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Kurzer Blick in eine Notübernachtung der Kältehilfe

6. Januar 2017
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Obdach­lo­se war­ten vor der Not­über­nach­tung in der See­stra­ße. Foto: And­rei Schnell

“Herz­lich will­kom­men” steht auf einem A4-Blatt hin­ter einer Glas­schei­be. Ich wäre bei­na­he an der Tür vor­bei­ge­gan­gen. Es ist 18.55 Uhr. Ich lese: “Wir öff­nen um 19 Uhr”. Nach fünf Minu­ten War­ten ist mir kalt, ich zie­he mei­nen Pres­se­aus­weis und klop­fe an. Vor­bei an den Obdach­lo­sen, die wei­ter gedul­dig war­ten, wer­de ich ins war­me Haus hin­ein­ge­las­sen. Es ist der 4. Janu­ar und für den Stand­ort See­stra­ße in die­sem Win­ter die ers­te Käl­te­hil­fe-Nacht. An die­sem Abend und in die­sem ehe­ma­li­gen Büro­ge­bäu­de begeg­nen sich ver­schie­de­ne Men­schen. Die enga­gier­te Stu­den­tin trifft auf den Sozi­al­or­ga­ni­sa­tor. Und auch die Obdach­lo­sen sind beinache unsicht­bar anwe­send. Was ist das eigent­lich: Kältehilfe?

Die Obdachlosen

Zuerst über­se­he ich sie. Vor einer Haus­tür steht eine Grup­pe von Leu­ten. Dann erst mer­ke ich, ja, hier ist es. Ich habe sie über­se­hen. Ich habe nur nach der Haus­num­mer Aus­schau gehalten.

“Es herrscht ja schon am ers­ten Tag ein reger Andrang”, wun­dert sich Stadt­rat Ephra­im Gothe (SPD), im Bezirk unter ande­rem für Sozia­les und Gesund­heit zustän­dig. Er hat Jour­na­lis­ten ein­ge­la­den, beim ers­ten Tag der Käl­te­hil­fe in der See­stra­ße dabei zu sein. Es ist eine zusätz­li­che Not­über­nach­tung, die in die­sem Win­ter erst spät öff­net. Unter den Obdach­lo­sen hat sich der Ter­min bereits her­um­ge­spro­chen. “In der Sze­ne herrscht ein reger Aus­tausch”, sagt Ingo Bul­ler­mann, Geschäfts­füh­rer der Neu­en Chan­ce gGmbH, die die­se Not­über­nach­tung betreibt.

Taschen­kon­trol­le in der Not­un­ter­kunft. Foto: And­rei Schnell

Die Obdach­lo­sen, die an die­sem Abend auf Ein­lass war­ten, sind etwa 15 Män­ner unbe­stimm­ba­ren Alters. Sie schwat­zen, sie lachen. Aus irgend einem Grund irri­tiert mich, dass sie lachen. Viel­leicht weil ich nach fünf Minu­ten war­ten bereits schlech­te Lau­ne bekom­men habe? Wor­über beim War­ten gere­det wird, kann ich nicht ver­ste­hen, die Män­ner spre­chen eine ost­eu­ro­päi­sche Spra­che. Und wenn ich zu dicht her­an­ge­he, dann rie­chen sie unangenehm.

Den War­ten­den ist der Ablauf, den ich zum ers­ten Mal mit­er­le­be, ver­traut. Sie wer­den nach­ein­an­der ein­ge­las­sen. Immer zwei von ihnen. Als ers­tes wer­den sie durch­sucht. Die Haus­ord­nung ver­bie­tet Alko­hol, Dro­gen und spit­ze Gegen­stän­de. Die Mit­ar­bei­ter tra­gen wei­ße OP-Hand­schu­he. Vor dem Geruch der Män­ner kön­nen sie sich nicht schüt­zen. Aber sie las­sen sich nichts anmer­ken. Sie sagen freund­lich: “Wol­len Sie den Ruck­sack mit nach oben neh­men oder hier unten abstel­len?” Die “Nut­ze­rin­nen und Nut­zer”, wie die Pres­se­ein­la­dung des Stadt­rats höf­lich for­mu­lier­te, schrei­ben noch einen Namen in eine Lis­te. Ein Aus­weis ist dafür nicht nötig. Die Obdach­lo­sen wäh­len meist deut­sche Vor­na­men. Dann erhal­ten sie Bett­zeug und ver­schwin­den in die obe­ren Eta­gen, wo sich die Zim­mer mit den Bett­ge­stel­len befinden.

