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Wedding 2033: Wird Klein-Pauline im Wedding bleiben?

7. August 2018
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Kinder auf Laufrädern. Foto: Andreas Oertel
Zwei Klein­kin­der auf Lauf­rä­dern Foto: Andre­as Oertel

In jun­gen Jah­ren fiel es mir nicht leicht zu sagen: „Ich woh­ne im Wed­ding!“ Bei man­chen Men­schen ent­stand eine unan­ge­neh­me Sprech­pau­se. Ande­re ver­such­ten erfolg­los etwas Posi­ti­ves über den Stadt­teil zu sagen: Da sei es ja so schön mul­ti­kul­ti oder im Wed­ding sind die Mie­ten noch nied­rig. Wenn mir ein Unter­neh­men eine Absa­ge erteil­te, ver­mu­te­te ich, dass es mei­ne pro­le­ta­ri­sche Her­kunft anhand der Post­leit­zahl erkannt hat. Für mich stand fest: Wenn ich groß bin, zie­he ich weg! Nun bin ich hier geblieben. 

Als Ers­ter in mei­ner Fami­lie mit aka­de­mi­schen Grad hät­te mir ganz Ber­lin zu Füßen gele­gen – was sage ich, die gan­ze Welt! Und jetzt fragst Du mich mit dei­nen drei Jah­ren, lie­be Pau­li­ne: „Papa, was ist denn Wed­ding?“ Ich sage es Dir: „Der Wed­ding ist der tolls­te Stadt­teil von Ber­lin und wir haben das Glück hier zu woh­nen.“ Jetzt kannst Du dich mit dei­nen drei Len­zen nicht wirk­lich dage­gen weh­ren. Des­we­gen fra­ge ich dich, lie­be Pau­li­ne: „Wirst Du dem Wed­ding treu blei­ben, zieht es dich in einen hip­pen Bezirk oder gar in die gro­ße wei­te Welt?“ Papa erklärt dir mal die Vor- und Nachteile.

Deine Weddinger Zeit bis zum 18. Lebensjahr

Ganz traue ich dem Wed­ding ja trotz­dem noch nicht. War­um schi­cke ich dich sonst auf eine Kita, die im Prenz­lau­er Berg liegt? War­um über­le­gen wir, uns kurz­zei­tig bei Onkel Ste­ve in der Schön­hau­ser Allee ein­zu­quar­tie­ren, damit dir kei­ne Wed­din­ger Schu­le zuge­teilt wird? Dabei gibt hier ganz tol­le Kin­der­gär­ten und Schu­len! Eine heißt Gus­tav-Fal­ke-Grund­schu­le. Eltern woll­ten ihre Kin­der nicht mehr dort hin­schi­cken. Und was haben die gemacht? Kin­der, die den Sprach­test „Bären­stark“ bestehen, dür­fen nun coo­le Expe­ri­men­te machen. Die ande­ren Schü­ler ver­bes­sern in der Zwi­schen­zeit ihre Deutsch-Kennt­nis­se. Ich fin­de das pfif­fig und habe gera­de beschlos­sen, dass Du auf eine Wed­din­ger Schu­le gehst – ich muss das nur noch dei­ner Mut­ter erklä­ren. Auch habe ich noch kei­ne Lösung für dei­ne Puber­tät. Wie soll ich es dir erklä­ren? Es gibt auch böse Men­schen hier und wenn du mit dei­nen 16 Jah­ren nachts aus dem Club kommst, dann könn­te das schon gefähr­lich sein. Aber viel­leicht ist es auch nur eine „gefühl­te Angst“, wie es man­che Poli­ti­ker nen­nen. Wie auch immer: Papa ist immer hei­le von der Dis­ko­thek – so nann­te man frü­her die Clubs – nach Hau­se gekommen.

