In jungen Jahren fiel es mir nicht leicht zu sagen: „Ich wohne im Wedding!“ Bei manchen Menschen entstand eine unangenehme Sprechpause. Andere versuchten erfolglos etwas Positives über den Stadtteil zu sagen: Da sei es ja so schön multikulti oder im Wedding sind die Mieten noch niedrig. Wenn mir ein Unternehmen eine Absage erteilte, vermutete ich, dass es meine proletarische Herkunft anhand der Postleitzahl erkannt hat. Für mich stand fest: Wenn ich groß bin, ziehe ich weg! Nun bin ich hier geblieben.
Als Erster in meiner Familie mit akademischen Grad hätte mir ganz Berlin zu Füßen gelegen – was sage ich, die ganze Welt! Und jetzt fragst Du mich mit deinen drei Jahren, liebe Pauline: „Papa, was ist denn Wedding?“ Ich sage es Dir: „Der Wedding ist der tollste Stadtteil von Berlin und wir haben das Glück hier zu wohnen.“ Jetzt kannst Du dich mit deinen drei Lenzen nicht wirklich dagegen wehren. Deswegen frage ich dich, liebe Pauline: „Wirst Du dem Wedding treu bleiben, zieht es dich in einen hippen Bezirk oder gar in die große weite Welt?“ Papa erklärt dir mal die Vor- und Nachteile.
Deine Weddinger Zeit bis zum 18. Lebensjahr
Ganz traue ich dem Wedding ja trotzdem noch nicht. Warum schicke ich dich sonst auf eine Kita, die im Prenzlauer Berg liegt? Warum überlegen wir, uns kurzzeitig bei Onkel Steve in der Schönhauser Allee einzuquartieren, damit dir keine Weddinger Schule zugeteilt wird? Dabei gibt hier ganz tolle Kindergärten und Schulen! Eine heißt Gustav-Falke-Grundschule. Eltern wollten ihre Kinder nicht mehr dort hinschicken. Und was haben die gemacht? Kinder, die den Sprachtest „Bärenstark“ bestehen, dürfen nun coole Experimente machen. Die anderen Schüler verbessern in der Zwischenzeit ihre Deutsch-Kenntnisse. Ich finde das pfiffig und habe gerade beschlossen, dass Du auf eine Weddinger Schule gehst – ich muss das nur noch deiner Mutter erklären. Auch habe ich noch keine Lösung für deine Pubertät. Wie soll ich es dir erklären? Es gibt auch böse Menschen hier und wenn du mit deinen 16 Jahren nachts aus dem Club kommst, dann könnte das schon gefährlich sein. Aber vielleicht ist es auch nur eine „gefühlte Angst“, wie es manche Politiker nennen. Wie auch immer: Papa ist immer heile von der Diskothek – so nannte man früher die Clubs – nach Hause gekommen.
Gutes Wedding …
Wenn du dann 18 bist, glaube ich nicht, dass du den Wedding verlässt. Warum? Wir schreiben das Jahr 2033 und du wirst es nicht glauben: Ganz Berlin nervt uns schon seit zig Jahren damit, dass der Wedding „am Kommen“ ist. Sie sagen es mit einem Schmunzeln, doch in 15 Jahren wird ihnen dieses Schmunzeln vergehen. Bereits jetzt zahlt man im Soldiner Kiez fast 4.000 Euro für einen Quadratmeter Wohnfläche. Das ist so groß wie dein Buddelkasten und du könntest dir 5.797 Überraschungseier davon kaufen! Deswegen, Kind – denk an meine Worte: lernen, lernen, lernen – sonst kannst du dir den Traum von einem Leben im Wedding nicht leisten! Es wird hier dann so sein wie im Prenzlauer Berg – da wo wir sonntags hin und wieder mal hinlaufen und einen Latte Macchiato und einen Kinder-Bio-Kakao trinken: schicke Bars und Restaurants, kein Sperrmüll auf den Straßen und ganz viele Menschen mit Coffee-to-go-Bechern in den Händen. Du wirst ohne Magenschmerzen deine Kinder auf eine Weddinger Schule schicken können. Doch ist das dann noch Wedding? Papa ist mittlerweile gelangweilt von Bezirken wie Friedrichshain, Pankow oder Charlottenburg – zu wenig Originale, alles so stromlinienförmig.
… schlechtes Wedding
Doch manchmal setzt der Wedding auch seine Fratze auf. Es wird geklaut, geraubt und betrogen. Sperrmüll wird einfach auf der Straße abgeladen und Hunde-AA nicht weggemacht. Das mit der Völkerverständigung haben wir auch nicht perfekt hingekriegt. Papa war gerade mal auf EINER türkischen Hochzeit in 45 Jahren und seine exotischste Freundin kam aus Köpenick. In meiner Schulzeit kamen die Politiker auf die glorreiche Idee, ganz Ausländerklassen aufzumachen. Als groß geschossener, blonder Drittklässler war ich nicht gerade beliebt bei den „Integrationsschülern“ der Vierten. Wobei … Samko war egal, woher ich komme. Der für sein Alter schon recht kräftig gebaute Jugoslawe gab mir das eine oder andere Mal Geleitschutz nach Hause. Viele Weddinger sind auch sehr arm, was dir vielleicht in deinem Herzen weh tut. Fast 79 Prozent aller Kinder und Jugendlichen rund um die Reinickendorfer Straße leben in Armut. Auch die Weddinger Opis und Omis sind viel ärmer als in anderen Teilen Berlin.
