Wo sind eigentlich die vielen Flüchtlinge, die in den vergangenen zwei Jahren zu uns gekommen sind? Laut Statistik kamen in den Jahren 2015 und 2016 insgesamt 1,2 Millionen Asylsuchende nach Deutschland, doch wenn ich durch meinen Kiez laufe, sehe ich keinen von ihnen. Vielleicht, weil Wedding multikulturell ist und die Geflüchteten im Straßenbild nicht auffallen? Ich mache mich auf die Suche nach den Neuankömmlingen und lerne die 17-jährige Lana aus Syrien kennen.
Syrien, Sudan, Italien – Brunnenviertel
Lana kam vor zwei Jahren aus Damaskus, ist 17 Jahre und wohnt jetzt mit ihrer Familie im Brunnenviertel. Nach dem Ausbruch des Krieges und dem Erstarken der Terrororganisation Islamischer Staat sah ihr Vater keine sichere Zukunft mehr in Syrien und machte sich auf den Weg in Richtung Europa. Es folgte eine Odyssee mit Stationen im Libanon, dem Sudan, Libyen und Italien. Als der Tänzer und Choreograph in Berlin ankam, holte er seine Frau, Lana und Sohn Layth nach. Lana hat in den ersten Monaten viel geweint. Da waren die Bilder von Tod und Zerstörung sowie eine völlig fremde Umgebung. Nur zum Vergleich: Mit 15 war meine einzige Kriegserfahrung die des Kalten Krieges und meine größte Sorge war, dass ich wohl nie mit der schönen Martina aus meiner Klasse zusammenkomme.
Ein Beitrag zur Integration im Wedding
Auf meiner Suche lerne ich auch Svenja kennen. Sie hat über den Verein „Wir Gestalten“ mit Sitz in der Müllerstraße eine Patenschaft für Lana übernommen. Ich frage die zweifache Mutter, warum sie diese zusätzliche Aufgabe übernommen hat. Ihr Antrieb: Nachdem sie die Kriegsbilder und die unmenschlichen Flüchtlingskonvois in den Medien sah, musste die Körpertherapeutin etwas tun. Ihre Lösung für die Flüchtlingskrise klingt plausibel: „Integration findet statt, wenn jeder nur einen Kontakt herstellt.“ Svenja und Lana treffen sich wöchentlich und ich habe nicht das Gefühl, dass ihre Beziehung einseitig ist. „Lana strotzt vor Energie! Wenn ich zu müde für das geplante Picknick bin, nimmt sie die Organisation in die Hand. Und Layth unterhält dann einfach mal den kompletten Weinbergspark mit einer spontanen Piano-App-Performance“, freut sich Svenja.
Viele Pläne für die Zukunft in Deutschland und Syrien
Lana ist eine junge Frau mit vielen und großen Plänen. Sie möchte Medizin studieren, um Neurologin zu werden. Wenn ich das Tempo sehe, mit dem sie die deutsche Sprache erlernt hat, traue ich ihr das zu. Ich frage sie, ob sie als Ärztin wieder nach Syrien zurückkehren will. „Ich möchte ein Krankenhaus in Damaskus gründen. Das Gebäude baut mein Bruder, der Architekt werden will. Dann pendle ich zwischen Deutschland und Syrien hin und her“, träumt die Neuntklässlerin. Ich will wissen, ob Lana Probleme mit rassistischen Anfeindungen hat und ob sie die Angst versteht, die einige Deutsche vor den Flüchtlingen haben. Ihre Antwort ist ermutigend: Bis heute wurde Lana nicht wegen ihrer Herkunft diskriminiert. Die Ängste mancher Deutschen kann sie aber verstehen und erklärt das mit der Berichterstattung in den Medien: „Durch die Bilder von Gewalt und Terror in Syrien kann schnell ein falscher Eindruck von uns entstehen“.
Den Wedding gestalten
Kennengelernt habe ich Lana bei einer Aktion des „Wir Gestalten e.V.“ in der Müllerstraße, die vom japanischen Pharmakonzern Takeda unterstützt wurde. Im Rahmen dieser Aktion waren Kinder und Jugendliche eingeladen, ihre Geschichte zu erzählen. Als Belohnung winkte ein zwar gebrauchtes, aber voll funktionstüchtiges iPhone. Mit dem Smartphone soll das Erlernen der deutschen Sprache unterstützt werden. Dabei lernte ich das Flüchtlingskind Lana kennen.
Der Verein „Wir Gestalten“ engagiert sich für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und fördert das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen im ehemaligen Bezirk Wedding. Im Rahmen des Projektes „Kiezpatenschaften“ können Interessierte zum Beispiel jungen Menschen bei Hausaufgaben, Behördengängen oder der Suche nach einem Ausbildungsplatz helfen – ehrenamtlich. Ganz nebenbei entstehen zum Teil langjährige Freundschaften.
Text und Fotos: Andreas Oertel