Aus­wei­se wer­den nicht kon­trol­liert. Name wird den­noch notiert. Foto: And­rei Schnell

Wäh­rend die­ser Pro­ze­dur sagen sie plötz­lich nur das Nötigs­te, geben knap­pe Ant­wor­ten. Sind sie über­rascht von den vie­len Leu­te mit gro­ßen Foto­ap­pa­ra­ten? Sind sie still, weil sie ein­zeln und nicht mehr in einer Grup­pe sind?

Im Erd­ge­schoss gibt es einen Raum, der von innen ver­schließ­bar ist. Er ist für bis zu sechs Frau­en vor­ge­se­hen. “Die­se sechs Plät­ze für Frau­en sind meist nicht voll belegt”, sagt Ingo Bul­ler­mann. Obdach­los sei­en vor allem Män­ner. Wegen der Gewalt auf der Stra­ße, wie meh­re­re Mit­ar­bei­ter sagen. Damit ste­hen in der See­stra­ße sechs Bet­ten für Frau­en gleich 53 Bet­ten für Män­ner gegen­über. Sie kön­nen kos­ten­los genutzt wer­den. Mor­gens um 8 Uhr müs­sen alle wie­der auf der Stra­ße sein. Bis dahin haben sie es warm. Die letz­ten Obdach­lo­sen sind noch nicht ein­ge­las­sen, da kom­men die ers­ten bereits wie­der die Trep­pe her­un­ter, um sich in den weiß getünch­ten Auf­ent­halts­raum zu set­zen. Dort war­ten sie auf Tee und Sup­pe. Eben­falls kos­ten­los. Man­che der Obdach­lo­sen sagen Bescheid, dass sie abends wie­der­keh­ren werden.

Die Helferinnen

Aus­ga­be von Bett­wä­sche für eine war­me Nacht. Foto: And­rei Schnell

Beim Emp­fang, in der Küche, in der Wäsche­kam­mer sind dage­gen die Frau­en in der Über­zahl. Stu­den­tin­nen sind es zumeist, die den Laden schmei­ßen, wie man so sagt. Ein­lass­zeit ist Stoß­zeit. Es gibt zwei fest ange­stell­te Mit­ar­bei­te­rin­nen und zwan­zig bis drei­ßig Stu­den­ten, die regel­mä­ßig oder unre­gel­mä­ßig hel­fen. Sie bekom­men eine klei­ne Auf­wands­ent­schä­di­gung. Ich kom­me ins Gespräch und spü­re, vie­le von ihnen hel­fen hier, um etwas Gutes zu tun. “Den Satz, in Deutsch­land muss nie­mand auf der Stra­ße leben, fin­de ich so assi”, sagt eine Stu­den­tin auf­ge­bracht. Sie holt einen Stoß fri­scher Wäsche aus der Kam­mer und legt ihn auf einer Bank für einen davor war­ten­den Obdach­lo­sen ab. “Es kann doch jeden tref­fen. Auch wenn wir es hier vor allem mit gestran­den­ten Arbeits­mi­gran­ten aus Ost­eu­ro­pa zu tun haben.”

In der Küche steht eine ande­re jun­ge Hel­fe­rin und öff­net gera­de eine 5‑Li­ter-Dose mit Lin­sen­sup­pe. Es ist auch ihr ers­ter Tag hier und sie ori­en­tiert sich noch. “Abends nur Tee, mor­gens auch Kaf­fee”, wird ihr erklärt. Auch sie freut sich, etwas Gutes zu tun. Aus dem Auf­ent­halts­raum drin­gen gedämpf­te Geräu­sche von Gesprä­chen herüber.

Es sind sehr vie­le Hel­fe­rin­nen und weni­ge Hel­fer da. In den Näch­ten wer­den vier Stu­den­ten, dar­un­ter auch immer männ­li­che Kom­mi­li­to­nen, Wache hal­ten. Auf den zwei Eta­gen im Haus mit den vie­len, klei­ne­ren Zim­mern ist der Wach­dienst schwe­rer als in den meist übli­chen Sälen mit bis zu 40 Bet­ten, heißt es.

Die Organisatoren

Ingo Bul­ler­mann ist Geschäfts­füh­rer der Neue Chan­ce gGmbH. Foto: And­rei Schnell

Beim Pres­se­ter­min ist auch Ingo Bul­ler­mann dabei. Er ist stu­dier­ter Sozi­al­ar­bei­ter und hat eine Wei­ter­bil­dung im Sozi­al­ma­nage­ment gemacht. Er ist der Geschäfts­füh­rer der Neue Chan­ce gGmbH. Er trägt Jeans und spricht ohne Umschwei­fe. Er sagt: “Die Stu­den­ten bekom­men eine Auf­wands­ent­schä­di­gung – Übungs­lei­ter­pau­scha­le.” Die Pau­scha­le erlaubt es unter bestimm­ten Bedin­gun­gen, neben­be­ruf­lich bis zu 2.400 Euro steu­er­frei zu ver­die­nen. Ingo Bul­ler­mann trägt Jeans und ist ein Typ, dem man ohne wei­te­res glau­ben wür­de, wenn er sagen wür­de, er steht jeden Mitt­woch selbst in der Küche, um Sup­pe zu erwärmen.

