Romane wie "Tschick" und Sand" machten Wolfgang Herrndorf zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur. Die letzten zwei Jahre seines Lebens verbrachte der Autor am Weddinger Nordufer, wo er die Welt trotz schwerer Krankheit noch einmal mit neuen Augen sehen lernte. Sein Biograf Tobias Rüther spricht mit Fabian Peltsch über Herrndorfs Liebe für den Plötzensee und seinen Sinn für Schönheit inmitten hässlicher Zweckbauten.
Wolfgang Herrndorf ist sicher einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller, die jemals im Wedding gewohnt haben. Er hat hier ab 2012 die letzten beiden Jahre seines Lebens verbracht. Hatte er im Wedding am Ende auch eine Heimat gefunden?
Tobias Rüther: Herrndorf war nie ein Chronist der Stadt. Berlin im Wandel der Zeit: Das hat ihn nicht interessiert, darüber schreibt er nicht. Der Wedding hatte aber einen Special Place in seinem Herzen, weil er in der Spätphase seines Lebens, so um das Jahr 2011 den Plötzensee entdeckt. Da geht er dann ständig zum Schwimmen hin. Kurz darauf zieht er in die Nähe, in eine Dachgeschosswohnung am Nordufer. Die Wohnung war enorm wichtig für ihn. Er kaufte hier nach Jahren eines eher studentischen Lebens zum ersten Mal richtige Möbel.
In „Arbeit und Struktur“, seinem digitalen Tagebuch, das auch seine Krebserkrankung dokumentiert, ist ein kleines Foto von seinem Balkon abgedruckt.
Tobias Rüther: Ja. Er hat von dort oben einen anderen Blick auf die Welt. An seinem Lebensende wird sein Schreibstil weicher und melancholischer. Es gibt Passagen, wie er da am Fenster steht, den Himmel, die Vögel und den Kanal betrachtet. Oder eine Maus, die ihn besuchen kommt. Das sind wirklich sehr anrührende Stellen. Das ist auch eine Phase seines Lebens, in der er sich an seine Zeit als Maler in Nürnberg erinnert. Gleichzeitig ist diese Wohnung auch der Ort, an dem er Bilder und Aufzeichnungen und Briefe zerstört. Er setzt dort auch einen Schlussstrich unter einen bestimmten Teil seines Lebens.
Hat er hier auch realisiert, dass aus ihm bald ein großer deutscher Erfolgsautor werden könnte?
Tobias Rüther: Für Gedanken über seine historische Rolle hatte er keine Zeit. Er schaute dem Tod ins Gesicht und konzentrierte sich ganz streng auf die Arbeit an seinen Büchern. Als „Tschick“ dann durchstartete, ging er mit seiner Frau zum Asia-Imbiss am Friedrich-Krause-Ufer auf der anderen Seite vom Kanal. Zum Essen setzten sie sich auf den Parkplatz vom Aldi. Das ist der einzige Augenblick des Feierns von „Tschick“, von dem seine Witwe Carola Wimmer mir erzählt hat. Er hat sich sicher über den Erfolg von „Tschick“ gefreut. Aber nicht gedacht: Jetzt habe ich es endlich geschafft.
Was fand er an diesem kleinen innerstädtischen See so besonders?
Tobias Rüther: Herrndorf hat seine Kindheit in Norderstedt im Norden Hamburgs verbracht, da gab es einen Kiesgrubensee in der Nähe, auf dem er im Winter Schlittschuh gefahren ist. Seine Eltern kommen ursprünglich aus Preetz, einem Ort südlich von Kiel. Das ist eine Landschaft voller Seen, er hat auf dem Postsee dort als Kind viel Zeit verbracht. Diese Waldseehaftige des Plötzensees muss ihn dann ziemlich umgehauen haben. Den Plötzensee hat er oft beschrieben. Es gibt auch viele Fotos von ihm dort. Auch eines der letzten Treffen mit seinen Freunden aus dem Online-Forum „Höfliche Paparazzi“ fand am Plötzensee statt.
Auch den Deichgraf soll Herrndorf oft besucht haben.
Tobias Rüther: Das war jetzt nicht unbedingt eine Bar für Künstler und Literaten. Hier konnte man für wenig Geld einfach ein Bier und ein Schnitzel bekommen. Die heutigen Betreiber wissen von Herrndorf möglicherweise auch gar nichts. Als Herrndorf krank wurde, ist er auch nicht mehr so viel in Bars gegangen.
