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Himmlische Ruhe – und jetzt?

11. November 2020
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Letzter Flug, danach himmlische Ruhe
Das letz­te Flug­zeug am 8.11.

Der Flug­ha­fen Tegel ist Geschich­te. Nun herrscht himm­li­sche Ruhe über dem Wed­ding. Doch das ist nur eine Facet­te. Die Schlie­ßung des Flug­ha­fens zieht star­ke Ver­än­de­run­gen nach sich, von denen auch der Wed­ding betrof­fen sein wird. Was bedeu­tet das für den Anschluss an die Welt, die Immo­bi­li­en­prei­se und das Lebens­ge­fühl des guten alten West-Berlin?

Verschiebung des Schwerpunkts innerhalb Berlins

Nun ist der letz­te Flie­ger von Tegel abge­ho­ben, und es herrscht so viel Ruhe im Wed­din­ger Him­mel wie seit Jahr­zehn­ten nicht mehr. Selbst vom Wed­din­ger Knall hat man lan­ge nichts gehört. Doch nun ist der Wed­ding ein Stück weit ins Abseits gerückt: Unser Stadt­teil war zu Mau­er­zei­ten – und auch 30 Jah­re danach – durch den Flug­ha­fen Tegel opti­mal aus der Luft und mit einer kur­zen Bus- oder Taxi­fahrt erreich­bar. Nun heißt es für Flug­gäs­te recht­zei­tig los­fah­ren, um den fer­nen Flug­ha­fen BER im süd­li­chen Bran­den­bur­ger Umland zu errei­chen. Das ist zwar ärger­lich, aber ein Trost­pflas­ter gibt es: Man kommt jetzt auch auf der Schie­ne bis kurz vor’s Gate, und mehr als ein ABC-Ticket braucht man auch nicht für die lan­ge Fahrt. Noto­ri­sche Auto­fah­rer müs­sen sich also umstel­len und viel­leicht statt des Staus auf der Stadt­au­to­bahn über den Umstieg auf die umwelt­freund­li­che S‑Bahn oder Regio­nal­bahn nachdenken.

Für den Wed­ding bedeu­tet die Ver­schie­bung des Flug­ha­fen­be­triebs in Rich­tung Süd­os­ten erst ein­mal, dass er ein wenig aus dem Fokus rückt. Zwar nicht gleich an den Stadt­rand, aber die gro­ße Ent­wick­lungs­ach­se der Stadt befin­det sich jetzt im Bereich Ober­schö­ne­wei­de, Adlers­hof und Schö­ne­feld. Man den­ke nur an das Tem­pel­ho­fer Feld, das sich seit der Öff­nung als Park einen ganz neu­en Platz im Bewusst­sein der Ber­li­ne­rin­nen und Ber­li­ner erar­bei­tet hat. Wie auch immer: Der Ber­li­ner Nor­den ver­liert einen gro­ßen Arbeits­platz­mo­tor; vie­le Unter­neh­men, die sich wegen der Nähe zu TXL ange­sie­delt haben, sind schon weg­ge­zo­gen. Auch für die Men­schen, die rund um den Zen­tra­len Fest­platz, die Juli­us-Leber-Kaser­ne und in den frü­he­ren Woh­nun­gen der fran­zö­si­schen Armee leben, ver­schlech­tert sich zunächst ein­mal die Bus­an­bin­dung zwi­schen Jakob-Kai­ser-Platz und Kurt-Schu­ma­cher-Platz.  Der Bus 128 fährt auf die­sem Abschnitt jetzt gar nicht mehr, so dass das Flug­ha­fen­ge­län­de (das jetzt Urban Tech Repu­blic heißt) nicht mehr ohne Umstei­gen erreich­bar ist.

Wohnlagen im Wedding werden interessanter

Flugzeug über der Müllerstraße verhindert himmlische Ruhe
© Ste­no Rt Kaluba

Für die attrak­ti­ven Wohn­la­gen im Afri­ka­ni­schen und im Eng­li­schen Vier­tel – bis­her schon wegen ihrer vie­len Grün­flä­chen beliebt – birgt die Schlie­ßung des Flug­ha­fens eine neue Gefahr. Bis­her war der Flug­lärm eine erheb­li­che Beein­träch­ti­gung der Lebens­qua­li­tät – der ers­te Lock­down im März/April hat den Unter­schied deut­lich vor Augen (und Ohren) geführt. Die Mie­ten und die Immo­bi­li­en­prei­se könn­ten nach der TXL-Schlie­ßung durch die Decke gehen – vor allem, falls der Mie­ten­de­ckel gericht­lich gekippt wird oder wenn er eines Tages aus­läuft. Die­se bei­den Kieze ste­hen zudem auch nicht unter Milieu­schutz.

