Der Parkplatz zwischen Drontheimer und Tromsöer Straße an einem Sonntag: vereinzelte Autos, kaum ein Mensch. Hinterm Einrichtungsmarkt, bei den Müllcontainern und Palettentürmen fahre ich Rollschuh, ziehe schnelle, enge Runden, den Blick auf den Asphalt geheftet, der an dieser Stelle, aber nur an dieser Stelle, warum auch immer, besonders fein strukturiert und glatt ist. Als ich stoppe, steht da ein Mann, wenige Schritte entfernt. Er hält zwei Metallstäbe. Knapp einen Meter lang, aus Kupfer, offenbar Schweißdrähte, an einem Ende um 90 Grad geknickt, wodurch eine Art Griff entsteht. Der Mensch baut sich auf, sammelt sich, guckt in eine unergründliche Ferne. In den Fäusten hält er die Drähte wie ein schussbereiter Pistolero zwei langläufige Knarren. In seine millimeterkurzen Haare hat jemand rechts und links einen Scheitel rasiert. Er atmet durch und läuft los, gemessenen Schrittes, als nähere er sich einem Gegner zum Duell. Am unteren Saum seiner Jeans, über den Absätzen, hopsen zwei rechteckige, knallrote Flicken hinterher – was vermutlich keine Bedeutung hat, doch sind sie zu auffällig, um sie nicht zu erwähnen.
Der Mann wirkt konzentriert. Alle paar Sekunden schwingen die Schweißdrähte in seinen Fäusten nach rechts oder links. Dann hält er an, richtet die Stäbe neu aus, läuft weiter.
Hallo?
Er sei Archäologe, sagt er. Mit den Stäben könne er Gräber finden.
Hier, hinterm Einrichtungsmarkt?
Hier übe er nur. Wenn beide Drähte nach innen schwingen, erklärt er, zeigten sie einen unterirdischen Hohlraum an. Schwingen sie nach außen, stehe er auf einer Wasserader.
Unter diesem Asphalt befinden sich also Hohlräume und Wasseradern?
Hundertprozentig. Für gewöhnlich arbeite er im Libanon, dort habe er auf diese Weise etliche Schätze gefunden, einmal ein römisches Grab in 36 Meter Tiefe.
Ich nicke andächtig. Habe schon gehört und gelesen von Wünschelrutengängern und Wasseraderfindern – die Wissenschaft schließt deren Wirksamkeit nicht ganz aus. Endlich treffe ich mal einen.
Ein Windstoß treibt eine Plastiktüte über den Parkplatz, bläst sie auf, lupft sie ein paar Zentimeter hoch. Erinnert an den Film „American Beauty“.
Kann man das lernen, das mit den Stäben? Ja, sagt er, er habe einen Lehrgang besucht: sieben Tage, 1700 Euro, allerdings nur für Hohlräume. Wasser – er guckt mich ernst an – kann nicht jeder.
In „American Beauty“ filmt ein träumerischer, junger Mann, wie eine zarte, weiße Plastiktüte, vom Wind getrieben, minutenlang durch die Luft schwebt und tanzt. Er zeigt das Video einer Freundin. Zum ersten Mal versteht sie ihn. Sie greift nach seiner Hand. Eine wunderschöne Szene.
Er habe auch schon Riesenmenschen gefunden, sagt der Mann. Ein einzelnes Fingerglied – er deutet eine Strecke vom Boden bis zur Nasenspitze an – sei ungefähr so groß gewesen. Knirsch. Der Film, den ich gerade innerlich drehe, über Menschen mit fantastischen Fähigkeiten, bekommt böse Kratzer. Im Jemen und in Südarabien, sagt er, habe man etliche Riesenmenschenskelette gefunden. Um einen einzelnen dieser Schädel zu heben, seien sechs Männer unserer Größe nötig gewesen. Er lächelt beruhigend wie jemand, der gewohnt ist, in entgleiste Gesichter zu schauen. Und na ja, es werde ja immer noch gerätselt, wie die ägyptischen Pyramiden gebaut wurden. “Dabei – ist doch klar…” Dann verschwindet er ums Eck, grußlos, in eine Gasse, an die Werkstätten grenzen. Nach ein paar Sekunden rolle ich hinterher. Er ist weg.
Die Tüte, die der Wind vor dem Einrichtungsmarkt umhertreibt, ist nicht zart, es ist eine große Aldi-Tüte, eher plump und schwer. Wirkliche Schönheit will sich nicht einstellen. Ein Windbeutel. Und erst jetzt fällt mir das Warnschild auf, das an der Mauer hängt, vor der der Mann mit den rasierten Scheiteln auf- und ablief: „Vorsicht, Staplerverkehr.“
Autor Carsten Jasner wohnt seit Dezember 2013 im Soldiner Kiez. Er arbeitet hauptberuflich als Journalist und Autor, schreibt für Geo, Greenpeace-Magazin, P.M. und Brand Eins – über Wissenschaft, Umwelt, Wirtschaft und gesellschaftliche Themen. 2011 erschien sein Buch „Mut proben! Das Leben ist tödlich, aber es muss nicht sterbenslangweilig sein“. Den Blog Geschichten aus dem Wedding betreibt er nebenbei. Der Text “Hohlräume” erschien dort im Februar 2015.
Sehr poetisch. Sehr traurig, sehr schön.
So schön geschrieben!
[…] von Carsten Jasner gibt es auf seinem Blog Geschichten aus dem Wedding oder heute auf dem Weddingweiser. Carsten Jasner wohnt seit Dezember 2013 im Soldiner Kiez. Er arbeitet hauptberuflich als […]