Gastbeitrag von Robert Rescue
In meinen Augen ist er der imposanteste der Gestalten, die auf der Müllerstraße und den Nebenstraßen ihr Dasein fristen. Außenseiter der ach so „normalen“ Gesellschaft, die durch ihr komisches Verhalten für Verwunderung, Ärger, mitunter auch Wut sorgen und denen man am besten aus dem Weg geht.
Natürlich meine ich nicht die ältere Frau in der Bankfiliale in der Müllerstraße, die ihrem Mann und den anderen Kunden mit einer Lupe in der Hand den frisch aus dem Automat gezogenen Kontoauszug vorliest und für jede Buchung einen Kommentar übrig hat wie „Die Zahlung an Vattenfall hätte ich erst für Mitte des Monats gedacht“ oder „Ich glaube, die Abzahlung für den Geschirrspüler wäre schon letzten Monat erledigt gewesen“. Ihr Mann sitzt auf dem Fensterbrett und schweigt und wenn man sich ihn genauer ansieht, kommt man auf den Gedanken, dass er schon lange nichts mehr gesagt hat. Die Rede ist auch nicht von dem Mann, der im Aldi auf der Müllerstraße eine Flasche Whiskey und einen Sechserpack kleine Wasserflaschen kauft und dann eine geschlagene halbe Stunde dasteht und den Kassenzettel kontrolliert und sich fragt, warum er für zwei Artikel 22,50 € hat zahlen müssen. Gemeint sind auch nicht die unzähligen anderen Kassenbonkontrollierer, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, den Einkauf Produkt für Produkt zu kontrollieren, weil sie dachten, niemals diese Summe für diesen Einkauf bezahlen zu müssen und jetzt perplex dastehen, weil sie ihn doch haben zahlen müssen. Ich meine auch nicht den vor sich hin schwadronierenden Verrückten, der vor einem Blumenladen auf der Müllerstraße steht und sich lautstark über die Ungerechtigkeit der Welt beklagt, während die migrantische Verkäuferin „Weiter, weiter“ ruft, damit aber nicht meint, er solle weiter seine haltlosen Äußerungen von sich geben, sondern ihn zum Weitergehen auffordert, damit er nicht die Kunden verschreckt.
Der Catwalk von Walla Walla ist der Kiez rund um die Amsterdamer Straße. Diese läuft er auf und ab und schreit eins, zwei Sätze, die zumindest kein Deutscher versteht. Dann lacht er zweimal kehlig, was sich fürchterlich anhört und schließlich brüllt er „Walla Walla“. Nach einer Pause von fünf bis zehn Sekunden wiederholt sich das Ganze. Eiliges Weitergehen und ein irritiertes Kopfschütteln dürften die häufigsten Reaktionen auf eine Begegnung mit Walla Walla sein.
Gut möglich ist es aber auch, dass irgendwer, dem all die Verrückten des Wedding auf die Nerven gehen, auf den gedrungenen Mann mit Dreitagebart und kurzen, weißen Haaren eingeschlagen hat, doch das hält Walla Walla nicht auf. Täglich zieht er seine Bahnen durch die Straßen und hält die Leute auf Trab. Ich habe mich mit Leuten aus dem Kiez unterhalten und die meinen, Walla Walla leide unter dem Tourette-Syndrom. Einen Beweis kann niemand liefern, aber sein Verhalten und das, was jeder über das Tourette-Syndrom weiß, führen zu der versöhnlichen Ansicht, dass Walla Walla nicht nur verrückt, sondern auch krank ist. Da lässt es sich leichter mit seinem Schreien und Lachen umgehen. Weiter habe ich erfahren, dass er Türke sein soll und Jakob genannt wird. Er soll auch normal sprechen können und glücksspielabhängig sein, sagen die Leute. Auf meine Frage, warum Walla Walla Türke ist und Jakob heißt, ernte ich nur Schulterzucken oder die ebenso fadenscheinige Erklärung, er könne vielleicht auch Armenier sein. Türken sagen mir, dass er kein Türkisch schreit und Polen meinen, es sei kein Polnisch.
Es ist wie so oft, wenn man andere statt den eigentlichen fragt – alle wissen etwas und doch nichts. Deshalb weiß auch niemand, was Walla Walla da von sich gibt und vielleicht ist es das, was den Leuten Angst macht. Sind es krankheitsbedingte Beleidigungen? Redet er etwa mit einem Geistwesen? Mit Gott – und Gott antwortet etwas, das Walla Walla zum Lachen bringt?
