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Eine Stunde Wedding:
Schlaflos am Leopoldplatz

In Gedanken bei den Menschen in Kiew
1. März 2022
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In unse­rer neu­en Rei­he geben wir Autor:innen die Mög­lich­keit, ihre Ein­drü­cke auf­zu­schrei­ben und bei uns vor­zu­stel­len – eine Stun­de an einem Ort im Wed­ding, eine Stun­de vol­ler Beob­ach­tun­gen, mensch­li­cher Begeg­nun­gen und jeder Men­ge Wed­din­ger Atmo­sphä­re. Heu­te begibt sich unser Autor Maxi­mi­li­an in den Unter­grund und an die Bus­hal­te­stel­le am Leopoldplatz. 


Der Nie­sel­re­gen kann noch nicht lan­ge vor­bei sein, wenn die Stra­ßen und Fuß­we­ge im Schein der bun­ten Leucht­schil­der an den Geschäf­ten schim­mern. Am Turm des Job-Cen­ters wur­den die roten, gel­ben und blau­en Neon­röh­ren abge­schal­tet. Hin­ter zwei Fens­tern brennt noch Licht. Unten, vor dem War­te­häus­chen tän­zelt ein wei­ßer flau­schi­ger Hund um eine Grup­pe von Men­schen mit Roll­kof­fern her­um. Lan­ge Haa­re fal­len über dicke Jacken. Eine Grup­pe von Leu­ten geht an uns vor­bei, sie kom­men aus der U‑Bahn-Sta­ti­on am Leo­pold­platz. Heu­te liegt nie­mand dick ein­ge­packt in Decken und Schlaf­sack neben dem Imbiss am Aufgang.


Die U‑Bahnhöfe Ber­lins sind für vie­le Men­schen Schutz­räu­me, den­ke ich. Aber sie sind nicht tief genug, um in einem Krieg als siche­re Bun­ker zu die­nen. Ihr ver­bringt die Nacht in den U‑Bahnhöfen Kiews und ich ver­brin­ge sie mit Euch, schlaf­los am Leo­pold­platz. Ihr sitzt dort, harrt aus. Ihr habt Angst, sagen eure Gesich­ter. Vor weni­gen Tagen wart ihr dort noch als Schul­kin­der, Arbei­ter und Rei­sen­de unter­wegs. Ihr hat­tet es eilig, habt gedul­dig die lan­ge Roll­trep­pen­fahrt hin­ab ertra­gen, seid die Stu­fen in den lan­gen Tun­neln her­un­ter­ge­stürmt und hin­auf­ge­hech­tet, ihr habt in den Kios­ken Kau­gum­mis gekauft oder einen Becher Kaf­fee. Jetzt hal­tet ihr wie­der Becher in der Hand, doch in die­sen Näch­ten bleibt ihr auf den Stu­fen und Bahn­stei­gen sit­zen.
Die Beschrei­bun­gen der Fernsehjournalist:innen hal­len nach in mei­nem Kopf, wie die Geräu­sche der Ein­schlä­ge aus den Vide­os, die genau­so Schlaf­lo­se in den ver­gan­ge­nen Näch­ten in Kiew auf­ge­nom­men haben. Ich reka­pi­tu­lie­re die Dis­kus­si­on mit einem Freund, die uns den gan­zen Tag über beschäf­tigt hat­te. Die Fra­gen sind wie­der da: Was bedeu­tet Sou­ve­rä­ni­tät? Was sagt die UNO? Was sagt Putin? Was sagt ihr? War­um wur­den eure Hil­fe­ru­fe über­hört? Wer hat euch in Gefahr gebracht? Ist das der Preis der glo­ba­len Abhän­gig­kei­ten? Wovor haben wir, hier in Deutsch­land, Angst? Jetzt war­ten wir, aber worauf?

Drei Plät­ze wei­ter auf der Hal­te­stel­len­bank sitzt ein Mann mit wei­ßen Haa­ren und über das Kinn gezo­ge­ner Mas­ke. Die Hän­de hat er in den Schoß gelegt. Was­ser­fle­cken über­zie­hen sei­ne beige-gol­de­ne Stepp­ja­cke. Bedäch­tig schaut auf die ande­re Stra­ßen­sei­te, wo zwei Män­ner vor einem Imbiss ste­hen. Sto­isch leuch­tet ein Wer­be­bild­schirm neben uns auf und erlischt bald dar­auf wie­der. Er zeigt uns
glück­li­che Paa­re, ein rotes, glän­zen­des Auto, Essen in weni­gen Minu­ten. Das ist unse­re Welt der unun­ter­bro­che­nen Strom­ver­sor­gung, der Kran­ken- und Sozi­al­ver­si­che­run­gen, der Bana­nen im Super­markt, der warm beheiz­ten Woh­nung für all jene, die sie sich leis­ten kön­nen. Sie sind warm dank rus­si­schem Gas. Noch fah­ren die U‑Bahnen.

Wie­der erreicht ein Bus die Hal­te­stel­le, senkt sich schnau­fend zum Bord­stein hin, öff­net sei­ne Türen. Men­schen stei­gen aus, hal­ten ihr Smart­phone in der Hand, man­che auch Kin­der­hän­de, ande­re Ein­kaufs­ta­schen, wie­der ande­re eine Dose Bier. Der Mann mit den wei­ßen Haa­ren schaut den Vor­bei­ge­hen­den hin­ter­her, öff­net sei­nen Mund leicht wie für einen Seuf­zer. Man­che der Vor­bei­ge­hen­den spre­chen mit sich selbst. Oder doch mit den War­ten­den? Oder mit den Abwe­sen­den? Ein Mann mit einer Fla­sche in der Hand brüllt: „Immer noch vier Minu­ten. Mann, Mann, Mann. Seid ihr bescheuert?“

Tag­täg­lich höre ich Stim­men in Ber­lin. Aus mei­nen Kopf­hö­rern drin­gen Nach­rich­ten. In den Zügen wer­den Köp­fe zusam­men­ge­steckt, es wird geflüs­tert, getu­schelt und gemur­melt. Es wird gelieb­kost und getrös­tet. Ich sehe die Ges­ten und höre dazu das erreg­te Dis­ku­tie­ren und Debat­tie­ren. Es gibt Streit. Dann wird gelacht. Der Mann mit den wei­ßen Haa­ren neben mir hat die gan­ze Zeit geschwie­gen. Wäh­rend ich ihn ein betrach­te, steht er unver­mit­telt auf und hum­pelt los. Ein neu­er Bus hat sei­ne Türen geöffnet.

1 Comment Leave a Reply

  1. Hal­lo

    an die­ser Stel­le mal kurz eine ande­re Fra­ge an die Redak­ti­on…. was ist bzw wo ist die Betrei­be­rin Gül vom Sup­pen­treff geblieben??

    bes­te Grüße

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