Was habe ich mir da für einen Startpunkt gewählt? Die Straßenschlucht an der Wollankstraße ächzt unter dem Lärm und der Autoflut im Berufsverkehr. Blechbüchse reiht sich an Blechbüchse, immer wieder bringt die Ampel an der Einmündung der Nordbahnstraße den Verkehrsfluss Richtung Pankow ganz zum Erliegen. Dazwischen quälen sich Busse, Lastwagen und Radfahrer. Kaum vorstellbar, dass hier ab 1961 einmal eine Mauer den Durchlass unter der Bahnbrücke versperrt hat. Wobei, die Ruhe, die da geherrscht haben muss – was wird das für ein Kontrast zu dem Gehupe, dem Grundrauschen des Verkehrslärms und dem Quietschen von Bremsen gewesen sein, das hier heute den Sound der Gegend prägt?
Der Kiez rund um die Wollankstraße gehörte bis 1938 zu Pankow und wurde erst im Rahmen einer Bezirksreform Teil des Bezirks Wedding. Daher unterscheidet sich die Anlage der Straßen deutlich von den Berliner Mietskasernen und gibt dem Kiez ein vorstädtisches, bürgerliches Gepräge.
Doch das stört zumindest ein paar Hartgesottene nicht. Sie sitzen auf der Weddinger Seite vor einem Späti namens „Mauermarkt Grenzshop“ und genießen das wilde Treiben auf der Straße und den Gehwegen. Ob sie überhaupt wissen, dass das erste Geschäft auf Pankower Seite, nur 100 Meter weiter hinter der Bahnbrücke, ein Bio-Supermarkt ist? Hier stoßen zwei Welten aufeinander.
Zurück auf der Weddinger Seite. Auch hier haben, wie in Pankow, viele Altbauten die Zeiten überdauert, aber an der Ecke Steegerstraße haben die Mietshäuser definitiv schon einmal bessere Zeiten gesehen. Manche Türen sind zugenagelt, der Putz blättert vom Eckhaus, in dem noch eine Leuchtreklame von der „Weinstube“ kündet. Auch sonst wirkt die Steegerstraße wie eine Zeitreise in die Siebziger. Graue Häuser, zugepflasterte Vorgärten, wild zugeparkte Bürgersteige. Als ob sich die Gegend für ihren angestaubten Charme entschuldigen möchte, herrscht auf einmal himmlische Ruhe.
Der Berliner Mauerweg ist 160 km lang und umkreist das ehemalige Berlin (West), großteils auf früheren Wegen der DDR-Grenztruppen. Er wurde bis 2006 ausgebaut. Er tangiert den ehemaligen Bezirk Wedding zwischen Schönholz und dem Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal.
Das liegt auch an dem riesigen St. Elisabeth-Friedhof, dessen Mauer rechterhand an die Wohnhäuser aus der Zwischenkriegszeit grenzt. Etwas Besonderes gibt es hier dennoch zu entdecken: Vor der Nummer 14/15 steht eine kuriose Skulptur eines balzenden Truthahns. Und vor der Nummer 17/18 gibt es eine Frauenskulptur mit einer Hirschkuh und einem knienden Kind.
Linkerhand schmiegt sich eine Reihe Eisenbahnkleingärten an den hohen Bahndamm, bis auf einmal beiderseits der Straße graue Häuserreihen beginnen, die leicht gebogen sind, so als ob sie die Steegerstraße sanft in eine andere Position zwingen wollen. Wenige Meter endet die linke Häuserreihe, die schmale Straße wird dann zur Grüntaler Straße, ein grüner, fast schon verschwenderisch breiter Boulevard. Kein Wunder, dass hier so viel Platz ist, denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lagen hier die Gleise der Stettiner Bahn zwischen den Häusern, bis sie auf die heutige Trasse verlegt wurde.
Die Steegerstraße war ursprünglich eine Sackgasse. Nach dem 1. Weltkrieg wurde sie mit der Grüntaler Straße verbunden.
Als wenn sie sich heute darüber lustig machen will, verläuft die S-Bahn heute hoch oben auf einem Damm über den Wedding hinweg, und wer hier den Mauerweg weiterlaufen will, muss sie unterqueren. Die Grüntaler Straße endet abrupt, und bis zum Mauerfall war hier auch tatsächlich die "Welt zu Ende".
Genauer gesagt sind es drei Bahnunterführungen, von der ganz hoch verlaufenden Nordbahn an der Grüntaler Straße bis erdrückend niedrig an der heutigen Stettiner Bahnstrecke, und genau dazwischen gibt es noch ein Fleckchen wilde Stadtnatur: Das Nasse Dreieck ist ein wüstes Bahngelände, nur erreichbar über ein Tor an einem Unterwerk der Bahn. Hier war zu Mauerzeiten buchstäblich das Niemandsland, und heute ist es das auf eine Art noch immer. Wer die ungepflegte Gras- und Buschfläche durchquert, geht entweder mit seinem Hund Gassi oder kennt den Pfad als Schleichweg, der in einer Häuserlücke in der Pankower Brehmestraße endet und einem die Wollankstraße erspart.
Die Nordbahn überspannt die frühere Stettiner Bahn, heute das Nordende der Grüntaler Straße und war lange Zeit die Grenze zwischen dem französischen und dem sowjetischen Sektor.
Zurück zu unseren Bahnunterführungen, zurück zum Mauerweg. Wie in einer Berg- und Talfahrt geht es unter den Brücken hindurch und dann kurz steil nach oben, wo dann die berühmte Allee aus japanischen Zierkirschen beginnt, berühmt in der Zeit der Kirschblüte, wenn der Weg ein Traum in Rosa ist. Sie bildet inzwischen ein dichtes Blätterdach entlang des früheren Kolonnenwegs, den die DDR-Grenzer entlang des stets freien Sichtfelds an der Mauer entlangfuhren.
