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Wedding:2040 #1: Die Vergangenheit ist Prolog

12. Mai 2020

Das Jahr 2040. 20 Jah­re sind ver­gan­gen, seit Melis­sa, Rias bes­te Freun­din, spur­los ver­schwun­den ist. Ria kehrt an die­sem schmerz­er­füll­ten Jah­res­tag wie­der zurück an den Ort, wo Melis­sa das letz­te Mal gese­hen wur­de – und trifft sie dort plötz­lich wieder.

Eine Fort­set­zungs­ge­schich­te von Net­hais Sandt und Ruben Faust.

1 – Die Ver­gan­gen­heit ist Prolog

Lau­te Musik umhüllt die Men­ge an tan­zen­den Men­schen.  Wäh­rend ich herz­haft in den Kuchen auf mei­nem Tel­ler bei­ße, schaue ich immer mal wie­der auf mei­ne Arm­band­uhr. Die Zei­ger kom­men der Zwölf ver­däch­tig näher. Gleich wür­de es soweit sein. Gleich wür­de ich auf einen Tisch stei­gen und der Men­ge eine Rede hal­ten. Mein Herz klopft ganz wild vor Auf­re­gung und mei­ne Hän­de schwit­zen. Als der Zei­ger fünf vor zwölf zeigt, stei­ge ich auf den Tisch und schreie ein­mal laut “Leu­te! Leu­te! Ruhe bit­te!” Ein Typ, den ich noch nie zuvor gese­hen habe, ist geis­tes­ge­gen­wär­tig genug und dreht die Musik lei­ser. Um mich her­um ste­hen mei­ne Schul­freun­de und deren Freun­de . “Wie ihr alle wisst, sind wir heu­te alle nicht nur hier, um Par­ty zu machen, son­dern auch vor allem wegen Rias Geburts­tag”, sage ich und dre­he mich kurz  zu Ria um. “Lasst mich des­we­gen kurz eine Geschich­te erzäh­len.” Ein Rau­nen geht durch die Men­ge. Ria, die sich zur Fei­er des Tages eine kom­pli­zier­te Hoch­steck­fri­sur gemacht hat, wird rot. “Musst du das machen?”, fragt sie vor­wurfs­voll.Graphic Design: Ruben Faust” Ja. Muss ich. Heu­te. Vor 20 Jah­ren. Am 29. Febru­ar 2000. Ja, damals, da ist etwas ganz Beson­de­res auf der Welt pas­siert: Ich wur­de gebo­ren. Und nur ein paar Stun­den spä­ter ist die Welt noch ein gan­zes Stück bes­ser gewor­den, als Ria das ers­te Mal los­ge­schrien hat. Und weil ich jetzt gleich 20 gewor­den bin, habe ich mir das Recht erar­bei­tet, eine super-pein­li­che Geschich­te zu erzäh­len.” – “Bit­te nicht”, fleht Ria jetzt lachend als Ant­wort. Sie weiß lei­der zu gut, was für eine Geschich­te gleich kommt.  “Doch, doch. das muss erzählt wer­den”, ent­geg­ne ich.  Thea­tra­lisch las­se ich mei­nen Blick über die Men­ge schwei­fen und genie­ße die Auf­merk­sam­keit, die mir zuteil wird.  “Wir waren in der vier­ten oder fünf­ten Klas­se auf einer Fahrt im klei­nen Dorf Goll­witz. Und dort gab es einen Dis­ko­abend. Und weil wir so coo­le, jun­ge Damen damals waren, haben wir uns ent­schie­den, die Her­zen der anwe­sen­den Acht­kläss­ler-Jungs zu erobern”, erzäh­le ich wei­ter, wäh­rend Ria ihr Gesicht in ihren Hän­den ver­gräbt und ver­sucht sich zu ver­ste­cken. “Sie hat sich also einen der Jungs aus­ge­sucht, Manu­el – rich­tig? – und sie ist zu ihm hin und hat ihn ein­fach geküsst.” – Eini­ge Leu­te fan­gen an zu lachen, der Rest ver­sucht sich zurück­zu­hal­ten. Der Gedan­ke, dass Klein-Ria ein­fach zu einem um wei­tem älte­ren Typen gegan­gen war, um ihn zu küs­sen, ist ein­fach zu gut. Ich erin­ne­re mich an sei­nen ver­wun­der­ten Aus­druck und wie ihm sei­ne Kum­pels lachend auf die Schul­tern geklopft haben.
“Ich hät­te mir kei­nen bes­se­ren ers­ten Kuss wün­schen kön­nen”, wirft Ria nun sar­kas­tisch ein, was ihr ein paar wei­te­re Lacher ein­bringt. Sie ver­sucht wohl, gute Mie­ne zum bösen Spiel zu machen. Ich lache eben­falls und schaue dann auf mei­ne Arm­band­uhr. 23:59 Uhr.
“So, nach­dem ich das jetzt end­lich los­ge­wor­den bin: Las­set uns gemein­sam run­ter­zäh­len!”, rufe ich. Unse­re Gäs­te fol­gen mei­nem Bei­spiel und bli­cken run­ter auf ihre Han­dys und Uhren.  “10… 9… 8… 7… 6… 5…” Wir schrei­en immer lau­ter und lau­ter.  Die Luft um uns her­um fühlt sich wie elek­trisch auf­ge­la­den an. Rote Wan­gen, strah­len­de Augen. ” 4… 3… 2… 1…” ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG RIA!”, schrei­en wir im Chor. Die Musik wird wie­der lau­ter, ich stei­ge vom Tisch her­un­ter und umar­me Ria. “Fro­hen 20. Geburts­tag”, sage ich ihr, “Wie fühlt es sich an, alt zu sein?” – “Kei­ne Ahnung, sag du es mir”, lacht sie zurück. Dann ver­schwin­det sie in der Mas­se von Leu­ten und gibt sich der Men­ge an Umar­mun­gen und Gra­tu­la­tio­nen hin.