Die Qual der Wahl
Kind – nun entscheide dich! Dass der Wedding in 15 Jahren hip ist, war gelogen. Aber willst du denn, dass er ein zweiter Prenzlauer Berg wird? Papa war eine Zeit lang gerne da drüben bei den gut betuchten Menschen am Kollwitzplatz und fand das ganze Treiben ziemlich schau. Heute ist er ehr gelangweilt davon und genießt die Ecken und Kanten seines Kiezes. Du hast die Wahl: ein Leben in einer „Gated Community“ in Zehlendorf oder ein authentischer Schmelztiegel aus Armut, Vielseitigkeit und Authentizität. Du weißt nicht was Authentizität ist? Du musst dir einfach die Frage stellen: Magst Du dein ganzes Leben nur diese salzigen Fischeier essen oder mal einen Döner, dann wieder ein Schokoladeneis und am nächsten Tag vielleicht Pasta mit Tomatensoße?
Wedding im Jahr 2033
Pauline hat den Rat ihres Vaters beherzigt und gelernt, gelernt und nochmals gelernt. Der Abi-Schnitt reichte für ein Medizinstudium an der Freien Universität. Ihr Traum ist es, in einem Krankenhaus in Tansania Ärztin zu sein. Mit ihrem Freund Hasan hat sie gerade erst eine Wohnung in der Gerichtstraße bezogen. Hasan kommt aus einer modernen muslimischen Familie, die ihren Glauben eher im Stillen praktizieren. Dass Pauline Atheistin ist und auch nie einer Glaubensrichtung angehören will, finden sie völlig okay.
Ach so – ein wichtiges Detail habe ich vergessen: Der Wedding ist natürlich nicht hip geworden. Welcher Volldepp hat bloß dieses Gerücht in die Welt gesetzt? Eher wird der Flughafen BER fertig oder wir hören von Donald Trump den legendären Berliner Satz: „Ich bin schwul und das ist gut so!“
Text/Fotos: Andreas Oertel
Andreas Oertel ist einer der wenigen gebürtigen Weddinger im Weddingweiser-Team. Er muss es daher wissen, wie es sich anfühlt, hier aufzuwachsen.
Wir sind nominiert für den Deutschen Nachbarschaftspreis. Noch bis zum 22. August könnt ihr für uns abstimmen – www.nachbarschaftspreis.de
Hallo Andreas, schöner Beitrag :-). Bleibt zu hoffen, dass bis 2033 noch was vom guten alten Wedding übrig geblieben ist und wir nicht den Weg von PB oder Fh gehen. Ich fühle mich hier im Brüsseler Kiez jedenfalls recht wohl und das seit gut 10 Jahren.
Beste Grüße von deinem Ex-Kollegen Norbert
Als Lehrerin an einer Weddinger Schule und Mutter zweier Weddinger Kinder, die hier in Kita & Schule wunderbar sozialisiert wurden, möchte ich hier den einfachsten und normalsten Weg, sich mit seinem Umfeld auseinanderzusetzen und es dann vielleicht sogar, so wie wir, lieben zu lernen, betonen: Da zur Schule zu gehen (!), wo man lebt. Allerdings, so schön wir den Wedding auch finden, wäre ich doch froh, wenn meine Kinder sich später auch mal etwas mehr von der Welt ansehen …
Guten Abend Sybille, ich saß gestern mit einem Freund in der Golden Lounge Soldiner/Prinzenallee und wir sprachen über Schulen im Bezirk mit guten Konzepten – beispielsweise über die Quinoa Schule gleich um die Ecke. Plötzlich wurde auf der anderen Straßenseite eine Frau niedergeschlagen und es kamen Feuerwehr und Polizei. Dieser Abend spiegelt glaube ich ganz gut den Konflikt wieder, den Weddinger Eltern haben.
Der Flughafen Tegel ist meines Wissens nach schon eröffnet.
Hallo Kort, bei den vielen Flughäfen in Berlin komme verliere ich manchmal den Überblick (-; Entschuldige – wir korrigieren das!
Lieber Andreas,
ich habe deinen Beitrag sehr gerne gelesen und ja, so fühlt es sich an, im Wedding aufzuwachsen. Und ja, du hast recht, es ist eine bunte lebendige Welt! Ich habe zwischendurch in Heiligensee gewohnt, aus genau den Gründen, die du aufzählst, ich wollte, dass mein Kind nicht im Wedding zur Schule gehen muss.
Aber jetzt bin ich wieder hier 🙂
Viele Grüße von Susanne
Liebe Susanne, war es im Nachhinein die richtige Entscheidung für die Schulzeit wegzuziehen?