Gutes Wedding …

Wenn du dann 18 bist, glau­be ich nicht, dass du den Wed­ding ver­lässt. War­um? Wir schrei­ben das Jahr 2033 und du wirst es nicht glau­ben: Ganz Ber­lin nervt uns schon seit zig Jah­ren damit, dass der Wed­ding „am Kom­men“ ist. Sie sagen es mit einem Schmun­zeln, doch in 15 Jah­ren wird ihnen die­ses Schmun­zeln ver­ge­hen. Bereits jetzt zahlt man im Sol­di­ner Kiez fast 4.000 Euro für einen Qua­drat­me­ter Wohn­flä­che. Das ist so groß wie dein Bud­del­kas­ten und du könn­test dir 5.797 Über­ra­schungs­ei­er davon kau­fen! Des­we­gen, Kind – denk an mei­ne Wor­te: ler­nen, ler­nen, ler­nen – sonst kannst du dir den Traum von einem Leben im Wed­ding nicht leis­ten! Es wird hier dann so sein wie im Prenz­lau­er Berg – da wo wir sonn­tags hin und wie­der mal hin­lau­fen und einen Lat­te Mac­chia­to und einen Kin­der-Bio-Kakao trin­ken: schi­cke Bars und Restau­rants, kein Sperr­müll auf den Stra­ßen und ganz vie­le Men­schen mit Cof­fee-to-go-Bechern in den Hän­den. Du wirst ohne Magen­schmer­zen dei­ne Kin­der auf eine Wed­din­ger Schu­le schi­cken kön­nen. Doch ist das dann noch Wed­ding? Papa ist mitt­ler­wei­le gelang­weilt von Bezir­ken wie Fried­richs­hain, Pan­kow oder Char­lot­ten­burg – zu wenig Ori­gi­na­le, alles so stromlinienförmig.

… schlechtes Wedding

Doch manch­mal setzt der Wed­ding auch sei­ne Frat­ze auf. Es wird geklaut, geraubt und betro­gen. Sperr­müll wird ein­fach auf der Stra­ße abge­la­den und Hun­de-AA nicht weg­ge­macht. Das mit der Völ­ker­ver­stän­di­gung haben wir auch nicht per­fekt hin­ge­kriegt. Papa war gera­de mal auf EINER tür­ki­schen Hoch­zeit in 45 Jah­ren und sei­ne exo­tischs­te Freun­din kam aus Köpe­nick. In mei­ner Schul­zeit kamen die Poli­ti­ker auf die glor­rei­che Idee, ganz Aus­län­der­klas­sen auf­zu­ma­chen. Als groß geschos­se­ner, blon­der Dritt­kläss­ler war ich nicht gera­de beliebt bei den „Inte­gra­ti­ons­schü­lern“ der Vier­ten. Wobei … Sam­ko war egal, woher ich kom­me. Der für sein Alter schon recht kräf­tig gebau­te Jugo­sla­we gab mir das eine oder ande­re Mal Geleit­schutz nach Hau­se. Vie­le Wed­din­ger sind auch sehr arm, was dir viel­leicht in dei­nem Her­zen weh tut. Fast 79 Pro­zent aller Kin­der und Jugend­li­chen rund um die Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße leben in Armut. Auch die Wed­din­ger Opis und Omis sind viel ärmer als in ande­ren Tei­len Berlin.

Die Qual der Wahl

Kind – nun ent­schei­de dich! Dass der Wed­ding in 15 Jah­ren hip ist, war gelo­gen. Aber willst du denn, dass er ein zwei­ter Prenz­lau­er Berg wird? Papa war eine Zeit lang ger­ne da drü­ben bei den gut betuch­ten Men­schen am Koll­witz­platz und fand das gan­ze Trei­ben ziem­lich schau. Heu­te ist er ehr gelang­weilt davon und genießt die Ecken und Kan­ten sei­nes Kiezes. Du hast die Wahl: ein Leben in einer „Gated Com­mu­ni­ty“ in Zehlen­dorf oder ein authen­ti­scher Schmelz­tie­gel aus Armut, Viel­sei­tig­keit und Authen­ti­zi­tät. Du weißt nicht was Authen­ti­zi­tät ist? Du musst dir ein­fach die Fra­ge stel­len: Magst Du dein gan­zes Leben nur die­se sal­zi­gen Fisch­ei­er essen oder mal einen Döner, dann wie­der ein Scho­ko­la­den­eis und am nächs­ten Tag viel­leicht Pas­ta mit Tomatensoße?

