Bewusstsein und Unterbewusstsein. Nachtwandeln. Traumtanzen. Licht und Dunkelheit. Schatten. Motten fliegen zum Licht. Plötzliches Aufschrecken. Schneller Atem. Das Herz pocht. Mit der Tanzperformance „SLEEPING BEAUTIES – CHASING GHOSTS“ wurde am 31.03. in den Uferstudios zu einer Forschungsreise in die Zwischenwelten von Wachen und Schlafen, in die Sphäre zwischen Realität und Traum, eingeladen.
Sechs Tänzer*innen bewegen sich in einem Raum. Sie werden durch kleine Lichtpunkte, die neben ihnen, in ihren eigenen Händen oder von einer anderen Person verwaltet werden, beleuchtet. Alle Tanzenden haben ein solches mal helles, mal gedimmtes, mal flimmerndes Licht bei sich. Es gibt keine weitere Beleuchtung.
Die weißen Wände ermöglichen es, die Tanzbewegungen zweifach visuell zu erleben. Zum einen als wirkliche Bewegung im Raum und zum anderen als Scherenschnitt, als Schatten an die Wand projiziert und wahlweise vergrößert, aber immer abstrahiert. Diese zwei Arten der visuellen Vermittlung machen die Dualismen von Tag und Nacht, von hell und dunkel, von Realität und Traum physisch erlebbar. Durch das Spiel mit Schatten und Licht wird die Inszenierung der Körper und ihrer Bewegungen in unterschiedliche Größenverhältnissen möglich. Die Schatten auf den weißen Wänden stellen neue Beziehungen zwischen den Körpern her, die die realen Abstände und Verhältnisse entfremden und abwandeln. Schatten tanzen miteinander, obwohl die realen physischen Körper weit voneinander entfernt sind und ihre Bewegungen keinen direkten Bezug aufeinander nehmen.
Um dieses Spannungsverhältnis zwischen tatsächlicher Bewegung und Schattenbewegung ausgiebig erkunden zu können, sind die Zuschauenden dazu aufgerufen, sich frei im Raum, um die Tanzenden herum, zu bewegen und ihre Position zu verändern. Bühne und Zuschauerraum verschmelzen miteinander und Menschen aus dem Publikum werden zu Schatten an den Wänden und damit zum Teil der Performance, wenn sie ins Licht geraten, wenn sie sich den Tanzenden nähern. Durch diese Forschungseinladung wird auch hier ein Dualismus thematisiert und überwunden, luzides Träumen, Anteilnahme und Mitgestaltung, sind möglich. Zu Anfang liegt eine Taschenlampe neben jeder performenden Person. Den Taschenlampen gleich liegen zu Beginn alle Tänzer*innen auf dem Rücken auf dem Boden. Insbesondere die Hände werden vom Schein der Taschenlampe beleuchtet, aber auch jeweils eine Körperseite. Die Körper liegen still auf dem Boden, die Beine und Arme sind ausgestreckt. Langsam erfassen Bewegungen die Gliedmaßen, wellenartig wogen sie mit der Musik vorerst im Liegen auf der Stelle durch die Tanzenden; die Beine spannen sich an, Bewegungen rollen langsam von den Fußsohlen zum Kopf, heben auf halber Strecke das Becken und den Brustkorb, lassen den Körper wieder los, der wieder auf den Boden sackt und erschlafft. Mit diesen Wellenbewegungen erheben sich schließlich die Körper, die immer aufbrausender werdenden Wellen befördern sie in eine Hockposition, in der sie zunächst verharren.
Das Spiel mit Licht und Schatten, das stellvertretend für die oben genannten anderen Dualismen steht, zieht sich durch die Performance und wird auf vielfältige Weise umgesetzt. Mit den Taschenlampen wird gespielt; in einer Sequenz finden die Tanzenden in Paaren zueinander, eine Person hält die Taschenlampe und führt das Gegenüber, das seine Augen geschlossen hält, mit Hilfe des Lichts durch den Raum. Den Kopf immer dem Licht zugewandt, die Bewegungen dem Licht folgend, wie eine schlafwandelnde Person. Das Licht wird auch genutzt, um spezifische Körperbereiche und Bewegungen zu erforschen. Hier wird erneut ein Gegengewicht zur Schattenwelt gebildet, da es ganz konkret um Bewegungsabläufe und den Körper als spezifisches, nicht als abstraktes Objekt geht. Gleichzeitig findet eine Reduktion auf die physischen Bewegungen statt, Kopf, Geist und Gedanken scheinen weit entfernt zu sein.
In einer Szene ziehen sich die Tanzenden langsam aus, bewegen sich flüssig und behutsam und inszenieren auf diese Weise einen intimen Moment, der im Licht der Taschenlampe Begleitung findet. Wieder branden Bewegungswellen durch die Körper, einige liegen, einige sitzen undbeleuchten nach und nach ihre Körperteile, stellen das Licht ab, halten es mit den Füßen oder mit anderen Körperteilen und performen so einen Moment der Innenschau.
