Eigentlich sollte an jenem frühlingshaften Februartag alles ganz schnell gehen. Zack – die alte Couch ins Auto geladen und im gleichen Zuge das neue Fundstück in die WG-Küche gepackt. Doch plötzlich standen wir, mit dem passenden Schlüssel in der Hand und einer für das schmale Treppenhaus gigantisch anmutenden roten Couch, vor verschlossener Türe, die sich einfach nicht mehr öffnen lassen wollte. Steckte da etwa ein Schlüssel von innen? Und wem kann man bei fünf Anwesenden in allgemeiner Hektik nun dafür die Schuld in die Schuhe schieben? Schwierig.
Zu lachen war allerdings niemanden zumute. Meine lieben Eltern, die ihren heiligen Sonntag schon für den Transport des guten Mobiliars geopfert haben, sahen sich nun auch gezwungen, die erste Ratlosigkeit mit uns gemeinsam auszusitzen und konnten keinen guten Grund finden, das Kind samt Wohngemeinschaft vor der eigenen Wohnungstür sitzen zu lassen. Und mein Papa wäre auch nicht mein Papa, wenn er nicht wenigstens selbst Hand angelegt hätte und am Ende fluchend am Schloss gescheitert wäre. Dem genauen Vorgehen konnte ich nicht folgen; lediglich seinen Anweisungen. So besorgte ich bei den Nachbarn geeignetes Werkzeug, um schlussendlich erfolglos den Schnapper des Schlosses durch den dünnen Spalt im Türrahmen so einzudrücken, dass sich die Pforte zum Eigenheim öffnet.
Nichts passiert ohne Grund
Ganz umsonst war dieser Versuch allerdings nicht, denn neben dem Mitgefühl unserer Nachbarn sowie Getränke und Snacks hatten wir etwas später sogar einen Schlüssel zu deren Wohnung in unseren Händen. Egal, wie das Ganze ausgehen würde – zu diesem Zeitpunkt war uns schon bewusst: Das kann dauern. Nach und nach mischten sich noch andere Hausparteien in den geplanten Einbruchsversuch ein, aber schnell wurde klar, dass hier Profis ans Werk müssen. Mit Profis meinten wir an einem Sonntag allerdings nicht den Schlüsseldienst – wir armen Studentinnen hatten da eine bessere Idee: Der Typ vom Fahrradladen an der Ecke! Vielleicht hilft ja eine Fahrradspeiche, um den dünnen Grat zwischen Rahmen und Tür – zwischen Verzweiflung und Hoffnung – zu durchdringen.
Auf dem Weg zum Laden, keine 200 Meter entfernt, frage ich mich: Wie stelle ich die Situation jetzt glaubhaft dar, ohne den Eindruck zu erwecken, dass ich vielleicht selbst schurkenhaft einen Einbruch plane? Ich habe ja meinen Ausweis, beruhige ich mich selbst und habe dabei wohl vergessen, dass eine etwas verzweifelt wirkende 22-jährige Studentin wohl nicht unbedingt das typische Einbrecher-Klischee erfüllt. Ausweisen musste ich mich jedenfalls nicht. Und zusätzlich zur Fahrradspeiche habe ich noch den Tipp bekommen, beim Späti nebenan nach einer Hartplastikflasche zu fragen, diese halbieren zu lassen, um damit den Schnapper ein für alle Male zu übergehen. Würde all das nicht helfen, soll ich doch nochmal wiederkommen.
Der Späti des Vertrauens
Den verruchten „Späti nebenan“ kenne ich nur zu gut. Hier kauf(t)e ich vertraulich all das, was man im Späti eben so kauft. Immer schlecht gelaunt stand neben dem türkischen Ladenbesitzer ein anderer „Alteingesessener“; jedes Mal einen anderen Kommentar parat über uns zugezogene, matetrinkende Studierende. Bemerkungen über deren Lebensstil, jeden Tag auf der Bierbank vorm Späti, in der einen Hand die Kippe und in der anderen das Bier, blieben ihnen meinerseits erspart. An kälteren Tagen versammelten sich jene im Nebenraum des Shops, um der gleichen Tätigkeit nachzugehen.
Eh ich mich versah, stand ich also in dem Raum und erklärte meine verzwickte Situation. Skepsis aus mindestens 16 Augen. Keine Antwort. Mein Blick wandert von Mann zu Mann, bleibt beim Späti-Verkäufer hängen. Die einzige Person in diesem Raum, die unsere gegenseitige Abhängigkeit voneinander erkennen sollte. Mit so wenig Hilfsbereitschaft habe ich nicht gerechnet. Naiv dachte ich, mein Auftreten gekoppelt mit der allgemeingültigen türkischen Gefälligkeitsmentalität würde reichen, um die Tür aufzubrechen. Ich wollte gerade gehen, da höre ich: „Was zahlst ’n dafür?“ Meine Antwort kam prompt: „Ewige Dankbarkeit.“
Der Späti-Mann, dessen Namen wir bisher nie erfahren haben, opferte sich auf: Wenige Minuten später kam er aus dem Hinterzimmer mit einer aufgeschnittenen Flasche zurück und begleitete mich ohne Widerrede (aber auch ohne jegliche andere Worte) mürrisch in den Hauseingang.
Versuch Nr. 1
„Welche Etage?“, fragte er. „Zweieinhalb“, flunkerte ich und sah trotzdem den leidenden Blick in seinem Gesicht. Ausnahmsweise mit einer Plastikflasche in der einen und der obligatorischen Kippe in der anderen Hand standen nun sechs Menschen und eine Couch vor der Wohnungstür. Würde das klappen?
