Als nach London wegmigrierte Berlinerin und ehemalige Wahlweddingerin kommt jedes Mal Freude auf, wenn man mich mit einem Buch von Heiko Werning bedenkt. So schenkte mir meine Mutter zu Weihnachten 2011 das Werk „Mein wunderbarer Wedding“. Das Buch enthielt eine Widmung, die ich tatsächlich immer mal wieder ansehe: „Mit herzlichen Grüßen aus der alten Heimat nach London, dem Wedding Europas“ (ja, das ist wohl eine Weile her…). Nun sandte mir der Weddingweiser das aktuelle Buch „Vom Wedding verweht – Menschliches, allzu Menschliches“ zu.
Im neuen Buch warten 32 Texte auf den Leser. Vorwegnehmend kann ich schon empfehlen, diese alleinreisend im ÖPNV zu lesen, wenn man sich durch unterdrücktes Prusten und erinnernde Spätlacher zum Löffel machen möchte. Immerhin hat man so Platz beim Reisen.*
Heiko Werning ist Teil der Weddinger Brauseboys, die einmal wöchentlich im La Luz Erfahrungen aus dem Wedding zum Besten geben. Es sind stets Geschichten zum Schmunzeln, wenn nicht Lachen (zum Löffel machen im ÖPNV), kritische Anmutungen werden hierbei gar nicht vorenthalten. So ist der Begriff der Gentrifizierung entsprechend nicht nur beim (Ur-)Weddinger Alltag, sondern auch Teil so manchen Textes, zwischen den Zeilen oder auch direkt.
Ungeliebte Veränderungen
Wir erfahren in „Vom Wedding verweht“ mehr aus der Reihe “Paketzustellungen im Hause Werning” – der geneigte Leser weiß um des Autors Wohnsitz im Erdgeschoss und seine Zweitberufung als Sendungsumschlagplatz –, über eine ungesund daliegende Taube im Hof selber Adresse, über neulich beim Friseur, mehr oder minder geschwinde Reparaturvorgänge bei Schimmelbefall und einen, joa, kurz: Nazi, der beruflich Döner verkauft. Dazu gibt es allerlei Geschichten, die sich deutlich direkter mit dem Wedding selbst und seiner Natur, also seinem Sein und seinen Zukunftsaussichten befassen.
„Es ist nicht zu leugnen: Veränderungen sind jetzt auch bei uns im Kiez überall zu bemerken. Hörte man früher draußen auf der Seestraße ausschließlich Sprachen jenseits der Schulbildungskanons wie Türkisch, Arabisch oder Berlinerisch, spricht jetzt jeder zweite hier Englisch oder Spanisch“ (aus dem Text „Veganer Erstkontakt“).
Hier bin ich gedanklich zunächst immer ein wenig gestolpert. So denkt nun der gerade Mitlesende, was ich denn erwartet habe, wenn da schon im Titel was mit Wedding steht? Das ist eine Buchrezension, warum bringe ich mich jetzt hier mit meinem Privatleben ein. Nur eben: Wenn man im Brexitland Nummer eins lebt (gibt nur eins, Großbritannien), und das als Zugezogene, ist man naturgegeben umringt von Protektionismus, dass es einem die Fußnägel kringelt: Herkunft, hinzuziehen, Eindringling oder Bürger sein, nicht wirklich Londoner sein (wenn es denn um London geht), ja wo kommen wir denn da hin, wenn jetzt jeder… Britain, Britain, Britain! So sinniere ich also bei den ersten Zeilen, den ersten Paragrafen so mancher Geschichte, während ich mir mein Weddingbuch in der Londoner Tube zu Gemüte ziehe. Lese: „Ich bin jedenfalls skeptisch, was den neuen Wind hier angeht“ und eben von Veränderungen, die „bei uns im Kiez überall zu bemerken“ sind.
Mit bedachtem Blick durch den Kiez
Schnell werde ich jedoch stets von meinem stillen Sinnieren weggedrängt, versteht es Heiko Werning doch verlässlich, einfach scharf, wenn nicht gar vorsichtig (Halal versus Schweinefleisch) zu beobachten („Mit dem Alter wächst die Einsicht in die wiederkehrenden Kreisläufe des Lebens“, aus dem Text „Um die Breite einer Nuss“). Zu erkennen, dass vegane Gnocchi mit Unkrautstreuseln irgendwie doch essbar sind (muss ich wohl mal versuchen, widerstehe noch), dass das IPA beim Vagabund, wenn man denn Platz findet, echt trinkbar ist (stimmt) und das Mimimimi auf den Sklaventreiber Amazon (siehe Sendungsumschlagplatz Werning) dann doch irgendwie, naja, man bestellt halt schon auch mal… also ich habe laut geschmunzelt.
Das „Requiem auf das Müllerstraßenfest“ ist eine schlichtweg geniale Glosse. Und mehr so am Rande: Die Fauchschaben habe ich trotz des Namens fast liebgewonnen. Grandios finde ich jedes Mal den Einstieg und den letzten Satz, nicht nur befriedigend eloquent, sondern als ideale Klammer für bedachte Beobachtungen des Kiez-Umfeldes. Denn es ist ja nicht von der Hand zu weisen, der Wedding ist „Ghettoisierung, der kommende In-Bezirk, sozialer Brennpunkt, [erwartete] Gentrifizierung – irgendwas ist ja immer“.
So steige ich mit meinem Buch in der Hand in London Waterloo um und dränge mich gewohnt hastig vorbei an den Mitaussteigenden, und murmele wiederholt „Tschuljung“. Danke an Heiko Werning, hat funktioniert. Einmal mehr.
*Meine Weddingweiserrecherche zu Rezensionen ergab, es ist „voll peinlich, in der Ringbahn lauthals loszulachen. Und das ausgerechnet am Bahnhof Westend“ („Im wilden Wedding“, Autor mwb, 28. März 2014). Herrlich, wie sich das so fortsetzt…
Text: Simone Lindow, Fotos: Sulamith Sallmann
Vielleicht kommt die wegemigrierte Weddingerin wieder in den Wedding zurück 🙂
https://www.theguardian.com/politics/2017/apr/13/european-couple-stunned-as-uk-born-children-denied-residency