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Großstadtfeeling pur:
Die Mutter aller Ecken: Seestraße/Müllerstraße

24 Stunden-Betrieb an einer der lautesten Stellen des Stadtteils

Die Ecke liegt im Schnitt­punkt zwei­er schnur­ge­ra­der Haupt­stra­ßen, der Ver­kehr rollt unauf­hör­lich in vier Rich­tun­gen. Hin­ter der Stra­ßen­schlucht der Mül­lerstra­ße kann man den Fern­seh­turm in der Ent­fer­nung erken­nen. Unter dem Asphalt wie­der­um rat­tert die U‑Bahn, auf der Ober­flä­che die Stra­ßen­bahn und hier fah­ren zwei Bus­li­ni­en. Mit dem Rad über die Kreu­zung zu fah­ren stellt eine gän­se­hau­ter­zeu­gen­de Mut­pro­be dar. Drum­her­um lie­gen Geschäf­te, Imbis­se, das Kino und Spät­is. Tag und Nacht ist hier was los, tobt das Rau­schen des Ver­kehrs, strö­men Men­schen aus allen Rich­tun­gen. An kei­ner ande­ren Stel­le ist der Wed­ding so urban wie an der Mül­lerstra­ße Ecke Seestraße.

Am U‑Bahn-Aus­gang sitzt ein Bett­ler, vorn­über­ge­beugt, man sieht sein Gesicht nicht. Er hält bei­de Hän­de vor sich gefal­tet auf der Stra­ße. In der so gebil­de­ten Scha­le lie­gen eini­ge Mün­zen. Vie­le has­ten vor­bei. Alle paar Minu­ten spuckt eine U‑Bahn oder eine Tram Dut­zen­de Umstei­ger aus, die schma­le Trep­pe neben dem Bett­ler ist per­ma­nent belebt. Alle Fahr­rad­stän­der sind belegt. Unten auf dem U‑Bahnsteig unter­hal­ten sich zwei Män­ner, die sich nicht ken­nen, über Gott und die Welt. Bis zur nächs­ten U‑Bahn, dann steigt einer der bei­den ein, abschieds­los. Oben auf der Kreu­zung: Über die aben­teu­er­lich schma­le Rad­spur wagt sich ein Roll­stuhl­fah­rer, dem es gelingt, im Strom der Autos mit­zu­schwim­men. Ab der Mit­tags­zeit füllt sich das Foy­er des Kinos, vie­le Jugend­li­che war­ten drin­nen und drau­ßen, schnat­ternd, tele­fo­nie­rend, in vie­len Sprachen. 

U-Bahn und Abstellanlage

Die Geräusch­ku­lis­se auf der Ober­flä­che ist beein­dru­ckend. Nicht nur wegen des Lärms der Fahr­zeu­ge, auch unzäh­li­ge Stim­men ver­mi­schen sich zu einem Klang­tep­pich. Dazwi­schen wird viel gehupt, geklin­gelt, laut­stark beschleu­nigt oder gebremst. Aus jeder der vier Rich­tun­gen kann in jede ande­re Rich­tung wei­ter­ge­fah­ren wer­den, das macht die Kreu­zung für den Stra­ßen­ver­kehr zum kom­plet­ten Irr­sinn. Vie­le Auto­fah­rer rol­len noch auf die Kreu­zung, obwohl klar ist, dass sie sie nicht räu­men kön­nen, bis die ande­re Rich­tung grü­nes Licht bekommt. Für die unzäh­li­gen Fuß­gän­ger ist es kaum mög­lich, die See­stra­ße in einer Grün­pha­se zu über­que­ren. Stän­dig liegt die Gefahr von Abbie­ge­un­fäl­len, Crashs oder ver­ba­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen den Ver­kehrs­teil­neh­mern in der Luft, gelin­gen wag­hal­si­ge Manö­ver. Oder auch nicht, denn manch­mal kracht es auch. Wer sich ein paar Minu­ten an eine der Ecken stellt, muss nicht lan­ge war­ten, bis das Mar­tins­horn eines Feu­er­wehr- oder Poli­zei­au­tos erklingt und sich ein Ein­satz­wa­gen sei­nen Weg durch das Cha­os bahnt. 

Haltestelle

Trotz aller Bewe­gun­gen und Men­schen­strö­me: Die Gebäu­de an den vier Ecken haben sich in den letz­ten hun­dert Jah­ren nur wenig ver­än­dert. Das Kino Alham­bra, so modern das heu­ti­ge Mul­ti­plex-Kino wirkt, befin­det sich schon seit über hun­dert Jah­ren an die­sem Stand­ort, seit 1921 auch unter die­sem Namen. Auf der Glas­fas­sa­de des 2001 eröff­ne­ten neu­en Gebäu­des wer­ben über­di­men­sio­na­le Trans­pa­ren­te für die neu­es­ten Block­bus­ter, und sogar auf die­ser Rie­sen­kreu­zung nimmt man die über meh­re­re Stock­wer­ke gehen­den Film­fi­gu­ren als beein­dru­ckend wahr. Das Tabak­ge­schäft Wols­dorff im gegen­über­lie­gen­den, reprä­sen­ta­tiv wir­ken­den Eck­haus aus dem Jahr 1912 hat auch schon Jahr­zehn­te über­dau­ert. Das gro­ße Restau­rant, das es in die­sem Gebäu­de lan­ge gab, ist aller­dings längst Geschich­te; ein Tex­til­dis­coun­ter brei­tet sich dort jetzt aus. 

