Das Jahr geht zu Ende, der Jahresrückblick der Brauseboys kommt. Schon zum 10. Mal lädt die Weddinger Lesebühne für mehrere Wochen in den Comedyclub Kookaburra, um an die wirklich wichtigsten Themen des Jahres mit heiteren Texten und wahnwitzigen Liedern zu erinnern. Für den Weddingweiser fassen sie in diesem Jahr exklusiv die wichtigsten Weddinger Ereignisse zusammen, in vier Jahreszeiten unterteilt. Vier Wochen lang jeden Montag.
Frühling 2015
Berliner Wildlife (Volker Surmann)
Unser Haus bekommt ein Spechtmanagement. Was für ein komisches Wort. Klingt nach einer dieser neuen Führungsmethoden, wie sie diese Business-Esoteriker alle halbe Jahr auf den Markt schmeißen. Aber nein. Ich wohne an einem Park, und unser Haus hat Spechtbefall. Anfangs habe ich unserem Nachbarn im Seitenflügel gegenüber ja nicht glauben wollen: Jaja, Spechte klopfen an Ihren Wänden, von außen. Ham Sie mal wieder Schnaps getrunken, das kenn ich, da hat man hinterher auch immer das Gefühl, dass da gehörig was am Kopf rumhämmert. Aber nun komme ich nicht umhin, dem Nachbarn recht zu geben: Die rückwärtige, fensterlose Seitenflügelfassade unseres Hauses sieht aus wie ein Schweizer Käse mit gut vierzig aufgehackten Löchern drin. Und in diesem Frühjahr hörte ich es auch erstmals in den frühen Morgenstunden: trrrrrrrrrtt trrrrrrrrt … trrrrrrrt trrrrrrrt – und zwar etwa auf der Höhe meines Kopfkissens. Kein Zweifel: Ein Specht war gerade aushäusig am Werk! Und das schon morgens um sechs! Ja, das ist die wilde Großstadt!
Es ist schon traurig. Ich bin im Teutoburger Wald aufgewachsen. Auf einem Bauernhof. Um uns herum gab es nur Wald und Landschaft, sonst nichts; nur Natur! Doch meinen ersten Fuchs in freier Wildbahn habe ich auf der Gerichtstraße im Berliner Wedding gesichtet. Und mein erstes Wildschein, wie es gerade eine Mülltonne am Schlachtensee plünderte. Aber dit is Berlin! Hier füttern Waschbären ihren Nachwuchs mit Döner extrascharf, betrunkene Marder torkeln über Gehwege, nachdem sie wieder zu tief in die Motorschläuche mit dem Frostschutzmittel geschaut haben und Eichhörnchen fallen benommen vom Baum, weil sie im Görli statt Vorratsnüsschen wieder nur Haschisch ausbuddeln.
Im Namen der Jogginghose (Frank Sorge)
Ich staune nicht schlecht über das Plakat vor dem Weddinger Supermarkt: 10% Rabatt für den Einkauf in Jogginghose wird versprochen. Nicht für das Kaufen von Jogginghosen, sondern für alles, was man mit einer solchen bekleidet kauft. Anlass der Aktion ist der “Welttag der Jogginghose”. Was aber ist mit denen, die hier das ganze Jahr in Jogginghose kommen? So ein Plakat kann man schnell mal übersehen. Wenn die Kassiererin extra noch einmal aufstehen muss, um sich genau die Hosen der Einkaufenden zu betrachten – kann das nicht sehr irritierend sein?
“Wat kieken Se denn da?”
“Ihre Hose.”
“Meene Hose? Jibts da wat Interessantet?”
“Ihre Jogginghose.”
“Die is’ nich von hier, die hab ick schon länger.”
“Sieht man, sieht man.”
Eine erwartbare Tortur für die Kassenkräfte, noch mehr, wenn die Kunden Bescheid wissen. Denn der typische Kunde im Problemviertel kennt sich mit Rabattaktionen, Coupons und ähnlichem so gut aus, dass mit ausgewählten Spitzfindigkeiten zu rechnen ist.
“Krieg ick denn ooch ne Jogginghose selbst mit Rabatt?”
“Nur, wenn Sie eine anhaben.”
