Kolumne Die beiden Halbweddingerinnen wissen vermutlich nicht, wovon ich spreche. Fast jeden Tag überqueren sie die ehemalige Grenze nahe der Bernauer Straße. Mal laufen sie hinüber zum Mitte-Wohnsitz, mal radeln sie zurück zum Wedding-Domizil. Manchmal fahren sie mit der U‑Bahn unten durch, gelegentlich folgen sie dem Grenzstreifen mit der Straßenbahn in Richtung Prenzlauer Berg ohne einen Gedanken an die Bedeutung des historischen Schauplatzes.
Die Mauer ist für die Kinder nur eine Geschichte von früher. Es ist wie damals, als mein Urgroßvater immer vom Kaiser (dem echten Kaiser, nicht der Supermarkt!) sprach. Auch die Gedenkstätte an der Bernauer Straße sagt ihnen wenig. Es ist ein Ziel von langweiligen Schulexkursionen oder eine Art Skulpturenpark, nur ohne richtige Skulptur. Für sie gibt es keine Grenze, keine echte und keine gefühlte.
Die Halbweddingerinnen verbinden nichts mit der Mauer, sie sind zu jung. Oder zu alt, denn der kleine Weddinger ist ganz begeistert davon. Er läuft gern durch die rostigen Stäbe, steigt auf den Beobachtungsturm und will dann wissen, auf welcher Seite der Böse gewohnt hat. Völlig unverständlich ist für ihn beim Blick auf die Landkarte, wie man einen so großen Teil der Stadt einmauern konnte. Besonders interessiert ihn, wie das alles genau vonstatten gegangen ist: Haben die Leute das denn nicht gemerkt? Wie lange hat das denn gedauert, eine so lange Mauer zu bauen? Hast Du auch mitgebaut, Mama?
Ein beliebtes Spiel ist auch, zu überlegen, auf welcher Seite die Omas und Opas gewohnt haben. Sehr fasziniert hat ihn die Information mit den zugemauerten Fenstern. Immer wieder fragt er: Waren alle Fenster in der DDR zugemauert? Nein, sage ich, nur die direkt an der Mauer. Aber wieso denn das bloß, fragt er zurück, und ich könnte die Liste seiner Fragen beliebig fortsetzen … Den kleinen Weddinger interessiert die Mauer. Aber ihn interessieren auch Schiffe, und man kann ja nie wissen, welches Thema er aus seiner Kindheit mitnehmen wird in die Welt der Erwachsenen. Aber ich würde sagen, die Mauer hat gute Chancen.
Ich selbst war vor zwei Jahren mal auf einer Bühne zu Gast, um von meiner Ostbiografie zu erzählen und davon, wie ich im ehemaligen West-Berlin zurechtkomme und wie sich des Kuriosum anfühlt, dass mein Westen (Wedding) nun der arme Westen ist, der an den reichen Osten (Mitte) grenzt. Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich froh bin, dass die Mauer weg ist und dass ich gut zurechtkomme.
Anders als die Halbweddingerinnen kann ich, das erklärte ich damals auch dem Moderator, die Mauer fühlen, wenn ich die Bernauer Straße überquere. Wegen der Mauer ist mein Viertel irgendwann zur Sackgasse geworden und eine Sackgasse ist es bis heute, auch wenn ich die Brunnenstraße von Ost nach West und wieder zurück entlang gehen kann sooft ich
will. Es treffen hier noch immer zwei Sackgassen aufeinander, die beide Brunnenstraße heißen. Das liegt sicher an der stark befahrenen Bernauer Straße, die eine städtebauliche Barriere ist. Es liegt aber auch an der langen Teilung, die auch den Sozialraum brutal zerschnitten hat.
Ich weiß nicht mehr genau, ob ich Wessi oder Ossi bin. Ich bin vermutlich ein Weddinger Ossi geworden. Ganz sicher weiß ich aber, dass ich bestimmt noch mal 25 Jahre brauche, bis ich mich so unbefangen durch die Stadt bewege. So wie die Kinder es heute schon tun.
Foto/Text: Dominique Hensel
[…] Mauergedenkstätte Bernauer Straße […]
[…] Nordbahnhof, weichen. Nur wenige Schritte vom Gartenplatz entfernt befindet sich übrigens die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße. Ein bedrückender Ort der Erinnerung im Wedding, der bei keiner […]