Die Nacht ist noch jung und die Musik ist noch laut. Als eini­ge Stun­den spä­ter die meis­ten Leu­te schon gegan­gen sind, tan­ze ich allei­ne vor mich hin.  “Melis­sa!”, ruft Erik nach mir, “mach die Musik aus. Es ist jetzt fünf Uhr mor­gens.” – “Ich bin aber noch gar nicht müde”, murm­le ich wütend. Jedoch muss ich geklun­gen haben wir ein bocki­ges Klein­kind, denn Erik ent­geg­net nur: “Doch, bist du. Und alle ande­ren sind weg oder schla­fen.” Ich sehe mich kurz um und bemer­ke, dass tat­säch­lich kaum jemand noch da ist.  Selbst Ria ist nicht zu fin­den.  Erik dreht die Musik voll­stän­dig aus und nimmt mich in den Arm. “Komm schon. Wir brin­gen dich jetzt ins Bett.”
Etwas belei­digt von dem Wis­sen, dass er recht hat, kom­me ich mit und lege mich in mein Bett. Die­ses haben wir erst vor ein paar Tagen, als Ria und ich frisch in die­se Woh­nung gezo­gen sind – auf­ge­baut. Erik gibt mir einen Kuss auf die Stirn und deckt mich einer Fleece­de­cke zu. Bereits im Halb­schlaf sehe ich, wie sich Erik neben mich auf das Bett legt. Ich bin jedoch  zu müde, um ihn wei­ter davon abzuhalten.