“Und darf ick die jetzt anziehen, bevor ick Se koofe?”
“Nein, das geht nicht, es ist ja dann noch nicht ihre.”
“Aber wenn ick die jetzt anziehe, will die doch eh niemand anderes mehr haben. Da könnte man doch quasi meinen, dass et schon meine is.”
“Ist sie aber nicht.”
“Jute Frau, da steht doch wohl – Rabatt für den Einkauf in Jogginghose. Is’ doch eindeutig, oder nich? Ick zieh mir die jetzte an, kieken Se mal weg, und dann bin ick eindeutig in Jogginghose einkoofen.”
“Ja, machen Se.”
Die neue Kassiererin im ALDI (Robert Rescue)
O Gott, ein Frischling, denke ich mir, als ich mich der Kasse nähere. Sie ist jung und lächelt so abartig. So fröhlich. Einer der Alten vor mir beginnt eine Debatte mit ihr, ob er 9,57 € Rückgeld bekommen hat oder 9,27 €. Die übliche Leier, aber anstatt ihm das Baguette um die Ohren zu hauen, erläutert sie ihm geduldig, dass er 9,27 € zurück erhalten hat. »Das ist doch Scheiß egal«, rufe ich von hinten. »Verpiss dich endlich und stirb zuhause.« Ich höre zustimmendes Gemurmel. Der Alte ist verwirrt und gibt sich zufrieden. Eine junge Frau will sich mit dem Hinweis, sie habe nur drei Sachen, an mir vorbeidrängen, aber ich stoße sie zurück. Als sie es erneut probiert, ramme ich ihr die Faust in den Magen. Sie fällt zurück und die anderen Wartenden reichen sie durch, bis sie wieder am Ende der Schlange steht. »Und ich habe nur Bier«, lasse ich sie wissen. Dann bin ich dran. „Einen schönen guten Tag wünsche ich Ihnen“, ruft die neue Kassiererin, als ich ihr den Pfandbon reiche. Ihre Freundlichkeit bringt mich durcheinander. „Halt die …“, will ich schon rufen und verbessere mich zu dem unsinnigen Satz, „… übliche Pfandmenge.“ Sie lächelt mich an und stellt die Einkäufe sogar in den Wagen. Eine Woche gebe ihr, dann hat sie entweder gekündigt oder sie ist normal geworden.
Requiem für das Müllerstraßenfest (Heiko Werning)
Das Müllerstraßenfest im Berliner Wedding findet nicht mehr statt. Die Verwaltung des Bezirks Mitte hat angekündigt, die Genehmigungen nicht mehr zu erteilen, die bisherigen Betreiber haben gar keinen Antrag mehr eingreicht. Eine jahrzehntelange Tradition geht zu Ende. Vorbei die Zeiten, als auf der Müllerstraße Stände mit allem aufgebaut wurden, was das durch Alkoholkonsum und ungesunde Ernährung verfettete Herz eben so begehrt: Billig-Textilien, Billig-Krempel, Billig-Musik, Billig-Bier, dazwischen billige Kinderbespaßung. Eine Orgie des schlechten Geschmacks also, eine Gelegenheit für alle, die sonst das Unterschichtenfernsehen gucken, mal vor die Tür zu gehen, um Gleichgesinnte zu treffen.