Aber wahr­schein­li­cher ist, dass sein Arbeits­stuhl vor einem Com­pu­ter steht. Der Begriff Sozi­al­ma­na­ger kommt mir pas­send vor. Er beschreibt, wie ein Mann wie Ingo Bul­ler­mann etwas Gutes tun will, aber dar­über die Zah­len nicht ver­drän­gen darf. Pro Nacht und Obdach­lo­sen berech­net er dem Bezirks­amt 16,95 Euro. Damit kann er in der See­stra­ße zwei haupt­amt­li­che Stel­len – “mit je einer Null­kom­ma­sie­ben­fünf  Stel­le” – finan­zie­ren. Stadt­rat Ephra­im Gothe sagt dazu: “Das ist nicht viel Geld.” 215 Plät­ze wer­den im Bezirk Mit­te ins­ge­samt bezahlt. Spen­den­fi­nan­zier­te Plät­ze kom­men hin­zu. Gleich drei Not­über­nach­tun­gen befin­den sich im Wed­ding, in Alt-Mit­te und in Moa­bit gibt es nur jeweils eine. Die meis­ten Plät­ze im Bezirk befin­den sich in der Not­über­nach­tung der Ber­li­ner Stadt­mis­si­on in der Lehr­ter Straße.

“Das meis­te Geld, das wir bekom­men, geht für die Miet­kos­ten ab”, sagt Ingo Bul­ler­mann. Das Gebäu­de in der See­stra­ße, das vom 4. Janu­ar bis Ende März für die Käl­te­hil­fe öff­net, gehört dem Land Ber­lin. Ver­mie­ter ist die GSE gGmbH, der Gesell­schaft für Stadt­ent­wick­lung. Ver­tre­ter der GSE sind eben­falls anwe­send. Sie tra­gen Anzü­ge. Sie wol­len in dem ehe­ma­li­gen Büro­haus in der See­stra­ße Ate­liers für Künst­ler errich­ten. Bezahlt aus dem För­der­topf “Ate­lier­pro­gramm”. Weil der Bescheid für den Umbau nicht recht­zei­tig vor­lag, ver­mie­tet die GSE nun (zum zwei­ten Mal) zur Aus­nah­me an die Neue Chan­ce gGmbH. 59 Men­schen erhal­ten durch die­sen Zufall war­me Win­ter­näch­te. Und im nächs­ten Jahr? Stadt­rat Ephra­im Gothe denkt dar­über nach, Back­pa­cker-Hos­tels zu gewin­nen. “Die haben ihre Sai­son im Som­mer und sind im Win­ter nicht aus­ge­las­tet”, über­legt er laut.

Herz­lich Will­kom­men in der Not­über­nach­tung Seestraße.

Auch eine Ärz­tin ist zum Ter­min gekom­men. Sie sagt, wenn mal jemand hus­tet, dann muss an Tuber­ku­lo­se gedacht wer­den. Wir ste­hen in einem sau­be­ren, lee­ren Raum im zwei­ten Stock. Jemand sagt, es sei nicht leicht, die Obdach­lo­sen dazu zu bewe­gen, wei­te Wege zu einem Arzt zu gehen. In dem wei­ßen Raum sind die Obdach­lo­sen gefühlt plötz­lich weit weg. Dabei war­ten sie bloß im Erd­ge­schoss auf die Suppe.

Unsichtbar

Ich bin wie­der drau­ßen. Nur kurz bin ich in der kal­ten Abend­luft. Das Auto parkt nicht weit und der Weg nach Hau­se ist schnell zurück­ge­legt. Ich habe es warm. Schon allein des­halb kann ich mir das Leben eines Obdach­lo­sen in Wahr­heit nicht vor­stel­len. Den All­tag eines Men­schen, “denen das Leben viel abver­langt hat, die sich aber auch durch­schla­gen kön­nen”, wie Ingo Bul­ler­mann sagt. Auch bei die­sem Ter­min, wo es doch haupt­säch­lich um sie ging, habe ich sie nicht ken­nen gelernt. Sie blie­ben für mich auf eine merk­wür­di­ge Wei­se unsichtbar.

Text und Fotos: And­rei Schnell

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

3 Comments Leave a Reply

  1. Inter­es­san­tes Foto vom GF der Betrei­ber­fir­ma… Und wenn du gewollt hät­test, And­rei, hät­test du auch bei die­sem Ter­min jeden Obdach­lo­sen ken­nen­ler­nen kön­nen. Sie waren da. Sie waren nicht unsichtbar.…

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