Allerdings war es am Anfang in West-Berlin nicht gerade angesagt, ausgerechnet im französischen Sektor zu wohnen. Anders als die Amerikaner und die Briten galten die Franzosen, die für die Bezirke Reinickendorf und Wedding zuständig waren, als militärisch schlechter ausgestattet und weniger spendabel zur Zivilbevölkerung. Dass sie am Ende doch die Herzen der Nordberliner erobert hatten, lag an der Persönlichkeit Einzelner – einer davon war Charles Corcelle. Gutes Essen und frankophile Kultur hatten daran aber auch einen großen Anteil.
Denn wenn die Franzosen mit etwas bei den Berlinern punkten konnten, waren es gute Küche, Filmkultur und Literatur. Mit dem Centre culturel français, inklusive einer Bibliothek, einem Kinosaal, Lehrküchen und überhaupt ganz viel savoir-vivre eröffneten sie den Menschen in der Inselstadt einen besonderen Zugang zu ihrem Land. Auch die deutsch-französische Aussöhnung, besonders über Jugendaustausch und Städtepartnerschaften, spielte dabei eine Rolle – auch und gerade im Wedding.
Die Anfänge der Annäherungen im Wedding lagen in der Badstraße 10, dem heutigen Haus der Volksbildung, wo das erste Kulturzentrum eröffnet wurde. 1960/61 zog das Centre Culturel Français an die Müllerstraße 74 – wo es noch heute ein wichtiger Ort für die deutsch-französischen Beziehungen ist. Von Anfang spielte der Direktor des Centre, Charles Corcelle, eine wichtige Rolle für die Verständigung der beiden Völker. Er war seit August 1945 in Berlin, leitete die Logistik des neu aufgebauten Flughafens Tegel während der Berlin-Blockade 1948 und wurde dann französischer Verbindungsoffizier beim Senat. 1949 drückte er sein Verhältnis zu Deutschland in einer Rede so aus: „Ich erhoffe mir, dass Berlin, dessen Unglück mich mit dem deutschen Boden versöhnt hat, das für mich bis dahin nur ein Boden der Verbitterung gewesen war, dass Berlin, Ihre so sympathische Stadt, in Zukunft in Freiheit und Wohlstand leben wird.“
Der spätere Träger des Bundesverdienstkreuzes Charles Corcelle initiierte den großzügigen Neubau des Centre Culturel Français, das neben einer großen Bibliothek auch einen bis heute existierenden Kinosaal und viele Seminarräume und Gästezimmer umfasste. Corcelle war von Dezember 1961 bis zu seiner Pensionierung 1972 sein Direktor. Folgerichtig wurde 2000 eine Straße nach ihm benannt (Charles-Corcelle-Ring). Die Straße umrundet die Julius-Leber-Kaserne, seit 1947 das militärische Hauptquartier der Franzosen in Berlin (das sogenannte Quartier Napoléon).
In diesem Bereich des Wedding gibt es noch viele weitere Reminiszenzen an die französischen Alliierten, die genau vor 30 Jahren im Jahr 1994 den Norden Berlins verließen – friedlich und im Guten. Seit 1963 hatte es auf dem Exerzierplatz der Armee am Flughafen Tegel ein Volksfest nach dem Vorbild des deutsch-amerikanischen Volksfestes gegeben, das später an den Kurt-Schumacher-Damm umzog. Das deutsch-französische Volksfest hat die Herzen der Weddinger endgültig für die französischen Alliierten geöffnet. Crêpes, Froschschenkel, Flammkuchen und gute Weine – das brachte Stil in den Berliner Norden - wenngleich das Ganze auch vor der Pappmaché-Kulisse eines „französischen Dorfes“ stattfand. Ein Feuerwerk zum 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, gehörte genau so dazu wie die Militärparade, auf der die französische Armee den Stand ihrer Militärtechnik zeigte. Ab 1971 gab es im Quartier Napoléon einmal im Jahr eines Tag der offenen Tür. Die Bevölkerung des Wedding war begeistert. Aus den einstigen Besatzungssoldaten waren nicht nur Angehörige der Berliner Schutzmacht, sondern auch Freunde und für manche Frauen auch Ehegatten geworden.
Weitere nennenswerte Orte waren die Freilichtbühne Rehberge, wo es rund um den 14. Juli kulturelle Veranstaltungen gab und der Rathausvorplatz mit seinem „Bal populaire“, der später auch am Centre Français stattfand. Dort gibt es heute auch eine Boulebahn, und an lauen Sommerabenden stellt sich dort sogar so etwas wie die Atmosphäre einer französischen Kleinstadt ein, wenn meist ältere Herren dort ihre Kugeln auf die Kiesbahn werfen. Gut, das ist sicher übertrieben. Fest steht jedoch, dass die Weddinger ihre Franzosen in bester Erinnerung behalten. Vor allem heute, an ihrem Nationalfeiertag. Bonne fête, les amis!
Danke für den schönen Artikel, der auch bei mir viele Erinnerungen weckt.
So erinnere ich mich noch sehr gerne an die Galerie, die in den ersten Jahren vorne im Centre francais
war. Dort habe ich etliche Freistunden von der Lessing-Schule mit meiner Freundin verbracht.
Die Kunst war relativ unbedeutend. Toll war aber auf jeden Fall der wunderbar zentral beheizte Raum,
in dem wir uns so richtig aufwärmen konnten.
Dann habe ich noch eine sehr gute Erinnerung an M. Corcelle. Im Jahr 1967/68 vermittelte er
meiner Schulklasse eine Partnerklasse in Paris. Das war damals noch relativ unüblich. Aber nach
der Verschiebung der Klassenfahrt von Mai 68 (Unruhen) auf Oktober 68 hatten wir alle eine
persönliche Einladung in eine Pariser Gastfamilie, von der eine wunderbare Erinnerung und noch
eine jahrelange Brieffreundschaft übrigblieb…
Danke. la France, wo auch heute noch mein Herz (nicht nur) in Gedanken höher schlägt.
Monika!
Es gibt noch ein weiteres, sehr lebendiges Überbleibsel der französischen Zeit im Wedding: Der zweisprachige Deutsch-Französische Kindergarten in der Afrikanischen Straße.
https://weddingweiser.de/deux-cest-mieux