Das Kiezblatt „Berliner Woche“ schreibt, „die zur Billigmeile verkommenen Straßenparty“ solle verboten werden, und weiter: „Ein Kriterium ist, dass die Veranstaltungen im öffentlichen Interesse sein müssen. Dies ist aber beim Müllerstraßenfest schon lange nicht mehr der Fall.“ Die B.Z. grübelt: „Kiezfeste sollen Spaß machen, die Anwohner einbeziehen und den Bezirk am besten noch berlinweit in ein gutes Licht rücken. Beides scheint beim Müllerstraßenfest nicht mehr gegeben.“ Nicht mehr im öffentlichen Interesse? Zur Billigmeile verkommen? Rückt den Bezirk nicht mehr in ein gutes Licht? Ich kenne das Müllerstraßenfest seit 1991, seit ich vor seinen Toren wohne. Viele jammern ja, dass alles immer schlechter werde in der Welt, das Fernsehen und die Tomaten, und die Platten dieser einen Band waren früher ja auch noch richtig gut – fuck it. Ich aber kann versichern: Das garantiert Einzige, was wirklich seit vielen Jahren keinen Millimeter schlechter geworden ist, weil es immer schon genau so furchtbar war, wie es nun einmal ist, ist das Müllerstraßenfest. Jahrzehntelang hat das kaum jemanden gestört. Erst jetzt wird es plötzlich zum Problem. Aber wenn die Problemanalyse bereits mit einer solchen Lüge beginnt, indem sie nämlich den Eindruck vermittelt, hier gehe etwas vor die Hunde, dass in Wirklichkeit schon immer dort lag, dann ist höchstes Misstrauen angebracht. Nicht das Fest nämlich hat sich so verändert, dass es nicht mehr zum öffentlichen Interesse passt, sondern das öffentliche Interesse hat sich so verändert, dass das Fest nicht mehr zu ihm passt. So läuft er eben, der Klassenkampf von oben. Jetzt, wo das hier nicht mehr Ghetto ist, sondern beste Innenstadtlage, soll das prekäre Weddinger Menschenmaterial bitte mal fix aus dem Bild treten. Seine Bratwurst‑, Bier- und Restposten-aus-Paris-für-3-Euro-Stände kann es doch bitte schön auch irgendwo in Marzahn oder Spandau aufstellen, da stört es wenigstens keinen.
Stadtrat Spallek betont: „Die Stadtteilfeste Fete de la Musique, Fastenbrechen, Weihnachtsbaser auf dem Leopoldplatz sind nicht betroffen und sollen selbstverständlich weiter stattfinden.“ Selbstverständlich. Und sicher hätte auch das Müllerstraßenfest wieder eine Chance, wenn dort statt Separatorenfleischresten, mit Alkohol versetzten Industrieabwässern und von Säuglingen aus Bangladesch zusammengespeichelten Synthetik-Tangas demnächst endlich handgeschrotete Bio-Wachtelwürste, vegane Litschi-Macadena-Milchshakes und von erleuchteten Schamaninnen bei Vollmond aus Yak-Haarspitzen gehäkelte Regenbogenschals angeboten würden. Denn zumindest eines wäre all das dann ganz bestimmt nicht: billig. Und schon könnten wir wieder drüber reden, wetten?
Andererseits: Da Carsten Spallek ja bei der CDU ist, könnte man womöglich darauf spekulieren, dass seine Ansichten auf Dauer allgemein gesellschaftsfähig werden. Denn laut B.Z. ist es so: „Anwohner und Geschäftsleute würden die Vermüllung und Probleme mit dem Lieferverkehr beklagen, sagte Spallek weiter. Auch der öffentliche sowie große Alkoholkonsum dürfte bei den Überlegungen eine Rolle spielen.“ Und seien wir ehrlich: Feste, die zu großem öffentlichen Alkoholkonsum, Vermüllung und Problemen mit dem Lieferverkehr führen, die gehören ganz einfach nicht zu Deutschland! Nimm dies, Kölner Karneval! Pack schon mal ein, Münchener Oktoberfest!
Ostern (Paul Bokowski)
Zwei Trinker Ende 40 erstehen bei Netto um die Ecke ein ortstypisches Frühstück: 8 Flaschen Pilsator, zwei kleine Fläschchen Goldbrand und eine Packung Bockwürstchen. Als es an’s Bezahlen geht zückt einer von ihnen Stolz einen 50 Euro Schein. Darauf der andere: “Boah Alter, wo hast’n du ’n Fuffi her?”. – “Meene Mutti war zu Besuch.”
‘Auf Nimmerwiedersehen 2015 – Das Jahr ist voll’ ist der 10. Jahresrückblick der Brauseboys. Am 15.12. ist Premiere, vor Weihnachten gibt es täglich bis 20.12. eine Vorstellung, nach Heiligabend geht es dann bis zum 9.1.2016 weiter. Reservierung und Vorverkauf über www.comedyclub.de – Weitere Informationen auch über www.brauseboys.de
Ich kenne Wedding, aber heute ganz besonders