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Eine Straße in Langzeitbelichtung

24. April 2019
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Nichts ist so bestän­dig wie der Wan­del, sagt man und doch pas­sie­ren die klei­nen Ver­än­de­run­gen um einen her­um zumeist schlei­chend und kaum wahr­nehm­bar. 9473 Stra­ßen gibt es in den Ber­li­ner Bezir­ken, eine davon ist die rund 500 Meter lan­ge Oude­nar­der Stra­ße. Dort wohnt Sebas­ti­an Franz und hält die Ver­än­de­run­gen sei­ner Stra­ße seit 12 Jah­ren foto­gra­fisch fest.

Sebas­ti­an Franz an sei­ner Straße

1986 ist er in die­se Stra­ße gezo­gen. Bis auf 4 Jah­re Unter­bre­chung, war es immer das glei­che Haus, immer die glei­che Woh­nung. Irgend­wann fiel es ihm auf, die­se ste­ti­ge Ver­än­de­rung, die man kaum bemerkt, weil sie im Klei­nen pas­siert. Das war im Jahr 2006.
Apple arbei­te­te im Gehei­men am iPho­ne, Nokia war die Fir­ma der Stun­de und in der Oude­nar­der Stra­ße gab es gera­de eine Koh­len­lie­fe­rung. Das war nicht unge­wöhn­lich, aber es war sel­ten gewor­den. Er hat­te die­ses Gefühl, irgend­et­was endet so lang­sam und so ent­schloss er sich spon­tan, die­sen Moment in der Oude­nar­der foto­gra­fisch festzuhalten.

Das ist nun 12 Jah­re her und bei die­sem einem Foto bliebt es nicht. Wenn der Plan auf­geht, so möch­te er ger­ne im Jah­re 2031 sagen kön­nen, 25 Jah­re Ver­än­de­rung in der Oude­nar­der Stra­ße fest­ge­hal­ten zu haben. 13 Jah­re feh­len noch. Fast Halbzeit.

Es sind die­se eigent­lich bana­len All­tags­si­tua­tio­nen, die so eine Stra­ße aus­ma­chen. Unschein­bar, aber den­noch merk­bar. Er ärgert sich ein biss­chen, nicht schon 1986 damit ange­fan­gen zu haben. Als die Lich­ter der Glüh­lam­pen in den Osram-Höfen noch strahl­ten und es kei­ne Bäu­me in der Stra­ße gab. Aber man kann nur mit dem arbei­ten, was man hat. Aus­ge­stat­tet ist Sebas­ti­an Franz mit einer Lei­ca und einer Mit­tel­for­mat­ka­me­ra, mit einem 50er und 80 mm Objek­tiv und Schwarz-Weiß-Filmen.

Auf­kle­ber in der Oude­nar­der © Sebas­ti­an Franz

Damals, in den 80igern, als er in den Wed­ding zog, lan­ge bevor er mit dem Pro­jekt Oude­nar­der anfing, war es ein biss­chen so wie heu­te, sagt Franz. Nur war­mes Was­ser gab es nicht. Die Mie­ten waren rela­tiv hoch in die­ser Stra­ße und eine Klo­bürs­te in der Woh­nung fun­gier­te damals als Begrün­dung einer hohen Abstands­zah­lung, salopp gesagt. Als er dann kurz­zei­tig den Wed­ding ver­ließ, wuss­te er, die­se Woh­nung darf er nicht auf­ge­ben, damit er bei einer Rück­kehr eine Chan­ce hat, wie­der in die­ser Gegend zu woh­nen. Unge­fähr 199394 kam es dann noch mal zur gro­ßen Stadt­flucht, Woh­nun­gen stan­den leer, „Zu ver­mie­ten”- Schil­der in den Fens­tern, auch wenn es gefühlt nie so den gro­ßen Leer­stand gab, in die­ser, sei­ner Straße.

Fünf Jah­re hat er am Thea­ter gear­bei­tet, danach 21 Jah­re in der JVA und dort unter ande­rem Foto­work­shops gege­ben, denn die Foto­gra­fie ist schon immer sein Hob­by. Auch in Zingst war er oft, hat dort bei Work­shops und Aus­stel­lun­gen mit­ge­macht. Nun ist er Pensionär.

Seit die­sem spon­ta­nen Ent­schluss, dem Gedan­ken, das sei viel­leicht der letz­te Koh­len­wa­gen, kamen vie­le wei­te­re Fotos dazu. Die Nega­ti­ve sam­melt er in einem Ord­ner, die dar­auf war­ten ent­wi­ckelt zu wer­den. Manch­mal tut er das auch, rich­tet dann sein Bade­zim­mer zur Dun­kel­kam­mer um, wie für Utes 30-jäh­ri­gem Jubi­lä­um, dem Fri­seur­la­den in der Stra­ße. Wie das geht, hat er sich selbst bei­gebracht, aber das ist auch nicht so schwer, sagt er. Nur bei den Mit­tel­for­mat­fil­men, die gibt er heu­te noch ab. Zu groß ist die Gefahr, den Film unbrauch­bar zu machen.

Ein Dia der Oude­nar­der © Sebas­ti­an Franz

Und so hat er einen Ord­ner, sor­tiert nach Jah­ren. Start 2006. Mal weni­ger, mal mehr Nega­ti­ve. Es sind Bil­der, die von 2019 sein könn­ten. Aus­ran­gier­te Fern­se­her auf dem Boden, Müll auf den Stra­ßen. Den McFit in den Osram-Höfen gab es nicht, es war die „Fit­ness-Wel­le“. Die Lin­ke wirbt auf Wahl­pla­ka­ten mit „Raus aus Afgha­ni­stan“. Dazwi­schen das Foto eines Autos, ein alter Wart­burg, das Foto schwarz-weiß. Man denkt, es könn­te auch 1986 sein, ist es aber nicht, es ist 2008.
„Rau­chen ver­bo­ten“ Zei­chen am Ein­gang zu Plus in den Osram-Höfen, heu­te eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wer­bung von E‑Plus und Cof­fee to go Becher aus Plas­tik, abge­stellt auf einem Strom­kas­ten. Wie man wohl in 10 Jah­ren dar­über denkt, fragt er sich.

Was immer wie­der auf­taucht auf den Dias, ein Auf­kle­ber der PDS, an einem Later­nen­pfahl. Noch klebt er, als stum­mer Zeu­ge der Geschich­te die­ser Stra­ße. Dann ein Dia mit einem Schild „Zu ver­mie­ten“ in einem Fens­ter. Spä­tes­tens da merkt man, was die­ses Etwas ist, was sich ver­än­dert. Die­ses nicht sofort im Gan­zen Greif­ba­re, aber den­noch Vor­han­de­ne. Zum Glück hat es jemand fest­ge­hal­ten. Und tut dies noch 13 Jah­re. Mindestens.

Andaras Hahn

Andaras Hahn ist seit 2010 Weddinger. Er kommt eigentlich aus Mecklenburg-Vorpommern. Schreibt assoziativ, weiß aber nicht, was das heißt und ob das gut ist. Macht manchmal Fotos: @siehs_mal
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1 Comment

  1. Ich habe von 1953 bis 1960 in der Oude­nar­der Stra­ße 2 gewohnt. Hat­te aber nie das Bedürf­nis zu wis­sen, wo der Name herkommt.
    Heu­te ist in Ouden­aard (Bel­gi­en) ein Christ­baum umge­fal­len. Wenn das die Her­kunft ist, fehlt ein „a“ im Namen.

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