Verkehr auf der Kreuzung

Die Ost­ecke besteht aus lau­ter klei­nen, fla­chen Gebäu­den, die alle für sich zu Wahr­zei­chen des Wed­ding gewor­den sind. Ein gro­ßes Eck­haus hat es hier nie gege­ben; schon das Bild, das Gus­tav Wun­der­wald 1927 von die­ser Ecke mal­te, zeigt die nied­ri­gen Gebäu­de. Und in dem klei­nen, irgend­wie pro­vi­so­risch wir­ken­den Ein­ge­schos­ser befand sich immer schon eine Knei­pe und heu­te das im Wed­ding sehr bekann­te tür­ki­sche Restau­rant Saray. Dahin­ter ragen die Wer­bung tra­gen­den Brand­wän­de der Nach­bar­häu­ser bis zur Ber­li­ner Trauf­hö­he auf und las­sen das nied­ri­ge Eck­haus umso zwer­gen­haf­ter erscheinen.

Eine Straßenecke

Nur die Nord­ost­ecke fällt aus dem Rah­men. Hier befin­det sich eine Fried­hofs­mau­er, genau an der Ecke ist der Ein­gang zum Urnen­fried­hof, wie die Let­tern in Frak­tur­schrift anzei­gen. Ab 1862 wur­den hier, außer­halb der dama­li­gen Stadt, zunächst die in der Cha­ri­té Ver­stor­be­nen beer­digt. In der Fried­hofs­mau­er gibt es einen Laden, der schon seit Men­schen­ge­den­ken die Auf­schrift „Grab­ma­le“ trägt, dane­ben der 50er-Jah­re-Kiosk mit der unter­ir­di­schen Toi­let­ten­an­la­ge, in dem sich inzwi­schen der Rebel Room Bur­ger-Imbiss befindet.

Die Ver­kehrs­pla­nung woll­te die Kreu­zung zer­stö­ren und die vom Plöt­zen­see kom­men­de Stadt­au­to­bahn per Hocht­ras­se dar­über­le­gen. Dar­aus wur­de nichts, die Abbie­ger müs­sen sich mit­ein­an­der arran­gie­ren. Drei­ßig Jah­re lang ende­te die U‑Bahn-Linie 6 hier an der See­stra­ße, hier muss­te auch frü­her schon zur Stra­ßen­bahn umge­stie­gen wer­den. Die ers­te Pla­nung der heu­ti­gen U9 sah ein­mal vor, dass die Stre­cke hier von der U6 abzwei­gen soll­te. Spä­ter ver­leg­te man die Lini­en­kreu­zung an den nahe­ge­le­ge­nen Leo­pold­platz, bis dahin nur ein unbe­deu­ten­der Platz. 1997 erreich­te dann die ers­te Stra­ßen­bahn­li­nie West­ber­lins wie­der die Ecke Seestraße/Müllerstraße.

Das ver­kehrs­reichs­te Herz des Wed­ding schlägt zwei­fel­los immer noch hier, und es ist auch die nicht abrei­ßen­de Flut an Men­schen aller Cou­leur, die die­se Kreu­zung so städ­tisch macht. Hier schlägt der hek­ti­sche Puls der Stadt beson­ders deut­lich, es gibt immer etwas zu sehen, stän­dig bricht neu­es Cha­os aus und löst sich meis­tens schnell wie­der auf. Auf wun­der­sa­me Wei­se, irgend­wie, funk­tio­niert die­se Kreu­zung, ganz egal wie viel Ver­kehr über sie rauscht, wie vie­le sich an die Ver­kehrs­re­geln hal­ten. Den Wed­din­gern, die über sie zum Ein­kau­fen, Umstei­gen, ins Kino, zu Ver­ab­re­dun­gen gehen, scheint das alles egal zu sein. Das allen macht die Kreu­zung zur: Mut­ter aller Ecken!

Panorama einer Kreuzung

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

5 Comments Leave a Reply

  1. Ich erin­ne­re mich, dass das „gro­ße Restau­rant“ von fran­zö­si­schen Besat­zungs­sol­da­ten genutzt wur­de.. Ob nur für Offi­zie­re oder auch die nie­de­ren Dienst­rän­ge weiß ich nicht. Ich kann mich auch nicht erin­nern, in wel­chem Zeit­raum die­se Nut­zung erfolgte.

  2. Der Tex­til­dis­coun­ter war schon da, bevor das “gro­ße Restau­rant” schloss. Da ist jetzt ein Wett‑, Spiel­sa­lon drin. Trotz des damals schon bestehen­den Ver­bots, neue in der Nähe von Kitas (Kaper­naum­kir­che) zu eröffnen.

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