Für den Mauerweg wurde die Grüntaler Straße mit der Esplanade in Pankow und dem Kolonnenweg in Prenzlauer Berg verbunden.
Hier am Rand von Prenzlauer Berg ist es immer belebt, und erahnt man anhand der Geräuschkulisse das Geschehen rund um den viergleisigen S-Bahnhof Bornholmer Straße. Bald kommt auch die imposante Bösebrücke ins Blickfeld. 1916 als Hindenburgbrücke erbaut, schrieb sie am 9. November 1989 Weltgeschichte. Heute rattern wieder Straßenbahnen über sie, steigen zahllose Menschen aus Ost und West am Bahnhof um und nichts lässt erahnen, wie hart hier einst eine Grenze eine Stadt geteilt hat.
Die Bösebrücke wurde 1948 nach dem Widerstandskämpfer Wilhelm Böse benannt. Sie war Schauplatz des Mauerfalls am 9. November 1989.
Vor allem die "Wahnsinn"-Rufe, in der Nacht des Mauerfalls, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt und klingen wieder an, wenn ich die Brücke sehe.
Der Kolonnenweg wird bald zur Norwegerstraße, und an einer Rampe erklimmt man die Behmbrücke, die Gesundbrunnen und Prenzlauer Berg wieder verbindet. Das Bauwerk überspannt die ausgedehnten Gleisanlagen des Nordkreuzes und bietet einen Berlin-Blick wie aus dem Prospekt: der Fernsehturm im Hintergrund, der Humboldthain mit dem Bahnhof Gesundbrunnen - deutlich näher. Ein Häusermeer aus Mietskasernen und Neubauten. Dazwischen Gleise, und überraschend viel Grün. Der Schwedter Steg überspannt ebenfalls den grünen Bahnknoten und trifft auf die Behmbrücke.
Der Schwedter Steg entstand 1999 und ist 209 Meter lang.
Weitblick über das Nordkreuz, den Humboldthain, das Brunnenviertel und die östliche Innenstadt
Ich biege auf den abschüssigen Steg, der oft als Filmkulisse diente und Richtung Mauerpark führt, immer den Fernsehturm als Fernziel. Doch kaum endet der Steg, geht es rechts zu einem Kletterfelsen, und kurz darauf endet der Weg in einer Neubausiedlung am Bärbel-Bohley-Ring.
Hier würde man kaum vermuten, dass man wieder Weddinger Territorium betritt, so clean und bürgerlich ist diese Vorstadtidylle aus kubischen Neubauten und Tiefgaragen. Lastenradstellplätze inklusive, dafür gibt es aber kein Kiezleben, wie es sonst im Wedding üblich ist. Lange scheint diese künstliche Welt aber nicht gegen den Kiez am Gesundbrunnen standzuhalten, denn am Ende des Bärbel-Bohley-Rings geht es durch einen Zaun und man ist mit der bitteren Realität einer riesigen städtischen Brache konfrontiert. Der Wedding scheint hier Widerstand gegen die kulissenhafte Neubausiedlung zu leisten.
Das Wohngebiet um den Lichtburgring und den Bärbel-Bohley-Ring wurde erst um das Jahr 2020 fertiggestellt und ist eine Ausgleichsmaßnahme für die Erweiterung des Mauerparks.
Die Swinemünder Brücke, kaum weniger beeindruckend als ihre Schwester an der Bornholmer Straße, spannt sich über das brachliegende Gelände und die Bahngleise. Für Fußgänger ist ein mit Bauzäunen markierter Weg über eine versiegelte Fläche markiert - es geht unter dem Stahlkoloss des als Millionenbrücke bekannten Technikdenkmals hindurch. Doch es wird nicht besser. Auf der anderen Seite erwartet den Wanderer nicht gerade eine Postkartenschönheit. Vorbei sind die grünen Wege, die schönen Panoramen und reizvollen Details unserer bisherigen Strecke.
Die Swinemünder Brücke - von 1902-05 erbaut - war die bis dahin teuerste Brücke Berlins
Ein phantasieloser Betonklotz, der sich als Parkhaus mit angeschlossenem Kaufland, KIK und TEDI-Markt entpuppt, auf der linken Seite, und rechterhand ein Ensemble aus dem Bahnhof Gesundbrunnen, der Swinemünder Brücke und ausgesprochen hässlichen Betongebirgen, das das legendäre Heimatstadion der alten Dame Hertha an der Behmstraße ersetzten.
Von der alten Plumpe am Gesundbrunnen ist nicht mehr viel übrig geblieben
Und um der ganzen Trostlosigkeit noch die Krone aufzusetzen, endet der Weg auch an einem Ort, für den das Wort unwirtlich erfunden wurde: Leitplanken wie an Landstraßen verhindern, dass Fußgänger die Parkhauszufahrt einfach queren können, die Schräge zum offenen Vordach des zugigen Bahnhofs Gesundbrunnen ist mit Betonquadern und Betonkreisen zugestellt. Bahn-Security-Leute vertreiben Punks.
Die schlicht gestaltete Bahnhofshalle wurde erst Jahre nach der Eröffnung des neuen Bahnhofs hinzugefügt und wirkt nach wie vor wie ein Fremdkörper.
Auf den Betonblöcken sitzen Menschen, die nichts besseres zu tun zu haben scheinen. Ein Ort jedenfalls, an dem man jede Hoffnung verliert. Wenn man nicht wüsste, dass der Rosengarten im Humboldthain nur ein paar Meter hinter der Brunnenstraße beginnt, würde der Spaziergang hier ohne jeden Trost enden.