In unserer neuen Reihe geben wir Autor:innen die Möglichkeit, ihre Eindrücke aufzuschreiben und bei uns vorzustellen – eine Stunde an einem Ort im Wedding, eine Stunde voller Beobachtungen, menschlicher Begegnungen und jeder Menge Weddinger Atmosphäre. Heute begibt sich unser Autor Maximilian in den Untergrund und an die Bushaltestelle am Leopoldplatz.
Der Nieselregen kann noch nicht lange vorbei sein, wenn die Straßen und Fußwege im Schein der bunten Leuchtschilder an den Geschäften schimmern. Am Turm des Job-Centers wurden die roten, gelben und blauen Neonröhren abgeschaltet. Hinter zwei Fenstern brennt noch Licht. Unten, vor dem Wartehäuschen tänzelt ein weißer flauschiger Hund um eine Gruppe von Menschen mit Rollkoffern herum. Lange Haare fallen über dicke Jacken. Eine Gruppe von Leuten geht an uns vorbei, sie kommen aus der U‑Bahn-Station am Leopoldplatz. Heute liegt niemand dick eingepackt in Decken und Schlafsack neben dem Imbiss am Aufgang.
Die U‑Bahnhöfe Berlins sind für viele Menschen Schutzräume, denke ich. Aber sie sind nicht tief genug, um in einem Krieg als sichere Bunker zu dienen. Ihr verbringt die Nacht in den U‑Bahnhöfen Kiews und ich verbringe sie mit Euch, schlaflos am Leopoldplatz. Ihr sitzt dort, harrt aus. Ihr habt Angst, sagen eure Gesichter. Vor wenigen Tagen wart ihr dort noch als Schulkinder, Arbeiter und Reisende unterwegs. Ihr hattet es eilig, habt geduldig die lange Rolltreppenfahrt hinab ertragen, seid die Stufen in den langen Tunneln heruntergestürmt und hinaufgehechtet, ihr habt in den Kiosken Kaugummis gekauft oder einen Becher Kaffee. Jetzt haltet ihr wieder Becher in der Hand, doch in diesen Nächten bleibt ihr auf den Stufen und Bahnsteigen sitzen.
Die Beschreibungen der Fernsehjournalist:innen hallen nach in meinem Kopf, wie die Geräusche der Einschläge aus den Videos, die genauso Schlaflose in den vergangenen Nächten in Kiew aufgenommen haben. Ich rekapituliere die Diskussion mit einem Freund, die uns den ganzen Tag über beschäftigt hatte. Die Fragen sind wieder da: Was bedeutet Souveränität? Was sagt die UNO? Was sagt Putin? Was sagt ihr? Warum wurden eure Hilferufe überhört? Wer hat euch in Gefahr gebracht? Ist das der Preis der globalen Abhängigkeiten? Wovor haben wir, hier in Deutschland, Angst? Jetzt warten wir, aber worauf?
Drei Plätze weiter auf der Haltestellenbank sitzt ein Mann mit weißen Haaren und über das Kinn gezogener Maske. Die Hände hat er in den Schoß gelegt. Wasserflecken überziehen seine beige-goldene Steppjacke. Bedächtig schaut auf die andere Straßenseite, wo zwei Männer vor einem Imbiss stehen. Stoisch leuchtet ein Werbebildschirm neben uns auf und erlischt bald darauf wieder. Er zeigt uns
glückliche Paare, ein rotes, glänzendes Auto, Essen in wenigen Minuten. Das ist unsere Welt der ununterbrochenen Stromversorgung, der Kranken- und Sozialversicherungen, der Bananen im Supermarkt, der warm beheizten Wohnung für all jene, die sie sich leisten können. Sie sind warm dank russischem Gas. Noch fahren die U‑Bahnen.
Wieder erreicht ein Bus die Haltestelle, senkt sich schnaufend zum Bordstein hin, öffnet seine Türen. Menschen steigen aus, halten ihr Smartphone in der Hand, manche auch Kinderhände, andere Einkaufstaschen, wieder andere eine Dose Bier. Der Mann mit den weißen Haaren schaut den Vorbeigehenden hinterher, öffnet seinen Mund leicht wie für einen Seufzer. Manche der Vorbeigehenden sprechen mit sich selbst. Oder doch mit den Wartenden? Oder mit den Abwesenden? Ein Mann mit einer Flasche in der Hand brüllt: „Immer noch vier Minuten. Mann, Mann, Mann. Seid ihr bescheuert?“
Tagtäglich höre ich Stimmen in Berlin. Aus meinen Kopfhörern dringen Nachrichten. In den Zügen werden Köpfe zusammengesteckt, es wird geflüstert, getuschelt und gemurmelt. Es wird geliebkost und getröstet. Ich sehe die Gesten und höre dazu das erregte Diskutieren und Debattieren. Es gibt Streit. Dann wird gelacht. Der Mann mit den weißen Haaren neben mir hat die ganze Zeit geschwiegen. Während ich ihn ein betrachte, steht er unvermittelt auf und humpelt los. Ein neuer Bus hat seine Türen geöffnet.
Hallo
an dieser Stelle mal kurz eine andere Frage an die Redaktion…. was ist bzw wo ist die Betreiberin Gül vom Suppentreff geblieben??
beste Grüße