In der Mitte der baumbestandenen Allee fühlt man sich wie in einem eleganten Heilbad. Helle Gebäude flankieren die ruhige Straße, Wege laden zum Spaziergang und weiße Holzbänke zum Sitzen ein. Nur ab und zu fährt ein Krankenwagen vorbei und hält an einer der Auffahrten. Ganz klar: Das hier ist zwar Wedding, aber ganz anders als die quirligen Straßen des Stadtteils.
Schon der Weg von der U‑Bahn führt durch eine Tordurchfahrt in den schlossartigen Brunnenhof und macht klar: Hier verlässt man den Alltag, hier beginnt eine andere Stadt. Doch bevor man das eigentliche Krankenhausgelände erreicht, geht es noch durch ein mit einem Kupferturm bekröntes Gebäude, an einem Brunnen vorbei.
Als ab 1899 nach seinen Plänen Ludwig Hoffmanns das vierte städtische Krankenhaus Berlins gebaut wurde, warf man bisherige Krankenhauskonzepte über Bord: So entstanden fünfzig niedrige, freistehende Gebäude, meist Pavillons, in barocken Formen, die sich in ein grünes Gelände einfügen. Die Idee war, dass sich Infektionskrankheiten auf diese Art schlechter ausbreiten können.
Damit sich die Kranken wohlfühlen, wurden die Fassaden der Pavillons mit reich geschmückten Reliefs ausgestattet. Brunnen in der 500 Meter langen zentralen Mittelallee mit ihren vier Baumreihen und eine Kapelle betonten ebenfalls den ruhigen, ländlichen Charakter des Geländes. Die ausgedehnte Krankenhausstadt war auf 2.800 Betten ausgelegt. Darüber hinaus wurden erstmals eigene Gebäude für einzelne ärztliche Abteilungen eingerichtet. Nur nichtinfektiöse Abteilungen wie Dermatologie und Gynäkologie wurden in mehrstöckigen Bauten untergebracht.
Der Platz war für das neue Krankenhaus ausgesucht worden, weil sich dort zuvor nur eine Abdeckerei und eine unbewachsene Heide befunden hatten. Zudem war die Nähe zum heutigen Robert-Koch-Institut ein Pluspunkt. Die Initiative, ein modernes Krankenhaus am damaligen Stadtrand zu errichten, ging auch von Rudolf Virchow aus, der um die Jahrhundertwende Stadtverordneter war. Der Arzt, der von 1821 bis 1902 lebte, hatte klare Vorstellungen von Hygiene und war sich der Bedeutung sozialer Missstände bewusst. Er setzte sich dafür ein, dass auf dem idyllischen Krankenhausgelände sehr fortschrittliche Einrichtungen vorhanden waren. Dazu gehörten eine Röntgenabteilung und ein Haus für Massagen und Bäder. Das Ergebnis der Anstrengungen war, dass das „Virchow“ bei seiner Einweihung 1906 als „Modellkrankenhaus für Europa galt“ und selbst Robert Koch ihm bescheinigte, dass keine andere Krankenanstalt in hygienischer und architektonischer Sicht an es heranreiche.
Doch im zweiten Weltkrieg wurde die Krankenstadt von Bomben getroffen. 70 Prozent der Gebäude waren zerstört, darunter auch ein Teil des schlossartigen Hauptgebäudes am Augustenburger Platz. Nur noch 400 Betten waren am Ende übrig. Nach und nach wurde das “Virchow” wieder aufgebaut.
1962 entstand an der Sylter Straße ein modernes achtstöckiges Bettenhaus für die Chirurgie. 1974 wurde der weitere Umbau des „Virchow“ in Angriff genommen. Zunächst wurden die südlich der Mittelallee liegenden restlichen Pavillons abgerissen und durch einen langgezogenen Neubau ergänzt, dessen letzter Abschnitt erst 1991 fertig wurde. 1984 entstand das Deutsche Herzzentrum Berlins, für welches das alte Hauptgebäude mit den beiden Tordurchfahrten saniert und um Wiederaufbauten der kriegszerstörten Teile ergänzt wurde. 1990 bis 1996 ging es dann nördlich der Mittelallee weiter, wo ebenfalls anstelle der Pavillons ein langgezogenes Lehr- und Forschungsgebäude errichtet wurde. Die nördlich und südlich der zentralen Allee errichteten Neubauten sind unterirdisch miteinander verbunden – so kann beispielsweisse die Röntgenabteilung von überall erreicht werden.
Von den ursprünglichen Bauten blieb nur wenig stehen. Dazu gehören das vom Herzzentrum genutzte Eingangsgebäude, drei Pavillons im Westen, die ehemalige Pathologie, die Quarantäne-Pavillons an der Föhrer Straße, die Gebäude an der Amrumer Straße sowie der Wirtschaftstrakt, das Kessel- und Maschinenhaus mit ehemaliger Koch- und Waschküche und dem ziegelgedeckten Wasserturm. Auch der Protest im Jahr 1988 konnte den Abriss der meisten unzerstörten Pavillons nicht verhindern. Aber die erhaltenen Gebäude stehen heute unter Denkmalschutz.
1986 wurde nicht nur das Deutsche Herzzentrum eröffnet, sondern das “Virchow” auch der Freien Universität unterstellt. Die seit 1987 “Universitätsklinikum Rudolf Virchow” genannte Einrichtung wechselte 1995 an die Humboldt-Universität. 1997 fusionierte die medizinische Fakultät mit der “Charité”.
Der Standort hat sich also trotz aller Veränderungen als wichtiger Pfeiler der Gesundheitsversorgung ganz Berlins erwiesen. Sicher kann man die riesigen, langgezogenen und in verschiedene Teilkliniken gegliederten Gebäude an der Mittelallee kritisieren, für die die meisten Pavillons der Jahrhundertwende weichen mussten. Dafür ist aber das einst so bedeutende Virchow-Klinikum auch heute wieder ein leistungsfähiger Standort für medizinische Versorgung und Forschung. Tausende kleine Berliner kommen Jahr für Jahr in der Geburtsklinik des Virchow auf die Welt. In einem Wettbewerb wurde sich 2020 für ein Architekturbüro entschieden, das die Umstrukturierung und Umorientierung des Standorts in Richtung Schifffahrtskanal plant. Der neue Schwerpunkt des Virchow wird also im Süden des Geländes errichtet.
Die schöne Mittelallee bleibt aber erhalten, und so verströmt auch weiterhin diese Flaniermeile ein ganz besonderes Flair in diesem ganz besonderen Teil des Wedding.
Zeit, sich einmal auf eine der weißen Bänke zu setzen und durchzuatmen.