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Arbeit im Wedding – wie man’s nimmt.…

14. September 2010
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Titel "Der Wedding" Nr. 3Arbeit im Wed­ding? “Erst die drit­te Aus­ga­be, und schon fällt den Schrei­ber­lin­gen des Maga­zins Der Wed­ding kein lebens­na­hes The­ma mehr ein”, möch­te man spon­tan aus­ru­fen. Ein­spruch! Der Erwerb der Zeit­schrift lohnt sich gera­de des­we­gen. Die Fra­ge ist nur, wie man Arbeit definiert.

Im his­to­ri­schen Kon­text  ist der Arbei­ter­be­zirk Wed­ding gera­de­zu der Inbe­griff für Malo­che im Ber­li­ner Stadt­ge­fü­ge. Ohne AEG, Sche­ring und Osram hät­te der Stadt­teil heu­te ein ande­res Gesicht. Den­noch: die nur 25 Jah­re alten Schwarz­weiß-Fotos im Maga­zin wir­ken nicht nur wie Bil­der aus einer ande­ren Zeit, son­dern auch wie aus einer ande­ren Stadt. Die Mül­lerstra­ße von damals, auf der noch „nie­mand her­um­steht“, weil die meis­ten auf Arbeit sind, ist heu­te die Stra­ße, auf der vie­le Leu­te her­um­lau­fen, für die in der heu­ti­gen Arbeits­welt kein Platz mehr ist. Die Men­schen sind aber den­noch da, und so gese­hen ist bereits das Nicht­vor­han­den­sein eines (gut) bezahl­ten Arbeits­plat­zes ein The­ma im neu­en Der Wed­ding. Das Maga­zin zeigt die, die 35 Stun­den arbei­ten und trotz­dem kaum mehr haben als die Stüt­ze – eben­so wie die, die in Bewer­bungs­trai­nings Lebens­läu­fe schrei­ben ler­nen, nur um einen wei­te­ren Punkt zu ihrem Lebens­lauf hinzuzufügen.

Wie der Lebens­lauf eines Krea­ti­ven heu­te aus­sieht – und wie der sei­ner Mut­ter vor vier­zig Jah­ren aus­sah, las­sen die Macher des Maga­zins unkom­men­tiert neben­ein­an­der ste­hen. Dafür wird die schö­ne neue Arbeits­welt aber umso treff­si­che­rer mit aus­sa­ge­kräf­ti­gen Zah­len ana­ly­siert. Eben­so der Wan­del der Begriff­lich­kei­ten: “spa­ren” für’s Alter ist out, dafür soll heu­te “pri­vat vor­ge­sorgt” wer­den. Was die unstän­dig Beschäf­tig­ten aber nicht tun. Immer in dem Bewusst­sein, dass die gesetz­li­che Ren­te nicht rei­chen wird und man eben im Alter wei­ter­ar­bei­ten muss. Oder bet­teln gehen wird. Dies ist eben­so ein Aspekt des Begriffs “Arbeit”. Ist frü­her schon ein­mal jemand auf die Idee gekom­men, Bett­lern ihr Papp­schild – teil­wei­se mit kom­pli­zier­ten Erklä­run­gen – abzu­kau­fen? Begeg­nun­gen der drit­ten Art im Wedding…

Aber wer sagt denn, dass man unbe­dingt “arbei­ten müs­sen” muss? Man kann es auch frei­wil­lig tun – so wie eini­ge Rent­ner, die sich betä­ti­gen wol­len, so lan­ge es gesund­heit­lich noch geht. Auch die­se gar nicht so all­täg­li­chen Por­träts fin­den sich im Maga­zin für Alltagskultur.

Es muss nicht mehr erwähnt wer­den, dass das Lay­out und die Foto­stre­cken wie­der eine qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge Remi­nis­zenz an den All­tag sind. Hin­ter der so gewöhn­lich aus­se­hen­den Optik mit den unin­spi­riert wir­ken­den Schrift­ar­ten und dem Ver­zicht auf Gra­fik im künst­le­ri­schen Sinn steckt Absicht. Der Wed­ding bemüht sich auf die­se Art, den Durch­schnitt und das Unspek­ta­ku­lä­re in Sze­ne zu set­zen. Daher kom­men dar­in auch Leu­te zu Wort, die in ande­ren Zeit­schrif­ten nie­mals auf­tau­chen wür­den. Sicher nur in die­sem Maga­zin wer­den Men­schen auf der Stra­ße zu dem Wed­din­ger Lieb­lings­bein­kleid befragt, und her­aus kom­men kei­ne spöt­ti­schen Betrach­tun­gen, son­dern eine Kul­tur­ge­schich­te der Jog­ging­ho­se. Ernst gemeint. Damit wird die Zeit­schrift erneut dem hoch gesteck­ten Anspruch gerecht, nicht nur den gleich­na­mi­gen Ber­li­ner Orts­teil abzu­bil­den, son­dern ein Stück deut­sche Groß­stadt­rea­li­tät, die auf vie­le Städ­te über­trag­bar sein könnte.

In Ber­lin-Wed­ding zu woh­nen, kann übri­gens auch ein Pri­vi­leg sein. Dort kos­tet “Der Wed­ding” näm­lich einen Euro weni­ger als woan­ders. Die fünf bzw. sechs Euro sind aber in jedem Fall gut inves­tiert. Egal, ob man sie durch eine Erwerbs­tä­tig­keit, Selb­stän­dig­keit oder Bet­teln erar­bei­tet hat.

Mehr im Inter­net: http://derwedding.de

“Der Wed­ding” ist ab sofort in aus­ge­wähl­ten Geschäf­ten sowie im Bahn­hofs­buch­han­del erhältlich. 


Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

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