Nichts ist so beständig wie der Wandel, sagt man und doch passieren die kleinen Veränderungen um einen herum zumeist schleichend und kaum wahrnehmbar. 9473 Straßen gibt es in den Berliner Bezirken, eine davon ist die rund 500 Meter lange Oudenarder Straße. Dort wohnt Sebastian Franz und hält die Veränderungen seiner Straße seit 12 Jahren fotografisch fest.
1986 ist er in diese Straße gezogen. Bis auf 4 Jahre Unterbrechung, war es immer das gleiche Haus, immer die gleiche Wohnung. Irgendwann fiel es ihm auf, diese stetige Veränderung, die man kaum bemerkt, weil sie im Kleinen passiert. Das war im Jahr 2006.
Apple arbeitete im Geheimen am iPhone, Nokia war die Firma der Stunde und in der Oudenarder Straße gab es gerade eine Kohlenlieferung. Das war nicht ungewöhnlich, aber es war selten geworden. Er hatte dieses Gefühl, irgendetwas endet so langsam und so entschloss er sich spontan, diesen Moment in der Oudenarder fotografisch festzuhalten.
Das ist nun 12 Jahre her und bei diesem einem Foto bliebt es nicht. Wenn der Plan aufgeht, so möchte er gerne im Jahre 2031 sagen können, 25 Jahre Veränderung in der Oudenarder Straße festgehalten zu haben. 13 Jahre fehlen noch. Fast Halbzeit.
Es sind diese eigentlich banalen Alltagssituationen, die so eine Straße ausmachen. Unscheinbar, aber dennoch merkbar. Er ärgert sich ein bisschen, nicht schon 1986 damit angefangen zu haben. Als die Lichter der Glühlampen in den Osram-Höfen noch strahlten und es keine Bäume in der Straße gab. Aber man kann nur mit dem arbeiten, was man hat. Ausgestattet ist Sebastian Franz mit einer Leica und einer Mittelformatkamera, mit einem 50er und 80 mm Objektiv und Schwarz-Weiß-Filmen.
Damals, in den 80igern, als er in den Wedding zog, lange bevor er mit dem Projekt Oudenarder anfing, war es ein bisschen so wie heute, sagt Franz. Nur warmes Wasser gab es nicht. Die Mieten waren relativ hoch in dieser Straße und eine Klobürste in der Wohnung fungierte damals als Begründung einer hohen Abstandszahlung, salopp gesagt. Als er dann kurzzeitig den Wedding verließ, wusste er, diese Wohnung darf er nicht aufgeben, damit er bei einer Rückkehr eine Chance hat, wieder in dieser Gegend zu wohnen. Ungefähr 1993⁄94 kam es dann noch mal zur großen Stadtflucht, Wohnungen standen leer, „Zu vermieten”- Schilder in den Fenstern, auch wenn es gefühlt nie so den großen Leerstand gab, in dieser, seiner Straße.
Fünf Jahre hat er am Theater gearbeitet, danach 21 Jahre in der JVA und dort unter anderem Fotoworkshops gegeben, denn die Fotografie ist schon immer sein Hobby. Auch in Zingst war er oft, hat dort bei Workshops und Ausstellungen mitgemacht. Nun ist er Pensionär.
Seit diesem spontanen Entschluss, dem Gedanken, das sei vielleicht der letzte Kohlenwagen, kamen viele weitere Fotos dazu. Die Negative sammelt er in einem Ordner, die darauf warten entwickelt zu werden. Manchmal tut er das auch, richtet dann sein Badezimmer zur Dunkelkammer um, wie für Utes 30-jährigem Jubiläum, dem Friseurladen in der Straße. Wie das geht, hat er sich selbst beigebracht, aber das ist auch nicht so schwer, sagt er. Nur bei den Mittelformatfilmen, die gibt er heute noch ab. Zu groß ist die Gefahr, den Film unbrauchbar zu machen.
Und so hat er einen Ordner, sortiert nach Jahren. Start 2006. Mal weniger, mal mehr Negative. Es sind Bilder, die von 2019 sein könnten. Ausrangierte Fernseher auf dem Boden, Müll auf den Straßen. Den McFit in den Osram-Höfen gab es nicht, es war die „Fitness-Welle“. Die Linke wirbt auf Wahlplakaten mit „Raus aus Afghanistan“. Dazwischen das Foto eines Autos, ein alter Wartburg, das Foto schwarz-weiß. Man denkt, es könnte auch 1986 sein, ist es aber nicht, es ist 2008.
„Rauchen verboten“ Zeichen am Eingang zu Plus in den Osram-Höfen, heute eine Selbstverständlichkeit. Werbung von E‑Plus und Coffee to go Becher aus Plastik, abgestellt auf einem Stromkasten. Wie man wohl in 10 Jahren darüber denkt, fragt er sich.
Was immer wieder auftaucht auf den Dias, ein Aufkleber der PDS, an einem Laternenpfahl. Noch klebt er, als stummer Zeuge der Geschichte dieser Straße. Dann ein Dia mit einem Schild „Zu vermieten“ in einem Fenster. Spätestens da merkt man, was dieses Etwas ist, was sich verändert. Dieses nicht sofort im Ganzen Greifbare, aber dennoch Vorhandene. Zum Glück hat es jemand festgehalten. Und tut dies noch 13 Jahre. Mindestens.
Ich habe von 1953 bis 1960 in der Oudenarder Straße 2 gewohnt. Hatte aber nie das Bedürfnis zu wissen, wo der Name herkommt.
Heute ist in Oudenaard (Belgien) ein Christbaum umgefallen. Wenn das die Herkunft ist, fehlt ein „a“ im Namen.