Die Hoffnung war groß. Ebenso die Anspannung. Der Hausflur stinkt nach Nikotin. Mein Vater mischt sich ein. Zwei Männer rütteln an der Tür. Aber nix da. Der Spalt ist einfach zu klein, das Plastik zu weich, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Nach 20 Minuten gibt der Mann auf. Uns allen ist Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, doch wir bedankten uns freundlich und ich rufe das Treppenhaus noch hinunter: „Wie heißt du denn?“, „Mehmet“. Aha! Ab jetzt sind wir also dicke. Für mich war die Aktion also ein voller Erfolg. Den Späti-Mann des Vertrauens beim Vornamen zu kennen – ich fühle mich endgültig im Kiez angekommen.
Aber was nun? Schlüsseldienst anrufen? Angstperlen auf meiner Stirn. Was das finanziell bedeuten würde, wusste von uns keiner so wirklich. Aber die Notwendigkeit wurde größer – immerhin befand sich auch das Insulin meiner Mitbewohnerin hinter den verschlossenen Türen. Und mit der Gesundheit pokern wollten wir nicht. „Geht’s dir noch gut? Schaffst du noch ohne?“ Gesprächsschnipsel, wie ich sie vorm U‑Bahnhof öfter aufgreife. „Mir gehts gut. Was ist mit dem Mann vom Fahrradladen?“ Uns war klar: das ist die letzte Chance, vor einem teuren Erwachen.
Ein Hoffnungsschimmer
Mittlerweile sind bestimmt zwei Stunden vergangen. Besitzer Mesut bastelte an einem Fahrrad rum, als ich mit meiner Mitbewohnerin erneut in den kleinen Laden eintrete. Viel mussten wir nicht mehr sagen – auf einmal ging alles ganz schnell. „Gleich wieder da“, steht auf dem handschriftlichen Zettel, welcher noch fix an die Ladentür gehängt wird. Und plötzlich quetschten wir uns mit Bohrmaschine, Fahrradspeiche und Bastelfreund Alex im Gepäck zu siebt in das Treppenhaus. Unser Glück, dass die Tür nicht abgeschlossen, sondern lediglich der Schlüssel von Innen steckt.
Was dann geschah, sah brutal, aber irgendwie auch professionell aus. Ein gezieltes Loch über der Klinke durch die Holztür, eine verbogene Fahrradspeiche, eine Mutter, welche bei dem Manöver nicht hingucken kann, als wäre das gerade das alles entscheidende Elf-Meter-Schießen im WM-Finale. Aber dann: zack – Tür auf. Ein freudiger Aufschrei! So schnell wie das ging, waren Mesut, Alex und die Hoffnungslosigkeit weg. Keine Zeit für ein Danke, das Geschäft ruft. Uns war gleich klar, dass wir das so nicht auf uns sitzen lassen konnten. Aber zuerst kam die Couch an ihren Platz in die WG-Küche, ein zelebrierender Kaffee wurde aufgesetzt. Alle freuten sich – nur mein Vater überlegte schon, wie das Loch in der Tür wieder gefüllt werden kann.
Ein versöhnliches Ende
So kann also nachbarschaftliche Hilfe aussehen. Als Dank gab es selbstgebackenen Kuchen und wahrscheinlich einen Bruchteil von dem, was uns der Schlüsseldienst gekostet hätte. Dass das „nicht nötig“ gewesen wäre, versichert uns Mesut bis heute. Keinen Cent durfte ich seitdem für kleine Fahrradreparaturen zahlen. Egal, wie sehr ich darauf bestehe. Das ist wohl der alles entscheidende Unterschied zwischen Dienstleistung und Hilfeleistung. Hier hat ein Geschäftsmann als Mensch gehandelt. Und ich bin froh, dass wir uns getraut haben, Nachbarschaftshilfe einzufordern. Aber was ist mit Mehmet?
Nun ja. Mehmet bleibt Mehmet. Und seine Stammkundschaft wohl auch für immer seine Stammkundschaft. Aber trotz allem hat sich etwas zwischen uns getan. Ich betrete den Laden, ich erhalte ein Lächeln. Ich frage, ob er weiterhin immer Sonntags aufhat, nachdem das Sonntagöffnungsverbot verabschiedet wurde, er antwortet „Ich weiß von nix“. Vielleicht reicht mir diese Beziehung auch schon. Was will ich eigentlich mehr? Von nix zu wissen, wurde dem Späti leider ziemlich schnell zum Verhängnis: die Polizei machte den Laden von heute auf morgen (oder Sonntag auf Montag) zu. Mittlerweile scheint die Sperrfrist vorbei – und Corona-bedingt auch das Sonntagöffnungsverbot. Trotz Plexiglasscheiben und den fehlenden Bierbänken vor dem Laden, habe ich mit der Geschichte wohl den wahren Gewinner der Pandemie in meiner unmittelbaren Nachbarschaft ausfindig gemacht.
Schlüsseldienst vs. Nachbarschaft? Klarer Sieg für den Kiez – ganz ohne Elf-Meter-Schießen. Dit is Wedding!
ich habe auch immer bei frese nachgefragt…seriöser firma…und nette leute.…wohnte malplaquetstr.28
Nett geschrieben – aber auch extrem naiv!
Hat sich die junge Dame denn überhaupt einmal informiert, wie teuer die Türöffnung bei einem SERIÖSEN Schlüsseldienst (wie z.B. die Fa. Frese) ist??
Und weder sie noch die anwesendenen Eltern wollten dieses Geld aufbringen??
Manchmal verstehe ich es schon wieder nicht…