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Walla Walla

30. Januar 2013
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Gast­bei­trag von Robert Rescue

In mei­nen Augen ist er der impo­san­tes­te der Gestal­ten, die auf der Mül­lerstra­ße und den Neben­stra­ßen ihr Dasein fris­ten. Außen­sei­ter der ach so „nor­ma­len“ Gesell­schaft, die durch ihr komi­sches Ver­hal­ten für Ver­wun­de­rung, Ärger, mit­un­ter auch Wut sor­gen und denen man am bes­ten aus dem Weg geht.

Natür­lich mei­ne ich nicht die älte­re Frau in der Bank­fi­lia­le in der Mül­lerstra­ße, die ihrem Mann und den ande­ren Kun­den mit einer Lupe in der Hand den frisch aus dem Auto­mat gezo­ge­nen Kon­to­aus­zug vor­liest und für jede Buchung einen Kom­men­tar übrig hat wie „Die Zah­lung an Vat­ten­fall hät­te ich erst für Mit­te des Monats gedacht“ oder „Ich glau­be, die Abzah­lung für den Geschirr­spü­ler wäre schon letz­ten Monat erle­digt gewe­sen“. Ihr Mann sitzt auf dem Fens­ter­brett und schweigt und wenn man sich ihn genau­er ansieht, kommt man auf den Gedan­ken, dass er schon lan­ge nichts mehr gesagt hat. Die Rede ist auch nicht von dem Mann, der im Aldi auf der Mül­lerstra­ße eine Fla­sche Whis­key und einen Sech­ser­pack klei­ne Was­ser­fla­schen kauft und dann eine geschla­ge­ne hal­be Stun­de dasteht und den Kas­sen­zet­tel kon­trol­liert und sich fragt, war­um er für zwei Arti­kel 22,50 € hat zah­len müs­sen. Gemeint sind auch nicht die unzäh­li­gen ande­ren Kas­sen­bon­kon­trol­lie­rer, die es sich zur Lebens­auf­ga­be gemacht haben, den Ein­kauf Pro­dukt für Pro­dukt zu kon­trol­lie­ren, weil sie dach­ten, nie­mals die­se Sum­me für die­sen Ein­kauf bezah­len zu müs­sen und jetzt per­plex daste­hen, weil sie ihn doch haben zah­len müs­sen. Ich mei­ne auch nicht den vor sich hin schwa­dro­nie­ren­den Ver­rück­ten, der vor einem Blu­men­la­den auf der Mül­lerstra­ße steht und sich laut­stark über die Unge­rech­tig­keit der Welt beklagt, wäh­rend die migran­ti­sche Ver­käu­fe­rin „Wei­ter, wei­ter“ ruft, damit aber nicht meint, er sol­le wei­ter sei­ne halt­lo­sen Äuße­run­gen von sich geben, son­dern ihn zum Wei­ter­ge­hen auf­for­dert, damit er nicht die Kun­den verschreckt.