Ich bin ihm schon oft begegnet und meist so, wie oben beschrieben. Von den meisten Begegnungen war ich genervt und habe die Straßenseite gewechselt, wenn ich ihn von weitem sehen und hören konnte. Einmal stand er in einem Hauseingang und hat so schlimm gewütet wie nie zuvor. Ich glaube, er war in der ganzen Amsterdamer Straße zu hören. Ich bin auf der anderen Straßenseite an ihm vorbeigegangen und habe mir tatsächlich die Ohren zugehalten. Seit ich erfahren habe, dass er am Tourette-Syndrom leiden soll, hat sich mein Verhältnis zu ihm verändert. Ich habe Mitleid mit ihm. Wenn ich ihn heute treffe, denke ich darüber nach, wie die Leute im Haus mit ihm umgehen, ob er überhaupt einen Haushalt führen kann und zuletzt frage ich mich, ob nicht eine psychiatrische Rundumbetreuung für ihn besser wäre. Einmal aber traf ich ihn ruhig an und ich habe ihn im ersten Moment auch nicht erkannt. Er blieb vor mir stehen und hielt mir eine Hand hin, in der Cent Münzen lagen. Mit der anderen Hand deutete er eine Zigarette an. Er brüllte mich nicht an, aber er sagte auch nichts.
Er wiederholte die Handbewegung mit der Zigarette und lächelte jetzt sogar. Zögerlich holte ich meinen Tabak aus der Tasche, drehte ihm eine Zigarette und gab sie ihm, ohne das Geld zu nehmen. Er ging weiter und ich sah ihm hinterher. Er blieb kurz stehen, zündete sich die Zigarette an, zog einen kräftigen Zug und als in diesem Moment zwei Leute um eine Ecke bogen, fing er wieder mit seinem Gekreische und Gelächter an, wie es alle von ihm kannten. Die zwei Leute gingen hastig an ihm vorbei, während ich weiter Walla Walla beobachtete und mich fragte, ob das nicht alles ein Spiel war.
Einmal machte Walla Walla einen Ausflug und ich hatte die zweifelhafte Ehre, ihn dabei ein Stück begleiten zu dürfen. Ich musste zur Tramstation Seestraße und war überrascht, ihn dort anzutreffen. Er saß auf der Bank und machte auf sich aufmerksam. Dreißig Leute im Wartebereich mussten in dem Moment dasselbe gedacht haben: „Hoffentlich steigt er nicht in die Bahn ein.“ Doch die Hoffnung erfüllte Walla Walla ihnen nicht. Er brachte den Wagen emotional zum Kochen. Kinder fingen zu weinen an und ein paar Halbstarke riefen ihm zu: „Halt die Klappe, sonst gibt es was auf die Fresse!“ Daraufhin steigerte sich Walla Walla in seiner Wut, gerade so, als hätte er genau verstanden, was ihm angedroht worden sei und als wolle er genau das auch erreichen. An der Station Osram-Höfe, die von der Station Seestraße gefühlte 600 Meter entfernt lag, stieg er wieder aus und alle in der Tram waren erleichtert. Er setzte sich wieder auf eine Wartebank, holte eine halbgerauchte Zigarette hervor, zündete sie an und brüllte wieder seine eins, zwei Sätze und lachte zweimal kehlig. Während sich die Türen schlossen, begann er wieder von vorne.
Vor kurzem verließ ich an einem Sonntagmittag die Wohnung meiner Freundin in der Malplaquetstraße und trat den Heimweg zur Seestraße an. Ich hörte Walla Walla schon von weitem, doch er befand sich auf der anderen Straßenseite. An der Ecke Utrechter/Malplaquet blieb er vor einem Spätkauf stehen. Kurz überlegte er, was er tun sollte, bevor er den Laden betrat. Ich ging weiter und dachte nach. Würde Walla Walla jetzt seine Tirade loslassen und vom Besitzer rausgeschmissen werden? Oder würde er seelenruhig zum Tresen gehen und sagen: „Eine Schachtel Gauloises, einen Tagesspiegel und drei Schrippen, BITTE!“ – Ich konnte es mir vorstellen, ernsthaft vorstellen.
Mehr von Robert Rescue hören oder lesen? Unser Gastautor Robert Rescue ist Mitglied der Weddinger Lesebühne Die Brauseboys. Seine neueste Geschichtensammlung mit dem Titel „Eimerduschen – Ein Opfer packt aus“ ist im Jahr 2012 erschienen. Infos: http://www.periplaneta.com
Ein bisschen aufgeregt, der Artikel. Der Mann ist völlig harmlos und hat offensichtlich Probleme mit irgend einer Art Störung, mal mehr, mal weniger. Ist auf jeden Fall kein Grund die Straßenseite zu wechseln, zumindest nicht für einen Berliner.
Schenkt ihm ab und zu Zigaretten und er wird euch lichteren Phasen immer nett grüßen.