Wedding im Jahr 2033

Pau­li­ne hat den Rat ihres Vaters beher­zigt und gelernt, gelernt und noch­mals gelernt. Der Abi-Schnitt reich­te für ein Medi­zin­stu­di­um an der Frei­en Uni­ver­si­tät. Ihr Traum ist es, in einem Kran­ken­haus in Tan­sa­nia Ärz­tin zu sein. Mit ihrem Freund Hasan hat sie gera­de erst eine Woh­nung in der Gericht­stra­ße bezo­gen. Hasan kommt aus einer moder­nen mus­li­mi­schen Fami­lie, die ihren Glau­ben eher im Stil­len prak­ti­zie­ren. Dass Pau­li­ne Athe­is­tin ist und auch nie einer Glau­bens­rich­tung ange­hö­ren will, fin­den sie völ­lig okay.

Ach so – ein wich­ti­ges Detail habe ich ver­ges­sen: Der Wed­ding ist natür­lich nicht hip gewor­den. Wel­cher Voll­depp hat bloß die­ses Gerücht in die Welt gesetzt? Eher wird der Flug­ha­fen BER fer­tig oder wir hören von Donald Trump den legen­dä­ren Ber­li­ner Satz: „Ich bin schwul und das ist gut so!“

Text/Fotos: Andre­as Oertel

Autorenbild Andreas OertelAndre­as Oer­tel ist einer der weni­gen gebür­ti­gen Wed­din­ger im Wed­ding­wei­ser-Team. Er muss es daher wis­sen, wie es sich anfühlt, hier aufzuwachsen. 

 

 

 

Wir sind nomi­niert für den Deut­schen Nach­bar­schafts­preis. Noch bis zum 22. August könnt ihr für uns abstim­men  – www.nachbarschaftspreis.de

7 Comments Leave a Reply

  1. Hal­lo Andre­as, schö­ner Bei­trag :-). Bleibt zu hof­fen, dass bis 2033 noch was vom guten alten Wed­ding übrig geblie­ben ist und wir nicht den Weg von PB oder Fh gehen. Ich füh­le mich hier im Brüs­se­ler Kiez jeden­falls recht wohl und das seit gut 10 Jahren.
    Bes­te Grü­ße von dei­nem Ex-Kol­le­gen Norbert

  2. Als Leh­re­rin an einer Wed­din­ger Schu­le und Mut­ter zwei­er Wed­din­ger Kin­der, die hier in Kita & Schu­le wun­der­bar sozia­li­siert wur­den, möch­te ich hier den ein­fachs­ten und nor­mals­ten Weg, sich mit sei­nem Umfeld aus­ein­an­der­zu­set­zen und es dann viel­leicht sogar, so wie wir, lie­ben zu ler­nen, beto­nen: Da zur Schu­le zu gehen (!), wo man lebt. Aller­dings, so schön wir den Wed­ding auch fin­den, wäre ich doch froh, wenn mei­ne Kin­der sich spä­ter auch mal etwas mehr von der Welt ansehen …

    • Guten Abend Sybil­le, ich saß ges­tern mit einem Freund in der Gol­den Lounge Soldiner/Prinzenallee und wir spra­chen über Schu­len im Bezirk mit guten Kon­zep­ten – bei­spiels­wei­se über die Qui­noa Schu­le gleich um die Ecke. Plötz­lich wur­de auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te eine Frau nie­der­ge­schla­gen und es kamen Feu­er­wehr und Poli­zei. Die­ser Abend spie­gelt glau­be ich ganz gut den Kon­flikt wie­der, den Wed­din­ger Eltern haben.

    • Hal­lo Kort, bei den vie­len Flug­hä­fen in Ber­lin kom­me ver­lie­re ich manch­mal den Über­blick (-; Ent­schul­di­ge – wir kor­ri­gie­ren das!

  3. Lie­ber Andreas,
    ich habe dei­nen Bei­trag sehr ger­ne gele­sen und ja, so fühlt es sich an, im Wed­ding auf­zu­wach­sen. Und ja, du hast recht, es ist eine bun­te leben­di­ge Welt! Ich habe zwi­schen­durch in Hei­li­gen­see gewohnt, aus genau den Grün­den, die du auf­zählst, ich woll­te, dass mein Kind nicht im Wed­ding zur Schu­le gehen muss.
    Aber jetzt bin ich wie­der hier 🙂
    Vie­le Grü­ße von Susanne

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