in der Pflicht, ihr Versprechen einer Verkehrswende endlich einzulösen. Stichwort: Radinfrastruktur in der Müllerstraße.
Interessant! Haben wir ein Glück heute, dass sich damals jemand engagiert hat… Erst gestern hat mir ein Taxifahrer erzählt, dass er sich noch dran erinnern könne, dass an der Stelle des Torfstraßenstegs (die Fußgängerbrücke über den Kanal) früher eine Straßenbrücke aus Holz stand. Das fand ich schon unvorstellbar, dass dort mal Autos rübergefahren sind. Und früher war ja auch das für Autos gesperrte Stück Nordufer anscheinend eine beliebte Straßenabkürzung Richtung Flughafen Tegel. Aber eine richtige Autobahn an der Stelle – echt unvorstellbar heute.