Geschichte: Kommunalpolitik war einst die Stärke der SPD. Kommunalpolitik ist in Berlin Bezirkspolitik. Kommunalpolitik, das ist Politik vor Ort. Der Ort ist in Bernd Schimmlers Geschichtsbuch “Zwischen Humboldthain und den Rehbergen” der ehemalige Bezirk Wedding. Und dieser “rote” Ort wurde in den letzten hundert Jahren vor allem von der SPD gestaltet. So ist Bernd Schimmlers Rückblick auf die starken Jahre Sozialdemokratie gleichzeitig ein Blick auf ein Jahrhundert Kommunalpolitik – und somit nicht nur für SPD-Mitglieder interessant. Der Blick zurück mit diesem Buch lohnt sich. Eine Buchempfehlung.
SPD-Parteigeschichte als Geschichte der lokalen Politik
In der “Geschichte der Sozialdemokratie” überwiegt in den fünf Kapiteln die Weddinger Lokalpolitik. Chronologisch erzählt Bernd Schimmler von den Anfängen, von der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, der Nachkriegszeit und der Zeit nach dem Mauerbau. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Erfolgen der SPD als die Partei, die in der Weimarer Republik und nach 1945 mehrere Wahlperioden hintereinander im Bezirk regierte. Das ist zwar nicht einmalig in der Bundesrepublik, aber dennoch nicht alltäglich. Der Wedding ist einer der Fälle, in der die Geschichte einer Partei über weite Teile hinweg eine Geschichte der Gemeinde ist.
Wie sehr die SPD den Wedding prägt, das war schon 1930 deutlich. Nach zehn Jahren sozialdemokratischer Politik fasst ein im Buch abgedruckter längerer Zeitungsartikel der Parteizeitung Vorwärts diesen Einfluss zusammen: Fürsorge, Volksgesundheit, billigstes Volksbad, Beseitigung des Mangels an Grünflächen. Nach dem Krieg ist es der Wiederaufbau und damit die Eröffnungen und Wiedereröffnungen, mit denen die SPD den Wedding voranbringt.
Da der Wedding jahrzehntelang “rot” war, also sozialdemokratische Mehrheiten hatte, brachte er große Persönlichkeiten hervor – oder zog sie an. So gibt es Kapitel über Wilhelm Hasenclever, Erika Heß, Willy Brandt und Otto Suhr. Auch heute nicht mehr bekannte Namen wie Franz Gleinert, Carl Leid oder die Parteilenker, die unter der NS-Zeit litten, holt Bernd Schimmler mit diesem Buch zurück ins Bewusstsein. Diese Kapitel sind die starken des Buches und bilden ein gutes Gegengewicht zu den zahlreichen Wahlergebnissen, die sich vor allem an parteiaktive Leser richten.
Der Buchtitel zwischen “Humboldthain und Rehbergen” mutet auf den ersten Blick wie der Titel einer Parteigeschichte der Grünen an. Tatsächlich aber sind die “wilden Rehberger” im 19. Jahrhundert für Bernd Schimmler der Startpunkt seiner Geschichte der politisch organisierten Arbeitergruppen im Wedding. Und der Humboldthain nahe der Fabriken von AEG und Schwartzkopff war ein Treff- und Startpunkt für Arbeiterdemonstrationen.
Was fehlt
Je näher das Buch sich der Gegenwart nähert, desto nüchterner wird der Text. Andersherum, das Kapitel über die Zeit der Weimarer Republik zählt zu den besten im Buch. Dennoch schreibt Bernd Schimmler im Vorwort, dass hier für Hobby- und Profihistoriker noch einiges zu forschen ist: “Eine umfassende Darstellung der SPD in dieser Zeit, in dem Spannungsverhältnis zwischen Regierungsverantwortung und dem Druck durch die Anhängerschaft der im Wedding sehr starken KPD, fehlt allerdings noch.”