Für Ausflüge in die Weddinger Umgebung nimmt er sich aber offenbar trotzdem Zeit, wie man in „Arbeit und Struktur“ lesen kann. Dort schreibt er zum Beispiel, im Oktober 2011 „ich fahre mit dem Fahrrad das Nordufer entlang und freue mich wie wahnsinnig über Bäume und Autos und Licht.“ Und das, obwohl er da schon schwer krank war.
Tobias Rüther: Mit der Tumordiagnose setzt für ihn auch ein geregelter Tagesablauf ein. Das war in den zehn Berliner Jahren davor anders. Da lebte er oft in den Tag hinein. Und auch der Unterschied zwischen Tag und Nacht war ihm da im Grunde egal. Nun steht er früh auf und geht früh schlafen. Der Alltag wird sehr strukturiert, was auch mit seinen Therapieterminen zusammenhängt. Und ja, er geht auch viel spazieren, oft rund um den Plötzensee. Das war der Weddinger Ort, der ihm sehr wichtig wurde.
Als es dann mit seiner Gesundheit richtig bergab ging, bekam er auch Orientierungsschwierigkeiten. Auf einem Spaziergang findet er nicht mehr nach Hause. In „Arbeit und Struktur“ beschreibt er das eindrücklich und auch ziemlich tragisch. Da wird seine neue Heimat im Wedding dann plötzlich zum Labyrinth.
Tobias Rüther: Ja, er verliert da vollkommen die Orientierung und seine Freunde versuchen ihn nach Hause zu lotsen. Das alles macht ihm sehr zu schaffen.
Er hat sich dann auch früh entschlossen, sich am Kanal das Leben zu nehmen.
Tobias Rüther: Er erwähnt bereits in „Arbeit und Struktur“, dass er beim Spazierengehen über diese Frage nachdenkt. Er hat auch in Richtung Westhafen nach einem Ort gesucht - es wird dann aber eine Stelle am Ufer des Hohenzollernkanals. Wenn man dort heute steht, schaut man weit in beide Richtungen über den Kanal und die Brücken. Gegenüber hat man ja diese Zweckbauten und schrecklichen Hochhäuser und die Ausfallstraße nach Tegel. Auf traurige Weise ist auch dieser Ort ein sehr typischer Wolfgang-Herrndorf-Ort. Er hat immer gesehen, dass es in dieser industriell geprägten Landschaft, in diesem Zivilisationsschrott auch Schönheit gibt. Herrndorf war immer der Meinung, dass sich die Schönheit denjenigen zeigt, die auch ein Auge dafür haben.
Heute steht dort ein „kleines aus zwei T-Schienen zusammengeschweißtes Metallkreuz mit Blick aufs Wasser“, so wie er es sich in „Arbeit und Struktur“ gewünscht hat.
Tobias Rüther: Ja. Die Stelle ist aber kein Pilgerort geworden. Manchmal stehen Kerzen dort. Im Sommer wuchert die Stelle auch einfach zu. Ich könnte mir vorstellen, auch das hat er sich gewünscht. Dass sich dieser Ort mit diesem einfachen Kreuz seine Würde und Intimität bewahrt.
Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ist 2013 im Alter von 48 Jahren verstorben. Über zehn Jahre hat Tobias Rüther für seine Biografie recherchiert, die im August dieses Jahres im Rowohlt Verlag erschienen ist.
Ich komme oft und zu jeder Jahreszeit am Gedenkort vorbei. Jedes Mal mit Wehmut.
Gäbe es ihn nicht, würde ich ihn vermissen. Er ist mehr wert, als ein Friedhofsgrab inmitten all der Namenlosen.
Leute, hier fehlt ein Suizid-Disclaimer!!!!
*Wir berichten nur in Ausnahmefällen über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben. Wenn Sie selbst depressiv sind, wenn sie Suizid-Gedanken plagen, dann kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlose Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123. Die Deutsche Depressionshilfe ist in der Woche tagsüber unter 0800 / 33 44 533 zu erreichen.
https://www.telefonseelsorge.de/presse/hinweis-fuer-medialen-umgang-mit-suiziden/
https://www.deutsche-depressionshilfe.de/presse-und-pr/berichterstattung-suizide
Mann, Mann, Mann!
Natürlich sind Berichte über Suizide heikel. Das ist jedoch kein Bericht über einen Suizid. Aber ja, es wird an einer Stelle erwähnt, dass der Autor sich das Leben genommen hat. Das von uns veröffentlichte Interview erfüllt alle Standards des Presserats (Pressocodex) und ist auch nach den Empfehlungen auf den von Dir verlinkten Seiten ok. Es werden keine Details genannt, es ist nicht reißerisch oder romantisierend, es verletzte keine Persönlichkeitsrechte. Einen Disclaimer halten wir in dem konkreten Fall nicht für erforderlich.