Möchte man des Weddings Kern und Wesen ergründen, so begegnet man auf seiner Reise zu den historischen Quellen unweigerlich zwei Dingen. Zum einen dem Mythos des roten Weddings sowie zum anderen dem Weddinger Mundartdichter Jonny Liesegang. Von letzterem, fast vergessenen Musensohn des Weddings handelt dieser Artikel.
»Sehn’se, det is Berlin«
Der sogenannte Rote Wedding. Es ist die Geschichte eines Bezirks sowie dessen aufmüpfigem Arbeitermilieus, auf das man sich auch heute noch allzu gerne beruft. Es ist eine Geschichte von den Schattenseiten einer Industrialisierung und dem politischem Widerstand der 1920er bis 1940er Jahre. Um es kurz zu halten sei an dieser Stelle dem Zugezogenen wie dem »inna- und außahalbschen Berlina« die Schrift zum Thema »Widerstand im Arbeiterbezirk« von Hans-Rainer Sandvoß sowie der Abschnitt Industriegeschichte »Vom Wedding in alle Welt« in: »Der Wedding. Auf dem Weg von Rot nach Bunt« von Gerhild H. M. Komander empfohlen.
Möchte man die Menschen, die während der industriellen Umwälzung in Milieu und Mietskaserne ihr Dasein fristeten, besser kennen lernen, dann wird man in der Bücherei (Schiller-Bibliothek oder Bibliothek am Luisenbad) unweigerlich auf die leicht schnoddrig illustrierten Bücher des Mundartdichters Jonny Liesegang stoßen. Und um genau den soll es hier gehen.
Bürgerlich als Johannes Haasis 1897 geboren, nimmt er 1933 nach ergangenem Arbeitsverbot und Verhaftung durch NSDAP-Anhänger den Namen seiner Ehefrau an und firmiert fortan als Jonny Liesegang. Wie schwer Kiez und Milieu von der politischen Großwetterlage zu trennen sind, das erkennt man auch daran, daß Liesegang selbst als Mundartdichter unter nationalsozialistischer Herrschaft gezwungen war, teils illegal als Schriftsteller und Illustrator zu agieren, bevor er 1943 schlussendlich zum Wehrdienst eingezogen wurde.
Zum Mythos des roten Weddings kann man stehen wie man will. Am Beispiel Liesegangs kann man gut beobachten, wie bis heute der Wedding ohne seine politische Geschichte im Grunde nicht zu denken – sie gehört wie »det ‘Roll’ zum ‘Mops’«.
»Mein Wedding«
Textauszug aus »Deine Sorjen uff ne Stulle«:
“Nu schtell dir bloß vor, wir wohnten an de Bahn! Janz abjesehn von den Krach, Tach und Nacht det Jerumple von die Züje… varrickt würd’ ick jlatt bei wer’n. Und du siehst ja, jenau kann man die Leute rin kieken! Kiek bloß! […] Und da – wat saachste dazu – da kämmt sich soja’ eene de Haare! An’t off’ne Fensta! Und in’t Hemde noch dazu!!” Er riß die Augen auf und rief:“Wo kämmt sich eene in’t Hemde?” Sie stutzte. Mißtrauisch sah sie ihren Mann an und:“Natierlich! Dir braucht man bloß wat von een fremdet Hemde zu azähl’n! Da reckste jleich’n Hals wie’n Jänserich! Valleicht fährste noch mal zerick? Denn siehste die Person noch!”
Jonny Liesegang wird auch der Musensohn des Weddings genannt. Eines Weddings vielleicht, der längst schon untergegangen scheint. Damals, »als der Wedding aus vielen, vielen Mietskasernen zusammengesetzt ist, deren jede einzelne ‘een Dorf is, wo eena den andan bessa kennt.. als der Betreffende sich selba’.«
Vor allem die heute noch in einigen Antiquariaten erhältlichen Bände der Jahre 1938–1941 seien dem Suchenden nah ans Herz gelegt. »Det fiel mir uff!«, »Det fiel mir och noch uff!« sowie »Die Feldpostbriefe der Familie Pieselmann« und »Da liegt Musike drin«. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht Liesegang noch mindestens ein weiteres Werk: »Det fiel mir trotzdem uff!«, bevor er 1961 im Wedding verstirbt. Hinterlassen hat er Geschichten mit so schönen Titeln wie »Der Jeburtstags-Aal«, »Der verhexte Waldi« oder »Mutter Schlabbes Weihnachten«.