Eine Woche spä­ter schaue ich auf mein Hand­ge­lenk und muss ein Grin­sen unter­drü­cken.  Mein Tat­too ist noch ganz rot und pocht ganz schmerz­voll. An Rias Gesichts­aus­druck  sehe ich, dass es ihr ähn­lich geht. Nichts­des­to­trotz lächelt sie mir zu. “Das waren doch gran­dio­se zwei Stun­den unse­res Lebens oder?”, fragt sie iro­nisch und hakt sich bei mir ein.  “Zwei Stun­den vol­ler Schmerz und dem Sir­ren von Nadeln. Ehr­lich, ich habe das Gefühl,  zwei Flie­gen lie­fern sich gera­de einen Wett­kampf in mei­nem Ohr. SSS­S­S­S­S­S­S­ss.”   Sie wirft einen kur­zen Blick auf ihr eige­nes Hand­ge­lenk und hält es dann direkt gegen meins.  “Aber das war es wert. Ich könn­te mir kei­ne bes­se­re Per­son vor­stel­len, mit der ich mir sowas für mein gan­zes Leben unter die Haut ste­chen lasse.”
Ich schnei­de ihr eine Gri­mas­se und wir fan­gen an, die Mül­lerstra­ße hin­un­ter­zu­lau­fen. Es ist ein sein sehr schö­ner Tag, die Son­ne scheint, eine laue Bri­se weht. Ich stre­cke mei­ne Nase der Son­ne hin­ge­gen und genie­ße das Gefühl von Wär­me. Gera­de im März sind sol­che Momen­te die schöns­ten. Wenn die Hän­de, Ohren, Füße frie­ren und trotz­dem kein ein­zi­ger Hau­fen Schnee zu sehen ist. Ria neben mir summt eine Melo­die, die ich nicht genau ein­ord­nen kann, und rich­tet ihr Augen­merk auf einen net­ten, klei­nen Bücher­la­den.  “Guck mal!”, ruft sie begeis­tert. “Ein Bücher­la­den!” Sie manö­vriert ihren Arm geschickt aus mei­nen her­aus und rennt zum Ein­gang. Ich will ihr fol­gen, spü­re jedoch plötz­lich ein star­kes Zie­hen hin­ter mei­ner Stirn. Schmerz­er­füllt schlie­ße ich die Augen.  Mir wird auf ein­mal heiß und kalt zugleich. Mei­ne Bei­ne füh­len sich an wie Pud­ding und wol­len mich nicht so ganz hal­ten, wes­halb ich mich an die nächst­bes­te Later­ne leh­ne und tief ein und aus­at­me. Ein und Aus. Ein. Und Aus. Ein­und­Aus­Ein­Und­Aus­Ein­Und­Aus. Es wird nicht bes­ser. Jetzt dreht sich auch noch alles. Mir wird schlecht. Mein Herz klopft, als wol­le es sich aus mei­nen Brust­korb mit Gewalt aus­bre­chen.  “Ria…”,  kräch­ze ich. Ohne wei­ter was sagen zu müs­sen, dreht sie sich zu mir um. Wir sind nun schon exakt zwan­zig Jah­re befreun­det, da kann man die Gedan­ken der ande­ren auf fünf Meter Distanz hören. “Hey, was ist los…?”, fragt Ria. Ihre Augen haben einen besorg­ten Aus­druck ange­nom­men. Sie kommt auf mich zu gerannt und als sie mich an der Schul­ter berührt, pas­siert etwas sehr Selt­sa­mes. Jedes Gefühl von Schmerz und Übel­keit ist auf ein­mal weg. Es ist, als hät­te das Ste­chen hin­ter mei­nen Augen nie exis­tiert. Ich rich­te mich ver­wun­dert auf, noch unsi­cher, was ich von die­sem Ereig­nis hal­ten soll.  Habe ich viel­leicht die Lasa­gne nicht ver­tra­gen, die wir vor dem Tat­too- Ter­min geges­sen haben? Oder ist das ein Zei­chen von Schlaf­man­gel gewe­sen? Oder ist es gar das Tat­too selbst?
Ria schaut mich immer noch sehr besorgt von der Sei­te aus an.  “Hey, alles gut…” , sage ich in einem geküns­telt amü­sier­tem Ton. Mein Grin­sen fühlt sich auf jeder Ebe­ne her falsch an. “Rein­ge­fal­len?”
