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“Ick steh uff Wedding, det is meen Milieu”

3. März 2015
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(C) Marcel Nakoinz
© Mar­cel Nakoinz

Ein beken­nen­der Wed­din­ge­ra­ner bricht eine Lan­ze für den Bezirk sei­nes Vertrauens…

Wegweiser WeddingIch lebe jetzt schon seit zehn Jah­ren im schö­nen Wed­ding und muss sagen, ent­ge­gen aller anfäng­li­chen Beden­ken habe ich es nicht bereut, hier­her zu zie­hen. Die Mie­ten sind sta­bil und ich wur­de trotz des schlech­ten Images des Bezirks bis­her weder ange­schos­sen, gelyncht, Kiel geholt oder sonst irgend­wie ver­stüm­melt. Wie kann das sein? Schließ­lich gilt der Wed­ding doch als Bezirk, in dem man nachts nicht auf die Stra­ße gehen und vor all den schlim­men Aus­län­dern sei­ne Frau und Kin­der weg­sper­ren soll­te. Viel­leicht hilft uns ja ein Direkt­ver­gleich bei der Lösung die­ses Pro­blems. Gut, bei uns gibt es viel­leicht kei­ne U‑Bahn, die über Tage fährt und extra Kin­der­wa­gen­plät­ze in den Bahn­wag­gons bie­tet wie im Prenz­lau­er Berg und den Trams hält auch kein Schran­ken­wär­ter vor­nehm die Tür auf… Aber dafür haben wir noch etwas, was die Urein­woh­ner sol­cher Bezir­ke mitt­ler­wei­le schmerz­lich ver­mis­sen. Wir haben noch Stamm­knei­pen, an vie­len Ecken.

Die nackte Wahrheit

(C) Marcel Nakoinz
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Wie sieht es mit den Fak­ten aus? Dem Amt für Sta­tis­tik Ber­lin Bran­den­burg lässt sich aus der Erhe­bung von 2011 ent­neh­men, dass es nicht der Bezirk Ber­lin-Mit­te war, zu dem auch der Wed­ding gehört, der den höchs­ten Anteil an armuts­ge­fähr­de­ten Ein­woh­nern stell­te, son­dern der Bezirk Neu­kölln (mit 22,5 Pro­zent), gefolgt von Fried­richs­hain-Kreuz­berg (mit 21,3 Pro­zent). Ok – fai­rer Wei­se soll­te man erwäh­nen, dass es Mit­te mit sei­nen läp­pi­schen 18 Pro­zent auch aufs Sie­ger­trepp­chen schaff­te. Wenn man als auf­stre­ben­der Sze­n­e­be­zirk immer mehr frei­schaf­fen­de Künst­ler und arme Stu­den­ten anzieht, drückt das eben die Sta­tis­tik. Aber wel­ches Lebens­ge­fühl lässt sich schon in nack­ten Zah­len aus­drü­cken? Men­schen kön­nen immer und über­all in Armut gera­ten oder aus­ras­ten. Ob im Nobel­be­zirk oder im Arbei­ter­vier­tel. Nur man­che Sün­den­scha­fe schei­nen sich bes­ser in das Gehirn der All­ge­mein­heit zu bren­nen als ande­re. Es ist ein Fakt, dass Flug­zeug­ab­stür­ze viel sel­te­ner vor­kom­men als Auto­un­fäl­le und den­noch zucken wir bei Mel­dun­gen letz­te­rer kaum die Ach­sel und bei ers­te­ren zusam­men. Es ist ein Fakt, dass mehr Men­schen im Jahr durch her­un­ter­fal­len­de Kokos­nüs­se ster­ben, als durch Hai­an­grif­fe und wor­über dre­hen wir Fil­me, die fast zur Aus­rot­tung einer gan­zen Spe­zi­es füh­ren? Über den wei­ßen Kokos­nuss­baum? Wohl kaum. Angst ist nicht ratio­nal, sie ist emotional.

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Ich stu­dier­te jah­re­lang Emo­tio­nen an der Uni­ver­si­tät und muss sagen, dass ich ihre nega­ti­ven Ver­tre­ter hier im Wed­ding nie prak­tisch erfah­ren muss­te. Ganz im Gegen­teil, es gibt kaum einen ruhi­ge­ren Stadt­teil, der den­noch so tief im Her­zen Ber­lins liegt. Wie über­all in Ber­lin hal­ten die Men­schen hier Stra­ßen­fes­te ab, gehen auf den Markt oder besu­chen die groß­flä­chi­gen Parks wie den Volks­park Reh­ber­ge, den Schil­ler­park oder den Goe­the­park des grü­nen Afri­ka­ni­schen Vier­tels. Zwi­schen den Letz­te­ren zieht sich die Lebens­ader des Bezirks, die quir­li­ge Geschäfts­stra­ße „Mül­lerstra­ße“ ent­lang, die gen Nor­den nach Tegel führt und im Süden in die nicht weni­ger bekann­te Fried­rich­stra­ße über­geht. Gera­de im grü­nen Nor­den Wed­dings steckt in den kom­men­den Jah­ren (wenn denn Ber­lin doch end­lich mal einen hoch kriegt) viel Ent­wick­lungs­po­ten­ti­al für die dor­ti­gen Wohn­sied­lungs­be­rei­che, da dann der Weg­fall des Tege­ler Flug­ha­fens dort die Wohn­qua­li­tät immens erhö­hen wird.