Eine Stadt wie Berlin ist immer in Bewegung. »Nu ja, Se wissen ja wie’t so is!« Was aber würde Jonny Liesegang zum Wedding heute sagen? Würde er ihn ohne seine Straßenhändler und ohne Pferdekutscher überhaupt wiedererkennen? Würde er für seine humoristischen Alltagsbeobachtungen noch immer det verwenden wie er es seinerzeit getan hat oder würde er das moderne dit aufgreifen? So wie’s an der Kreuzung Afrikanische Ecke Seestraße in großen, bunten Lettern geklebt zu lesen ist: »Ick steh uff Wedding, dit ist meen Ding«? Die großen bunten Letter an der Kreuzung wurden zwischenzeitlich geändert: aus dem det wurd’ das aktuell geklebte dit. Oder würde er sagen, dit und det, dies und das, dass seien doch eh zwei völlig verschiedene Dinge! »Sowat Dußlijet, ick könnt’ ma uffreje!«
Spuren im Kiez
An des Dichters ehemaligem Wohnsitz Pankstraße 79 im Gesundbrunnen erinnert heute nichts mehr an ihn. Seine letzte Adresse hingegen, eine Erdgeschosswohnung mitten im Afrikanischen Viertel gelegen, ziert seit seinem 20. Todestag, dem 30.3.1981 eine kleine Gedenktafel. Ansonsten drängt sich der Eindruck auf, dass man ihn im heutigen Wedding fast vergessen habe. Keine Liesegang-Stube in seinen geliebten Rehbergen, kein Liesegang-Ausflugsdampfer auf der Spree und auch kein Liesegang-Museum. Keins im Wedding und auch nicht anderswo. Das ehemalige “Liesegang” an der Ecke Malplaquetstraße heißt zwischenzeitlich »Weine & Geflügel« und steht mittlerweile wieder leer. Eine Liesegang-Weiße gab’s dort aber auch nicht zu bestellen. Mit etwas Glück macht jemand auf der Lesebühne dem Publikum mal den Liesegang. Ansonsten, wer an Berliner Mundart interessiert ist, der wird zuerst wohl Heinrich Zille und dem Milljö auf seiner Quellensuche begegnen. Oder vielleicht den beiden lustigen Lemkes.
»Det fiel mir auf / Jonny Liesegang / Zum Gedenken an den / Heimatschriftsteller / der hier gewohnt hat / 6.10.1897 – 30.03.1961«
Jonny Liesegangs Adresse heute ist ein Ehrengrab Ecke Müllerstraße, auf dem Urnenfriedhof Seestraße. Auf der Übersichtskarte am Eingang liest man seinen Namen indes nicht. Die Liste der Ehrengräber liegt lieblos im Glaskasten, und schlimmer, sie liegt halb verdeckt. Wer das Grab besuchen möchte, dem sei gesagt: der mittlerweile teils verwitterte Grabstein befindet sich in Abteilung II. Man orientiere sich am Denkmal für die Opfer des Aufstands vom 17. Juni 1953, denn ganz in dessen Nähe wird man zwangsläufig auch das Relief des Künstlers auf dessen Grabstein entdecken. Den dazugehörigen, als ordentlich zu bezeichnenden Kaninchenbau daneben gibt’s als Gratisbeigabe dazu.
(Alle Zitate aus: Liesegang, Det fiel mir och noch uff! Schnafte Geschichten und dufte Bilder, 1977)
[…] immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Menschen hatte. Auch der bekannte Heimatdichter Jonny Liesegang (1897−1961) ist hier beigesetzt, in dessen Büchern die Hausmeisterin „Frau Nuschnpickeln“ eine […]
[…] liegt Musike drin” textete schon der Weddinger Heimatdichter Jonny Liesegang seinerzeit. Wortwörtlich genommen stimmte das natürlich schon damals und es stimmt im Hier und […]
Ich finde gut, dass der Jonny Liesegang wieder ausgegraben wurde und heute im Mastul um 21:00 Uhr zu hören ist. Mit dem
( West – ) Berlinern ist das so eine Sache und das sagt eine Insulanern. Auch wenn dett nich so richtich klappt, öffne man(n), ja auch de Weiba, dett Herze und die Lauscher. Ich wurde mich über weitere Versuche dem Berliner auf die Schnauze und ins Herze zu schauen freuen.
[…] ein Weddinger Mundart-Dichter, der von 1897 bis 1961 lebte. In dem tollen Weddingweiser-Artikel „Der Musensohn des Wedding: Jonny Liesgang“ geht Weber dem Dichter und seinen Leben im Wedding nach. Und allein schon der schönen Buchtitel […]
Feiner Artikel!