Ria schiebt die Augen­brau­en zusam­men und schlägt mich kurz. “Du Schwein. Ich dach­te wirk­lich, du hät­test einen Herz­in­farkt oder so.”  Sie sieht mich for­schend an. Ich rich­te mich auto­ma­tisch auf und bemü­he mich, ihrem Blick stand zuhal­ten. Ria hat vor kur­zem mit ihrem Jour­na­lis­mus-Stu­di­um ange­fan­gen. Sie riecht auf vier Kilo­men­ter Ent­fer­nung, wenn jemand lügt. Noch dazu besitzt sie eine solch star­ke Men­schen­kennt­nis, dass ich ich manch­mal fra­ge, wie sie jemals jemand hat täu­schen kön­nen.  Es ist ein­fach unmög­lich.  Auch jetzt scheint sie zu spü­ren, dass ich lüge, jedoch dreht sie sich ein­fach um und läuft lang­sam zum Bücher­la­den zurück.  Spä­ter wird sie mich noch­mal drauf anspre­chen, aber vor­erst hat sie sich ent­schie­den, nicht wei­ter nachzubohren.
Ich hole noch ein­mal tief Atem, schaue kurz in den kris­tall­kla­ren Him­mel hin­auf und bemü­he mich dann, zu ihr auf­zu­schlie­ßen. Was auch immer die­sen Anfall eben aus­ge­löst hat, er ist ein­ma­lig gewe­sen und wird hof­fent­lich auch nicht wie­der­kom­men.  Viel­leicht ist es eine gute Idee, mor­gen zum Arzt zu gehen.  Ein­mal kurz abche­cken las­sen. Nicht, dass sich ein Tumor in mei­nem Kopf bil­det.  Apro­pos Tumor…  Neu­gie­rig stre­cke ich mei­ne Hand aus und umfas­se ein klei­nes Buch mit blau­em Ein­band. Das Cover zeigt nicht viel mehr als zwei Blu­men, jedoch ent­de­cke ich weni­ge Sei­ten spä­ter eine Abbil­dung des mensch­li­chen Kör­pers, sowie detail­lier­te Beschrei­bung von Heil­pflan­zen. Mein Gebiet ist zwar die Lin­gu­is­tik, aber Heil­kun­de und Kräu­ter rufen eine gewis­se Fas­zi­na­ti­on in mir her­vor. Dar­an ist bestimmt mei­ne Mut­ter schuld. Schon als ich ganz klein war, hat sie immer und immer wie­der Feld­blu­men nach Hau­se gebracht und mir von ihnen erzählt.
“Heil­kräu­ter”, höre ich Ria neben mir belus­tigt sagen. “Natür­lich. Was auch sonst…” Sie hebt ein Buch hoch. “Wäh­rend du dir wei­ter Wis­sen zu Blu­men anhäufst, gehe ich mir mal die­sen Thril­ler drin­nen kau­fen. Der scheint ganz gut zu sein.”
“Hast du nicht schon genug Geld heu­te aus­ge­ge­ben..?”, fra­ge ich skep­tisch. Sie zuckt mit den Schul­ten, dreht sich an der Tür­schwel­le jedoch noch ein­mal kurz um und meint: “Geburts­tags­geld und so.”
Auf mein Lachen hin betritt sie den Laden. Ich lege das blaue Buch wie­der zurück. Ria hat schon Recht. Das Geld für ein Buch aus­zu­ge­ben ist sicher­lich kei­ne schlech­te Idee. Aber – nicht schon wieder.
Ein bren­nen­der Schmerz hin­ter mei­ner Stirn zwingt mich dazu, ste­hen zu blei­ben. Dies­mal ist der Schmerz gefühlt min­des­tens drei­mal so inten­siv. Die Übel­keit kehrt zurück, die Welt dreht sich. Ich spü­re, wie ich das Gleich­ge­wicht ver­lie­re und der Län­ge nach auf den Asphalt fal­le. Bevor mir schwarz vor Augen wird, sehe ich Ria aus dem Laden wie­der her­aus­kom­men, in der Hand eine Tüte mit dem Thril­ler drin. Ich höre ihre ver­wirr­te Stim­me, wie sie erst lei­se, dann immer lau­ter mei­nen Namen ruft.  Aber sie kommt nicht auf mich zuge­rannt,  den­ke ich in einem letz­ten bewuss­ten Moment,  Es ist bei­na­he so, als wür­de sie mich gar nicht sehen. 

Fort­set­zung folgt!

Alle Figu­ren und Namen sind rein fik­tio­nal und jede Über­ein­stim­mung mit der Rea­li­tät ist nur zufällig.

Wedding:2040 ist eine Wed­ding­wei­ser-Text­rei­he von Ruben Faust und Net­hais Sandt. Sie wird immer diens­tags und frei­tags weitergeführt.

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