Arbeit im Wedding? “Erst die dritte Ausgabe, und schon fällt den Schreiberlingen des Magazins Der Wedding kein lebensnahes Thema mehr ein”, möchte man spontan ausrufen. Einspruch! Der Erwerb der Zeitschrift lohnt sich gerade deswegen. Die Frage ist nur, wie man Arbeit definiert.
Im historischen Kontext ist der Arbeiterbezirk Wedding geradezu der Inbegriff für Maloche im Berliner Stadtgefüge. Ohne AEG, Schering und Osram hätte der Stadtteil heute ein anderes Gesicht. Dennoch: die nur 25 Jahre alten Schwarzweiß-Fotos im Magazin wirken nicht nur wie Bilder aus einer anderen Zeit, sondern auch wie aus einer anderen Stadt. Die Müllerstraße von damals, auf der noch „niemand herumsteht“, weil die meisten auf Arbeit sind, ist heute die Straße, auf der viele Leute herumlaufen, für die in der heutigen Arbeitswelt kein Platz mehr ist. Die Menschen sind aber dennoch da, und so gesehen ist bereits das Nichtvorhandensein eines (gut) bezahlten Arbeitsplatzes ein Thema im neuen Der Wedding. Das Magazin zeigt die, die 35 Stunden arbeiten und trotzdem kaum mehr haben als die Stütze – ebenso wie die, die in Bewerbungstrainings Lebensläufe schreiben lernen, nur um einen weiteren Punkt zu ihrem Lebenslauf hinzuzufügen.
Wie der Lebenslauf eines Kreativen heute aussieht – und wie der seiner Mutter vor vierzig Jahren aussah, lassen die Macher des Magazins unkommentiert nebeneinander stehen. Dafür wird die schöne neue Arbeitswelt aber umso treffsicherer mit aussagekräftigen Zahlen analysiert. Ebenso der Wandel der Begrifflichkeiten: “sparen” für’s Alter ist out, dafür soll heute “privat vorgesorgt” werden. Was die unständig Beschäftigten aber nicht tun. Immer in dem Bewusstsein, dass die gesetzliche Rente nicht reichen wird und man eben im Alter weiterarbeiten muss. Oder betteln gehen wird. Dies ist ebenso ein Aspekt des Begriffs “Arbeit”. Ist früher schon einmal jemand auf die Idee gekommen, Bettlern ihr Pappschild – teilweise mit komplizierten Erklärungen – abzukaufen? Begegnungen der dritten Art im Wedding…
Aber wer sagt denn, dass man unbedingt “arbeiten müssen” muss? Man kann es auch freiwillig tun – so wie einige Rentner, die sich betätigen wollen, so lange es gesundheitlich noch geht. Auch diese gar nicht so alltäglichen Porträts finden sich im Magazin für Alltagskultur.
Es muss nicht mehr erwähnt werden, dass das Layout und die Fotostrecken wieder eine qualitativ hochwertige Reminiszenz an den Alltag sind. Hinter der so gewöhnlich aussehenden Optik mit den uninspiriert wirkenden Schriftarten und dem Verzicht auf Grafik im künstlerischen Sinn steckt Absicht. Der Wedding bemüht sich auf diese Art, den Durchschnitt und das Unspektakuläre in Szene zu setzen. Daher kommen darin auch Leute zu Wort, die in anderen Zeitschriften niemals auftauchen würden. Sicher nur in diesem Magazin werden Menschen auf der Straße zu dem Weddinger Lieblingsbeinkleid befragt, und heraus kommen keine spöttischen Betrachtungen, sondern eine Kulturgeschichte der Jogginghose. Ernst gemeint. Damit wird die Zeitschrift erneut dem hoch gesteckten Anspruch gerecht, nicht nur den gleichnamigen Berliner Ortsteil abzubilden, sondern ein Stück deutsche Großstadtrealität, die auf viele Städte übertragbar sein könnte.
In Berlin-Wedding zu wohnen, kann übrigens auch ein Privileg sein. Dort kostet “Der Wedding” nämlich einen Euro weniger als woanders. Die fünf bzw. sechs Euro sind aber in jedem Fall gut investiert. Egal, ob man sie durch eine Erwerbstätigkeit, Selbständigkeit oder Betteln erarbeitet hat.
Mehr im Internet: http://derwedding.de
“Der Wedding” ist ab sofort in ausgewählten Geschäften sowie im Bahnhofsbuchhandel erhältlich.
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