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Zwei kleine Geschichten aus dem Wedding:
Kiez-Momente: Brisen der Nacht

8. September 2025

Unsere Autor:innen sind nicht nur im Wedding unterwegs – sie sind mittendrin im Alltag. Im Supermarkt, auf dem Spielplatz oder beim Schlendern durchs Viertel: Überall warten Geschichten, Geräusche, Begegnungen. Und manchmal schreiben uns sogar Leser:innen direkt. So entstehen sie – diese kleinen, echten Kiezmomente. Alles Wedding. Heute mit zwei Kurzgeschichten von Michael Schuster.

Im allabendlichen Überfluss des Sommers

24 Grad um 22 Uhr 30. Le plumage de la nuit macht farblich alles richtig, zerfließt im hell-feierlichen Dunkel Richtung Finsternis und taut die Nacht langsam auf. Unter mir zwei Räder, die meinen neptunesichen Körper zwei Kilometer lang durch Prenzlberg und Wedding nach Hause radeln. Blaue Kopfhörer auf den Ohren, aus denen Leon Bridges’ Coming Home, seidig wie Honig, heraus tröpfelt.
Schweigsam streicht die Luft am Gesicht vorbei, umklammert die herumwedelnden Haare und zerfällt dann schnell wieder in schüchterne Strauchelschnecken der Lüfte.
Im Lichtflimmer des Vorderscheins verglühen die heiteren kleinen Sandkrümel — heraufgewirbelt durchs Vorderrad — im düsteren Nachtgewand.
Musikalisch changiert das Kolorit im Ohr derweil zu Dreams von Fleetwood Mac.
Gedankenschlangen winden sich um alles, was an einer tristen Vergangenheit hängt und würgen ihr die Präsenz des Abends heraus. Bewölkte Bauten aus Heiterkeit und Glanzlichtern rennen vor mir her und drücken mir immer wieder das Gemüt, resetten alles, was zuvor noch am fleischgewordenen Hungertuch der Trauer genagt hat. Diebische Rabenverzweifeln am eigenen Schlummer, lassen die Köpfe zum Himmel fallen und lassen den Freudentaumel ohne Widerworte passieren — geschminkte Bitterkeit im Heiterkeitsmantel.
Die Brisen der Nacht kündigen sich vorzeitig an, bewerkstelligen es den
Hals-Über-Kopf-Belanglosigkeiten einen Strick zu drehen, um sie morgens träge zu Boden sinken zu lassen.
Fleetwoord Mac, Stevie Nicks, bügelt den Weg vor mir her, löst Falten, ebnet Knicke und pftpft sich durch das Gewölbe des Nachttextils.
Ich lege den Kopf zur Seite, fange die Wucht des Humboldthains neben mir ein und erlebe jeden seiner Atemzüge als 4/4-Takt, der sich räuspert, sobald ich der Unaufmerksamkeit zu viel Bedeutung schenke.
Ein Lied weiter sieht die Welt beinahe schon wieder samtiger aus, fast schon wieder erhabener, fast schon wieder scherbenfreier.
Ich biege rechts ab, schaue nochmal mit festem Tritt nach oben und verschwimme im allabendlichen Überfluss des Sommers.

Das Nummernschild hab ich mir gemerkt


Ein Parkplatz im Wedding. Nacht. Wo genau is egal, weil Parkplätze im Allgemeinen ein diffuses Freiheitsgefühl vermitteln. Oder ging's da ums Reisen? Da muss ich nächstes Mal doch n bisschen besser aufpassen, was die Gesellschaft so in die beparkplatzte Welt hinaus brüllt.
Zwei Autos stehen da, parken sich an. Die Motoren schnarchen im Wind und gerade läuft ein Mann zurück zu seinem Wagen. Zwei Damen stehen dort, wo er gerade noch war, an ihrem Smart ForFour. Die ganze Szene wirkt nach Transaktionsabschluss. Die Frauen rufen ihm leise irgendwas zu, er nickt, in die andere Richtung schauend, zieht die Mütze tiefer ins Gesicht und steigt aus der Szene heraus. Die hochpolierten und den-Farbmalkasten-von-Cartier-vollkommen-ausgenutzten Brünetten sprechen irgendwelche Befehle in ihr Smartphone, tippen stoisch Antworten oder Fragen hinein und öffnen die Türen.
Die schalen Lichter der Umgebung zucken mit den Schultern und flackern dabei wie Fernsehbildschirme in nahezu allen Katastrophenfilmen. Im Vorbeirauschen hört man noch Autotüren knallen, motorisierte WrummWrumms und das ejakulative Ende dieses Sekunden-Theaters.

Ein Waldfrosch hüpft mir kurz danach vors Rad, ich weiche aus und frage mich, wo denn so ein Waldfrosch so spät noch hin will. Und wieso es hier Waldfrösche gibt. Und was eigentlich genau ein Waldfrosch ist.

Und jetzt seid ihr dran!

Ihr habt etwas gesehen oder erlebt, das in die Kiez-Momente gehört? Dann schickt uns eure Entdeckung – gern mit Foto – an:
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Und wenn ihr Lust auf mehr Wedding habt: Bleibt dran! Wir sammeln weiter für euch – kleine und große Geschichten aus dem Kiez.

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