Die Aufforderung Bernd Schimmlers im Kapitel Fazit an seine Partei lautet: Wieder näher an die Menschen ran. Dem letzten Kapitel seines Buches hätte dieses Motto ebenfalls gut getan. So wie er fordert, dass sich SPD-Politiker mehr in Kleingarten- oder Sportvereinen blicken lassen sollten, hätte in seinem Buch ein Mehr zur Diskussion um Flächensanierung versus Kahlschlagsanierung in den 1960er und 1970er-Jahren gut getan. Oder ein Mehr zur Diskussion um Sparzwang und Sparwut in den Nullerjahren. Oder ein Mehr zur Diskussion um Bürgernähe und Bürgerferne bei der Bezirksreform. Denn Politik entscheidet sich vor Ort, die politischen Gremien sind lediglich das Hilfsmittel dazu wie Bernd Schimmler in den Kapiteln davor zeigt.
Das Heute im Gestern
Die SPD unter Druck und dennoch in der Regierung. Das klingt nach ihrer heutigen Situation. In dem Buch mit der Unterzeile “Die Geschichte der Sozialdemokratie im ‘roten Wedding’ von Berlin” schwingen immer wieder Ähnlichkeiten zwischen vergangenen Situationen und heutigen mit. Im Alten finden sich die heutigen Fragen wieder, das steht unausgesprochen zwischen den Zeilen. Der Leser spürt, wie Bernd Schimmler schmunzelt, wenn er schreibt, dass im Jahr 1900 parteiintern Bömelburg gegen Ledebour antrat, um das “Vordringen der Akademiker” zu vermeiden. Die Frage von Nähe und Distanz zwischen Funktionären und Mitgliedern ist in der Partei des kleinen Mannes offenbar so alt wie die Partei selbst. In der Weimarer Republik diskutierten Sozialdemokraten über die “Schwerfälligkeit und Langsamkeit der Verwaltung” und über die “Kosten eines überflüssigen Verwaltungsapparates”. Die Zahl der Bezirke solle reduziert werden, hieß es Ende der 1920er Jahre in der SPD. Ein Ausrufezeichen setzt Bernd Schimmler immer dann gern, wenn es um solche Parallelen zur heutigen Zeit geht. So findet sich ein “!” in einem Teilsatz, der die überraschende Wahl von Joachim Zeller (CDU) zum ersten Bürgermeister des neuen Großbezirks Mitte im Januar 2001 beschreibt: “…eine Zählgemeinschaft von CDU, PDS (!) und Grünen”. In der Tat ist nicht zu übersehen, dass auch heute sich die Linke müht, nicht in der SPD ihren größten politischen Feind zu sehen.
Über den Autor Bernd Schimmler
Bernd Manfred Schimmler, geboren 1949, ist ein Weddinger seit eh und je. 22 Jahre lang war er Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung im Wedding und war dort für einige Zeit Fraktionsvorsitzender. Als Stadtrat war er zuständig für Volksbildung und später für Kultur. 2016 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seine ehrenamtliche Arbeit. Seit vielen Jahren ist Bernd Schimmler Vorsitzender des Weddinger Heimatvereins. Der Geschichtsverein gibt die Panke Postille heraus. Es gibt nur wenige Kenner der Weddinger Geschichte wie ihn. Noch heute lesenswert sind die Bücher “Der Wedding. Ein Bezirk zwischen Tradition und Fortschritt” von 1985 und “Die Stimmung der Bevölkerung und politische Lage: Die Lageberichte der Berliner Justiz 1940–1945” von 1986.
Über die Weddingbücher des Walter Frey Verlags
Nimmt man den Spruch Support Your Local ernst, dann ist ein Abo der Buchreihe des Walter Frey Verlages für jeden Weddinger Pflicht. “Zwischen Humboldthain und den Rehbergen” ist der sechste Titel der Reihe Wedding-Bücher. Erschienen sind bereits der Roman von Otto Nagel “Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck”, die Lebenserinnerungen von Walli Nagel “Das darfst du nicht”, die Biographien über Georg Benjamin und Kurt Steffelbauer sowie das Buch zum Film “Mutter Krausens Fahrt ins Glück”.
Bernd Schimmlers “Zwischen Humboldthain und den Rehbergen. Die Geschichte der Sozialdemokratie im “roten Wedding” von Berlin” erscheint mit einem Geleitwort von Ralf Wieland. Es hat 167 Seiten und hilfreiche Abbildungen. ISBN: 978−3−946327−26−4. Es kostet 15 Euro.
Andrei Schnell blickt zurück auf die besten Jahre der Weddinger SPD.