Gutes Wedding, Schlechtes Wedding

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Natür­lich kom­men Skep­ti­ker gern mit geo­gra­fi­schen Argu­men­ten um die Ecke, wie dem „sozia­len Äqua­tor“ der Ber­nau­er Stra­ße oder der men­ta­len Bar­rie­re zwi­schen Brun­nen­vier­tel und Prenz­lau­er Berg. Aber mal ehr­lich. In wel­cher Stadt gibt es sol­che sozia­len Brei­ten- und Län­gen­gra­de nicht? Gera­de der kul­tu­rel­le und demo­gra­fi­sche Schmelz­tie­gel Ber­lin ist voll davon. Dage­gen soll­ten die struk­tu­rel­len Ver­bes­se­run­gen inner­halb des Bezirks end­lich ein­mal wahr­ge­nom­men und damit auch gewür­digt wer­den. „Kul­tur­wirt­schaft“ ist hier das Schlag­wort, das in die­ser Bezie­hung inner­halb der letz­ten Jah­re zu einer neu­en Leich­tig­keit des Lebens­ge­fühls im Wed­ding führ­te. Kul­tur­ein­rich­tun­gen wie die Fabrik Oslo­er Stra­ße, Kolo­nie Wed­ding, Wed­ding Art, Ufer­stu­di­os, Ufer­hal­len, Gerichts­hö­fe, ExRo­ta­print und das belieb­te Prime Time Thea­ter sprie­ßen an allen Ecken und Enden aus dem Boden. Gera­de letz­te­res Thea­ter, das in sei­nem abend­li­chen Pro­gramm „Gutes Wed­ding, Schlech­tes Wed­ding“ all die­se sozia­len Miss­ver­ständ­nis­se und Brenn­punk­te auf ulkigs­te Wei­se bear­bei­tet und sich einer der­art gro­ßen Beliebt­heit erfreut, dass es vor eini­ger Zeit expan­die­ren muss­te, nur um von einem Geheim­tipp zum hoch­ge­prie­sen­sten Volks­thea­ter Ber­lins zu avan­cie­ren, ist ein Para­de­bei­spiel für die Ent­wick­lung die­ses Bezirks, die gera­de noch in ihren Anfän­gen steckt…

Autor: Mar­cel Nakoinz

8 Comments Leave a Reply

  1. Mal von allen Wort­klau­be­rei­en abge­se­hen, gibt der Bei­trag doch das leich­te Lebens­ge­fühl im Wed­ding authen­tisch wie­der. Ich lebe seit fünf Jah­ren im Afri­ka­ni­schen Vier­tel und ich kann nur Posi­ti­ves berich­ten. Bil­li­ge Mie­te, net­te Kita, drei Spiel­plät­ze vor der Tür… Nur ein­mal wur­den vor unse­rer Tür fünf Autos abge­brannt, sonst ist es ruhig. Und der Bezirk tut was, damit es noch ange­neh­mer wird, reno­viert die Grün­an­la­gen und Sand­käs­ten. Das ein­zig Trau­ri­ge sind die halb­jähr­li­chen Mül­lerstra­ßen­fes­te. Da wird dann der glei­che Ramsch, den es in den 1 Euro Läden das gan­ze Jahr über gibt auf die Stra­ße gekarrt. Da gehe ich dann lie­ber ein selbst­ge­brau­tes eng­li­sches Bier trin­ken bei den Vaga­bun­den in der Ams­ter­da­mer Straße.

  2. Ich muß Bri­git­te Michel zustim­men, es heißt im
    Ick steh uff’n Wed­ding oder hoch­deutsch auf dem Wedding

    Ein­fach bei Ur-Wed­din­gern nachfragen

  3. was mir noch auffiel:

    Zwi­schen den Letz­te­ren zieht sich die Lebens­ader des Bezirks, die quir­li­ge Geschäfts­stra­ße „Mül­lerstra­ße“ ent­lang, die gen Nor­den nach Tegel führt und im Süden in die nicht weni­ger bekann­te Fried­rich­stra­ße übergeht.

    Fehlt da nicht noch eine Straße 🙂

  4. 10 Jah­re Wed­ding und noch nicht ein­mal ” berlinern ” :-=

    Mill­jöh und nicht Milieu 

    🙂

    Und dann Wed­din­ge­ra­ner 🙂 Es gibt Her­tha­ner, aber Weddingeraner 🙂
    Ick lach mir‘n‘ Ast

    • Nicht, wenn man den Wed­ding als ein Lebens­ge­fühl ver­steht. Bei aller gram­ma­ti­ka­li­schen Rein­lich­keit. Schließ­lich klingt “Ick steh uff’n Punk” oder “Ick steh uff’n Bio” ein­fach falsch oder? Ich glau­be so ist der Spruch auf der Fas­sa­de gemeint.

      • Das hat mir gram­ma­ti­ka­li­scher Rein­lich­keit nichts zu tun, aber es ist nun ein­mal “der Wed­ding”, seit Jahr­hun­der­ten schon. Und außer­dem ist die­ser Arti­kel ein Merk­mal, das den Wed­ding aus der Mas­se der ande­ren Stadt­tei­le her­vor­hebt. Es wäre doch scha­de, wenn das ver­lo­ren ginge.

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