Zum dritten Mal haben sich Weddinger Kulturschaffende zusammengetan, um mit dem Festival „2 Tage Wedding“ der Kultur, Literatur und Musik im Bezirk zu mehr Aufmerksamkeit zu helfen. Die verschiedenen Kieze waren am 8. und 9. September offene Bühnen für Konzerte und Lesungen. Der Samstagabend im Studio Berten stach dabei besonders hervor: Die Lesung eines Buches, dessen politische Rahmenhandlung sensibler nicht sein könnte, begleitet von Musik, vollkommen improvisiert.
„Zusammenleben? Ja, natürlich! Auch wenn es momentan nicht das Natürliche zu sein scheint.“ Ruth Fruchtman liest diesen Satz vor aus ihrem Buch „Jerusalemtag“. Und auch außerhalb der von ihr geschaffenen Romanwelt besitzt dieser Satz Gültigkeit. Zusammenleben, das gilt auch hier, im Wedding.
An diesem Abend klappt es gut, das Zusammenleben. So vielfältig wie der Wedding selbst, so vielfältig sind die Besucher der Lesung von Ruth Fruchtmans neuestem Buch. Ruth Fruchtman, deutsch, jüdisch, israelisch, kritisch. Auf dem Fagott begleitet von Heiko Löchel, freischaffender Künstler und Musiktherapeut. Dessen Melodien sind mal kraftvoll, mal zaghaft, mal stotternd, und immer spontan inspiriert von den Ausschnitten, die Ruth Fruchtman vorliest, um die Geschichte ihrer Romanfigur Roma zu erzählen. An diesem Abend zeigen Löchel und Fruchtman in der Kunstgalerie Studio Berten: Wedding kann Kultur! Mit der Lesung sorgen sie für einen ersten Höhepunkt des Kulturfestivals.
In „Jerusalemtag“ beschreibt Ruth Fruchtman anhand ihrer Romanfigur Roma, wie die israelisch-palästinensische Geschichte das Leben ihrer Hauptfigur geprägt hat. Über 40 Jahre begleitet der Leser Roma in ihrem Leben, durchlebt Liebe, Beziehungen, die Geburt ihres Kindes David und die entstehende Distanz Romas zur Politik des Staates Israel, geprägt durch die seit 1967 andauernde Besetzung Ostjerusalems und des Westjordanlandes. Roma ist dabei stets kritisch und im Konflikt mit ihrem Gewissen, aber auch mit ihren Familienangehörigen. Ihr Sohn David, am Tag der Eroberung Ostjerusalems geboren, steht der israelischen Besetzung weitaus weniger kritisch gegenüber als seine Mutter. Romas Cousine ist Siedlerin und im Gegensatz zu Roma, die bei jedem Besuch in einer israelischen Siedlung von Schuldgefühlen geplagt ist, überzeugt, das eroberte Land nicht mehr zurückzugeben.
„Jerusalemtag“ ist eine Geschichte von Distanz zur eigenen Identität in einem politisch und gesellschaftlich aufgeladenen Umfeld. In der anschließenden Fragerunde beleuchtet Ruth Fruchtman Romas Schuldgefühle, ihre Kritik an der Besetzung. Ob Roma aber dem israelischen Staat kritischer gegenüberstehen würde als die Autorin selbst? „Nein“, lacht Fruchtman, „ich bin da schon noch kritischer.“ Diese israel-kritische Haltung klingt auch in ihren Antworten an diesem Abend durch. Sie erzählt von Bekannten im palästinensischen Ramallah, deren Lebensumständen, die regelmäßige Drangsalierung der Palästinenser, die täglich nach Jerusalem zur Arbeit pendeln und Stunden an den Checkpoints warten müssen. Fruchtman kritisiert einen inflationären Gebrauch des Wortes Antisemitismus, der den Blick auf wahren, bedrohlichen Antisemitismus verstellen würde. Fruchtman ist streitbar, das weiß sie selbst. Aber sie ist auch selbstbewusst genug, ihren Standpunkt zu verteidigen.
Es war nicht die erste Lesung Ruth Fruchtmans im Wedding. Vor zwei Jahren las sie aus ihrem Roman Krakowiak. Damals ebenfalls organisiert vom Studio Berten, das auch unabhängig vom Kulturfestival „2 Tage Wedding“ kulturelle Aktivitäten veranstaltet, im Wissen, was das Weddinger Zusammenleben stärkt: Ausstellungen, Lesungen und Konzerte im Wechsel, in der Torfstraße 11, nur wenige Gehminuten vom U‑Bahnhof Amrumer Straße.
Ruth Fruchtman: Jerusalemtag, 262 Seiten, Klak Verlag 2017
Text: Alex Gerst, Fotos: Studio Berten
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Noch eine Ergänzung: die Lesungen im studio_Berten werden veranstaltet von der ehrenamtlichen Nachbarschaftsinitiative “pan. poesie am nordufer. Im Wedding. Kunst, Literatur und Migration”