Ekstatisch wird der Tanz insbesondere, wenn die Taschenlampen Strobolicht emittieren, die Tanzenden sich drehen und scheinbar ins Delirium fallen. Beim kurzen Schließen der Augen in diesem Moment verbleiben nur Lichtstreifen, die durch die schnellen Drehungen der Tanzenden mit den Taschenlampen in den Händen emittiert werden. Vermeintliche Aufwach- und Albtraummomente sind wiederkehrende Motive des Stückes, es wird angsterfüllt geschrien, weggerannt. Die Schreie des Entsetzens wechseln sich mit Freudenschreien ab. Genauso wie Körper- und Lautwellen branden auch die Musikwogen mal auf, mal ab. In einem Moment gibt es lautes, durchdringendes Sirenengeheul, was wie ein Schrecken durch den Körper rinnt, in einem anderen Moment gleichen die sanften elektronischen Sounds fast einer Meeresbrise, einem sanften Ein- und Ausatmen. Die Tanzenden bleiben mehr oder weniger allein, interagieren wenig miteinander, außerhalb der Schattenwelt. Die Vereinzelung passt gut zum Thema, denn mit unseren Dämonen und Wünschen, unserem Unterbewusstsein und dem Verlangen, das sich insbesondere in der Nacht oder im Traum auf den Weg zu uns macht, sind wir letztlich immer allein. Wenn interagiert wird, passiert dies meist zu zweit, meist in gedämpften Bewegungen, die voneinander distanziert sind, die Taschenlampe als Forschungs‑, Dokumentation- und Observierungsgegenstand immer zur Seite gestellt, als Abstandshalter fungierend. In einer Sequenz wird gemeinsam, in der Gruppe, getanzt, die sechs Tänzer*innen finden an einer Seite des Raumes zueinander und kämpfen miteinander darum, wer die vorderste Position einnimmt. Sie drängen sich nach vorne, ändern ihre Position zueinander und berühren sich, wabern gemeinsam nach vorne und könnten so auch Spiegel der Gedanken sein, die uns im Traum, im Schlaf, in der Dunkelheit heimsuchen.
Die Kleidung der Tanzenden ist schlicht, ihre gebatikte Camouflage-Kostümierung lässt sie einheitlich erscheinen. Das punktuell eingesetzte Licht unterstützt dieses Bild, zwar werden einzelne Körperteile immer wieder unter die Lupe genommen, aber der Mensch als ganzes geht unter und so verschmelzen die Tanzenden zu einem sich gemeinsam bewegenden Körper. Die Tanzenden selber haben immer auch einen Erkundungsauftrag, sie untersuchen sich gegenseitig mit dem Licht, spielen mit der Nähe zwischen Lampe und Körper, mit der Geschwindigkeit mit der das Licht über die Bewegung der Tanzenden fährt. So entstehen verschiedene Perspektiven, Nahaufnahmen und Verrückungen der dargestellten Identitäten im Raum und im projizierten Schatten auf den Wänden.
Fragen danach, wie sehr wir selber wir selber bleiben, wenn wir träumen, stellen sich. Ein weiterer eindrücklicher Gedanke ist, dass die Schatten zwar Bewegungen abzeichnen, also Geschichten erzählen können, auch wenn diese nicht oder nicht vollkommen der Realität entsprechen. Die Schattenwelt kann jedoch keine Gesichtsausdrücke, keine Mimik, keine Gefühle transportieren, hierfür sind wir zu sehr an Dreidimensionalität gewöhnt, die hier fehlt. Dieser Effekt lässt erneut Assoziationen zur Traumwelt zu; eine Welt, in der wir zwar meistens genau wissen, wer uns begegnet und welche Handlung sich abspielt, wir aber häufig Stimmungen und Emotionen fühlen, die sich eben nicht in konkreten Bildern und klaren Gesichtsausdrücken manifestieren.
Das Stück hat einen sehr warmen, tröstlichen, zutraulichen Ton, und zugleich nimmt es uns mit auf eine Traumreise durch manchmal fast wahnwitzige, bedrohlich anmutende Innenwelten. Die Schattenwände, die tanzenden Taschenlampen und den fließenden Bewegungskorpus möchte ich nur ungern wieder verlassen, hatte ich es mir doch gerade erst gemütlich gemacht im überdimensionierten Zelt, in den Uferstudios, in Studio 14, auf dessen Wand Schatten ihre Geschichte entwickeln.
Ich möchte nicht aufwachen, diese intime Situation zwischen Tanzenden und Publikum verlassen und wieder auf den nächsten Traum hoffen müssen, oder sollte mir doch bang sein vor den Geistern?
Gut zu wissen:
Die nächsten Termine von Produktionen von Lunapark:
17./18. Juni 2023: Tanzperformance “CROSSING THE FREEWAY: OUTSIDE“, 20:30 Uhr auf dem
Tempelhofer Feld
Fotos: LUNAPARK