
Wer die Gerichtstraße im mittleren Abschnitt entlanggeht, durchquert den Wedding wie unter dem Brennglas: Dichte Geschichten auf wenigen hundert Metern, eingefasst von Beton, Altbau, Geschichte und Gegenwart. Eine Straße, in der sich Kunst und Kommerz, Investorenarchitektur und besprühte Fassaden, Armut und Aufbruch aneinanderreihen wie in einer Collage.



Zwischen der hässlichen Ringbahnbrücke aus Beton und der ersten Häuserreihe ist die Zufahrt zu einem Netto. Eine alte Frau mit Kopftuch stützt sich auf ihren Gehstock und zieht einen Hackenporsche hinter sich her. Hier biege ich in die Gerichtstraße. Eine alte Gaslaterne hat unter der Bahnbrücke überlebt, doch sie scheint seit Jahrzehnten nicht von Spinnweben und Vogeldreck gereinigt worden zu sein. Die Druckbar ist schon seit vielen Jahren jeden Donnerstagabend für „Art & Pizza“ geöffnet – die einzigartige Möglichkeit, für wenig Geld einen Kunstdruck zu erwerben und etwas zu essen zu bekommen. Das mexikanische Restaurant gleich daneben ist eine weitere Einkehrmöglichkeit in der Gerichtstraße.



Die Hausfassaden sind an immer mehr Häusern wärmegedämmt und saniert – grau oder beige sind die bevorzugten Farben, an denen sich ablesen lässt, wo die Mieten wohl am höchsten gestiegen sind. Wo früher das Stadtbad war, steht heute ein kantiger Neubau. Mikro-Apartments, funktional, teuer, blass. Das alte Stadtbad war als "Stattbad Wedding" nach seiner Schließung als Schwimmbad einmal ein Hotspot für Street Art, für wilde Nächte, für diesen typischen Berlin-Mix aus Abbruchkante und Kreativhimmel. Jetzt steht hier ein Betonblock, an dem die Straße ihr Herz verloren hat.


Gegenüber wirkt es lebendiger. Bunte Fassaden, kleine Läden. Ein Geschäft für Kunst und Design namens Blink Blink lockt immer mehr Laufkundschaft an. Ein Kronleuchter im Laden glänzt gegen den grauen Charme der Straße. Direkt daneben: „The Forsberg“ – Bar und künstlerische Spielwiese.


Die Nummer 20, gekachelt mit braunen Fliesen bis in den Hof, scheint dem Sanierungstrend zu trotzen. In der Einfahrt putzt ein Taxifahrer seine Scheiben. Wohnt er hier? Oder wartet er auf den nächsten Einsatz? Das Tor zu Hausnr. 21/22 steht offen und zieht mich hinein. Dort wartet eine Überraschung: Im Hof steht eine zugewucherte Betonkonstruktion, die wie eine ausgediente Tankstelle aussieht. Und tatsächlich: Laut Internet befanden sich hier einmal die Roland-Garagen - mit eigener Tankstation.


Ein paar Schritte weiter öffnet sich das Jugendstilportal der Nummer 23. „Werkstätten des Nordens“ steht in alter Typo über dem Giebel. Im Vorderhaus das Community-Projekt "Baumhaus", in dem viel über die nachhaltige Zukunft unserer Stadt nachgedacht wird. Hinter der offenen Einfahrt: ein Gewirr aus Höfen und alten Fabrikbauten. Früher wurde hier produziert, heute wird in den Lofts gearbeitet und entworfen. Künstler*innen, Agenturen, Studios. Der Lack blättert, die Mieten sind hoch, aber der Charme ist geblieben. Ein bisschen Shabby-Chic, ein bisschen Berlin-Folklore, wie Touristen sie lieben. Doch die alte Frau, die die Müllcontainer nach Wertvollem durchforstet, konfrontiert mich mit der bitteren Realität.


Zurück auf der Gerichtstraße. Wie lange es die Apotheke dort schon gibt? Sie scheint der letzte Mieter aus einer längst vergangenen Zeit zu sein.

Eine Taube sitzt auf dem schönen schmiedeeisernen Gitter, wo die Straße die von einem Haus und einer Spundwand eingezwängte Panke überquert. Der sandige Uferweg auf der rechten Seite ist eine beliebte Promenade und führt zur Wiesenburg. An der Ecke zwischen Panke und Kolberger Straße ist das türkische Café Köse Bası in einem 80er-Jahre-Sozialbau; rauchend sitzen einige Gäste auf der Straße - durch ein paar bunt bepflanzte Blumenkästen vom Gehweg getrennt.



Drei Jugendliche liefern sich mit vermutlich geknackten Elektro-Leihrädern eine Verfolgungsjagd. Überhaupt sind viele Radfahrer auf der Gerichtstraße unterwegs. Ein Zebrastreifen unterbricht auf Höhe Kolberger Straße den regen Verkehrsfluss. Der Pankeweg überquert hier die breite Gerichtstraße und setzt sich in einem Grünzug fort, der mehrere Kilometer lang am Ufer entlangführt. Auf dem Brückengeländer steht eine halbvolle Bierflasche mit Jubi - ob wohl jemand daraus noch trinken wird? Der Spielplatz an der Panke ist der Anziehungspunkt für die Kleinen, die Seniorenfreizeitstätte Bottrop hinter den Büschen für die Alten, aber auch Hundebesitzer haben die kleine Grünanlage als Ziel.


Auf der nördlichen Straßenseite stehen wieder Altbauten. Meist sind die Fassaden besprüht; hier wirkt die Straße vernachlässigter als Richtung Nettelbeckplatz. Eine Einfahrt mit einem runden Torbogen jedoch wurde frisch saniert. Sie ist der Zugang zu den Gerichtshöfen, einer Kette von Gewerbehöfen, die eine Durchfahrt bis zur Wiesenstraße auf der anderen Seite des Häuserblocks ermöglichen. Beige gekachelt und hell gestrichen haben diese Fabrikhöfe einen anderen Charme als die Werkstätten des Nordens. Ateliers gibt es hier auch, und mehrmals im Jahr öffnen sie auch zu gemeinsamen Veranstaltungen ihre Türen.



Kaum bekannt ist, dass hier in der Straße einmal von Johann Schweiger der früher für Berlin so typische Durchsteckschlüssel erfunden wurde. Der Erfinder-Betrieb Kerfin existierte bis 2013, geblieben ist nichts als die Erinnerung an eine Zeit vor den Gegensprechanlagen. Der Straßenabschnitt endet an der Hochstraße – ein originell gezackter Eckbau, darin ein türkischer Friseur, der draußen seine Handtücher trocknet. Gegenüber trotzt ein namenloser Blumenladen den Jahrzehnten, eingeklemmt im Sockelgeschoss eines Plattenbaus. Die bunte Blumenpracht vor dem Laden steht im Kontrast zur Tristesse des Betonhochhauses.


Dann biegt ein 247er-Bus in die Hochstraße, die sich bergauf Richtung Humboldthain windet. Weiter hinten, dort wo Supermärkte, Autowerkstätten und Hinterhöfe übernehmen, verliert die Gerichtstraße ihre Originalität – wäre da nicht das Himmelbeet, das dem Abschnitt nahe der Grenzstraße zumindest im Sommer noch ein bisschen Farbe und Hoffnung schenkt. Eine Stunde Wedding in einer glanzlosen, aber quicklebendigen Straße geht zu Ende.