Auch auf einer ande­ren Ebe­ne geht mit der Schlie­ßung von Tegel eine Ära zu Ende. Das klas­si­sche West-Ber­lin, bei dem Tegel als Tor zur Welt fun­gier­te und einen hohen Sym­bol­wert besaß, hat eine Iko­ne und einen Sehn­suchts­ort ver­lo­ren. Zwar bleibt uns das Gebäu­de erhal­ten und wird der Beuth-Hoch­schu­le in ein paar Jah­ren ein wirk­lich unge­wöhn­li­ches Zuhau­se bie­ten. Aber nie­mand wird mehr ins Sechs­eck des Ter­mi­nals gehen, um zu ver­rei­sen. Im Wed­ding hat man ähn­lich bereits den Abstieg der Mül­lerstra­ße erlebt – vom eins­ti­gen Ku’­damm des Nor­dens mit sei­nen vie­len Fach­ge­schäf­ten zu West-Ber­li­ner Zei­ten hin zur heu­ti­gen zuge­stau­ten Aus­fall­stra­ße mit sehr ein­sei­ti­ger Gewer­be­struk­tur. Gera­de noch so wur­de Kar­stadt am Leo­pold­platz geret­tet, aber nur auf Zeit und ohne wirk­li­che Per­spek­ti­ve, dass das Kauf­haus sei­ne alte Funk­ti­on für den Wed­ding wiedererlangt.

Bis 1989 hat der Wed­ding schon ein­mal sein Dasein als Mau­er­blüm­chen gefris­tet, auf zwei Sei­ten umge­ben von einer Staats­gren­ze. Die­se Zei­ten sind zum Glück vor­bei, und mit dem Bahn­hof Gesund­brun­nen haben wir im Wed­ding auch wie­der ein Tor zur Welt bekom­men. Wol­len wir hof­fen, dass es gelingt, trotz der himm­li­schen Ruhe in den Lüf­ten einen leben­di­gen, bezahl­ba­ren Wed­ding für alle zu erhal­ten. Und dass die Mie­ten wie­der bezahl­bar wer­den, auch ganz ohne Fluglärm.

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

3 Comments Leave a Reply

  1. Ja, dem kann ich nur zustim­men. Ich bin sehr, sehr froh, dass der TXL Geschich­te ist und sei­nen und Gestank von früh mor­gens um 6 bis abends um 23.00 nicht mehr ver­brei­ten kann. Erin­nert Euch mal dar­an, wie die Film­vor­füh­run­gen im idyl­li­schen Frei­licht­ki­no Reh­ber­ge von dem ner­vi­gen röh­ren­den Starts der Maschi­nen gestört wur­den. Wie oft fuhr ich mor­gens qua­si mit Mund­schutz (damals schon) durch die Reh­ber­ge, weil die Luft in die­sem herr­li­chen Park von den Abga­sen der Flug­zeu­ge ver­pes­tet war.
    Ja klar, die Mie­ten sind nied­rig, bis­her, eben wegen der ver­gleichs­wei­se schlech­ten Umwelt­qua­li­tät im Wed­ding. Ja, aber soll das lie­ber so blei­ben, der Dreck ? Damit die Mie­ten bil­lig blei­ben? Soll­te man nicht bes­ser auf poli­ti­scher Ebe­ne für bezahl­ba­re Mie­ten kämpfen?
    Und auch, dass der Wed­ding nun abge­hängt wird, glau­be ich nicht. Die Plä­ne für die zukünf­ti­ge Nut­zung von TXL und auch den Flug­fel­des klin­gen sehr inter­es­sant und wer­den zu einer Auf­wer­tung des Kiezes füh­ren, da bin ich ganz sicher.
    Ja, aber die Mie­ten!!!! Statt Jam­mern und Zetern wün­sche ich mir kon­struk­ti­ve und poli­tisch durch­dach­te Vor­schlä­ge im Weddingweiser.
    Gerlind

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