Amsterdamer Ecke MüllerstrDer Cat­walk von Wal­la Wal­la ist der Kiez rund um die Ams­ter­da­mer Stra­ße. Die­se läuft er auf und ab und schreit eins, zwei Sät­ze, die zumin­dest kein Deut­scher ver­steht. Dann lacht er zwei­mal keh­lig, was sich fürch­ter­lich anhört und schließ­lich brüllt er „Wal­la Wal­la“. Nach einer Pau­se von fünf bis zehn Sekun­den wie­der­holt sich das Gan­ze. Eili­ges Wei­ter­ge­hen und ein irri­tier­tes Kopf­schüt­teln dürf­ten die häu­figs­ten Reak­tio­nen auf eine Begeg­nung mit Wal­la Wal­la sein.
Gut mög­lich ist es aber auch, dass irgend­wer, dem all die Ver­rück­ten des Wed­ding auf die Ner­ven gehen, auf den gedrun­ge­nen Mann mit Drei­ta­ge­bart und kur­zen, wei­ßen Haa­ren ein­ge­schla­gen hat, doch das hält Wal­la Wal­la nicht auf. Täg­lich zieht er sei­ne Bah­nen durch die Stra­ßen und hält die Leu­te auf Trab. Ich habe mich mit Leu­ten aus dem Kiez unter­hal­ten und die mei­nen, Wal­la Wal­la lei­de unter dem Tour­et­te-Syn­drom. Einen Beweis kann nie­mand lie­fern, aber sein Ver­hal­ten und das, was jeder über das Tour­et­te-Syn­drom weiß, füh­ren zu der ver­söhn­li­chen Ansicht, dass Wal­la Wal­la nicht nur ver­rückt, son­dern auch krank ist. Da lässt es sich leich­ter mit sei­nem Schrei­en und Lachen umge­hen. Wei­ter habe ich erfah­ren, dass er Tür­ke sein soll und Jakob genannt wird. Er soll auch nor­mal spre­chen kön­nen und glücks­spiel­ab­hän­gig sein, sagen die Leu­te. Auf mei­ne Fra­ge, war­um Wal­la Wal­la Tür­ke ist und Jakob heißt, ern­te ich nur Schul­ter­zu­cken oder die eben­so faden­schei­ni­ge Erklä­rung, er kön­ne viel­leicht auch Arme­ni­er sein. Tür­ken sagen mir, dass er kein Tür­kisch schreit und Polen mei­nen, es sei kein Polnisch.

Es ist wie so oft, wenn man ande­re statt den eigent­li­chen fragt – alle wis­sen etwas und doch nichts. Des­halb weiß auch nie­mand, was Wal­la Wal­la da von sich gibt und viel­leicht ist es das, was den Leu­ten Angst macht. Sind es krank­heits­be­ding­te Belei­di­gun­gen? Redet er etwa mit einem Geist­we­sen? Mit Gott – und Gott ant­wor­tet etwas, das Wal­la Wal­la zum Lachen bringt?

Foto: D_Kori
Foto: D_Kori

Ich bin ihm schon oft begeg­net und meist so, wie oben beschrie­ben. Von den meis­ten Begeg­nun­gen war ich genervt und habe die Stra­ßen­sei­te gewech­selt, wenn ich ihn von wei­tem sehen und hören konn­te. Ein­mal stand er in einem Haus­ein­gang und hat so schlimm gewü­tet wie nie zuvor. Ich glau­be, er war in der gan­zen Ams­ter­da­mer Stra­ße zu hören. Ich bin auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te an ihm vor­bei­ge­gan­gen und habe mir tat­säch­lich die Ohren zuge­hal­ten. Seit ich erfah­ren habe, dass er am Tour­et­te-Syn­drom lei­den soll, hat sich mein Ver­hält­nis zu ihm ver­än­dert. Ich habe Mit­leid mit ihm. Wenn ich ihn heu­te tref­fe, den­ke ich dar­über nach, wie die Leu­te im Haus mit ihm umge­hen, ob er über­haupt einen Haus­halt füh­ren kann und zuletzt fra­ge ich mich, ob nicht eine psych­ia­tri­sche Rund­um­be­treu­ung für ihn bes­ser wäre. Ein­mal aber traf ich ihn ruhig an und ich habe ihn im ers­ten Moment auch nicht erkannt. Er blieb vor mir ste­hen und hielt mir eine Hand hin, in der Cent Mün­zen lagen. Mit der ande­ren Hand deu­te­te er eine Ziga­ret­te an. Er brüll­te mich nicht an, aber er sag­te auch nichts.

Er wie­der­hol­te die Hand­be­we­gung mit der Ziga­ret­te und lächel­te jetzt sogar. Zöger­lich hol­te ich mei­nen Tabak aus der Tasche, dreh­te ihm eine Ziga­ret­te und gab sie ihm, ohne das Geld zu neh­men. Er ging wei­ter und ich sah ihm hin­ter­her. Er blieb kurz ste­hen, zün­de­te sich die Ziga­ret­te an, zog einen kräf­ti­gen Zug und als in die­sem Moment zwei Leu­te um eine Ecke bogen, fing er wie­der mit sei­nem Gekrei­sche und Geläch­ter an, wie es alle von ihm kann­ten. Die zwei Leu­te gin­gen has­tig an ihm vor­bei, wäh­rend ich wei­ter Wal­la Wal­la beob­ach­te­te und mich frag­te, ob das nicht alles ein Spiel war.

Straßenbahn auf der SeestraßeEin­mal mach­te Wal­la Wal­la einen Aus­flug und ich hat­te die zwei­fel­haf­te Ehre, ihn dabei ein Stück beglei­ten zu dür­fen. Ich muss­te zur Tram­sta­ti­on See­stra­ße und war über­rascht, ihn dort anzu­tref­fen. Er saß auf der Bank und mach­te auf sich auf­merk­sam. Drei­ßig Leu­te im War­te­be­reich muss­ten in dem Moment das­sel­be gedacht haben: „Hof­fent­lich steigt er nicht in die Bahn ein.“ Doch die Hoff­nung erfüll­te Wal­la Wal­la ihnen nicht. Er brach­te den Wagen emo­tio­nal zum Kochen. Kin­der fin­gen zu wei­nen an und ein paar Halb­star­ke rie­fen ihm zu: „Halt die Klap­pe, sonst gibt es was auf die Fres­se!“ Dar­auf­hin stei­ger­te sich Wal­la Wal­la in sei­ner Wut, gera­de so, als hät­te er genau ver­stan­den, was ihm ange­droht wor­den sei und als wol­le er genau das auch errei­chen. An der Sta­ti­on Osram-Höfe, die von der Sta­ti­on See­stra­ße gefühl­te 600 Meter ent­fernt lag, stieg er wie­der aus und alle in der Tram waren erleich­tert. Er setz­te sich wie­der auf eine War­te­bank, hol­te eine halb­ge­rauch­te Ziga­ret­te her­vor, zün­de­te sie an und brüll­te wie­der sei­ne eins, zwei Sät­ze und lach­te zwei­mal keh­lig. Wäh­rend sich die Türen schlos­sen, begann er wie­der von vorne.

Vor kur­zem ver­ließ ich an einem Sonn­tag­mit­tag die Woh­nung mei­ner Freun­din in der Mal­plaquet­stra­ße und trat den Heim­weg zur See­stra­ße an. Ich hör­te Wal­la Wal­la schon von wei­tem, doch er befand sich auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te. An der Ecke Utrechter/Malplaquet blieb er vor einem Spät­kauf ste­hen. Kurz über­leg­te er, was er tun soll­te, bevor er den Laden betrat. Ich ging wei­ter und dach­te nach. Wür­de Wal­la Wal­la jetzt sei­ne Tira­de los­las­sen und vom Besit­zer raus­ge­schmis­sen wer­den? Oder wür­de er see­len­ru­hig zum Tre­sen gehen und sagen: „Eine Schach­tel Gau­loi­ses, einen Tages­spie­gel und drei Schrip­pen, BITTE!“ – Ich konn­te es mir vor­stel­len, ernst­haft vorstellen.

Mehr von Robert Res­cue hören oder lesen? Unser Gast­au­tor Robert Res­cue ist Mit­glied der Wed­din­ger Lese­büh­ne Die Brau­se­boys. Sei­ne neu­es­te Geschich­ten­samm­lung mit dem Titel „Eimer­du­schen – Ein Opfer packt aus“ ist im Jahr 2012 erschie­nen. Infos: http://www.periplaneta.com

Gastautor

Als offene Plattform veröffentlichen wir gerne auch Texte, die Gastautorinnen und -autoren für uns verfasst haben.

1 Comment

  1. Ein biss­chen auf­ge­regt, der Arti­kel. Der Mann ist völ­lig harm­los und hat offen­sicht­lich Pro­ble­me mit irgend einer Art Stö­rung, mal mehr, mal weni­ger. Ist auf jeden Fall kein Grund die Stra­ßen­sei­te zu wech­seln, zumin­dest nicht für einen Berliner.
    Schenkt ihm ab und zu Ziga­ret­ten und er wird euch lich­te­ren Pha­sen immer nett grüßen.

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