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1 Stunde Wedding:
Das Schimmern der Müllerstraße

13. März 2022

In unse­rer Rei­he geben wir Autor:innen die Mög­lich­keit, ihre Ein­drü­cke auf­zu­schrei­ben und bei uns vor­zu­stel­len – eine Stun­de an einem Ort im Wed­ding, eine Stun­de vol­ler Beob­ach­tun­gen, mensch­li­cher Begeg­nun­gen und jeder Men­ge Wed­din­ger Atmo­sphä­re. Heu­te begibt sich unser Autor Maxi­mi­li­an an die Müllerstraße. 

Tief steht sie noch, die März­son­ne an der Mül­lerstra­ße, so tief, dass ein Mann mit rot-blau­er Stepp­ja­cke und geblüm­tem Ein­kaufs­trol­ley zwei Bonus­kar­ten vor die schwarz behaar­te Schlä­fe hält, damit er die Zei­len auf dem Bild­schirm des Ban­ko­ma­ten lesen kann. Auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te fährt der­weil der 120er vor, nahe­zu leer und glä­sern, sodass sich die Fas­sa­den von Geschäf­ten und Rat­haus über­lap­pen, bevor sie wie­der vom Bus abgleiten.

In den Schau­fens­tern der Bank­fi­lia­len spie­gelt sich das Trei­ben auf dem Bord­stein: lan­ge und kur­ze Jacken, über Ärmel gescho­be­ne Mas­ken, bun­te Foli­en­tü­ten, die letz­ten Win­ter­stie­fel. Hin­ter den Schei­ben lie­gen hin­ge­gen auf­ge­räum­te Orte. Wei­ße Lamel­len­vor­hän­ge schwin­gen wie in Zeit­lu­pe. An ande­ren Stel­len blickt man in schma­le Räu­me, in denen Auf­stel­ler aus trans­pa­ren­tem Kunst­stoff ihre geheim­nis­vol­len Schat­ten auf wei­ße Gips­kar­ton­wän­de und Gra­nit­bö­den wer­fen. Trans­pa­renz sol­len auch die Lis­ten auf den Auf­stel­lern zei­gen. In klei­ner Schrift ste­hen dort die Namen des Bera­tungs­per­so­nals, die tages­ak­tu­el­len Wech­sel­kur­se, die Zins­sät­ze für Geld­an­la­gen. Dar­über hängt ein Pla­kat: „Anla­gen. Jeder hat eine Mei­nung. Aber wer hat Ahnung?“ Ja, wer hat sie? Das mögen sich man­che der Vor­bei­ge­hen­den fragen.

Eini­ge Schrit­te wei­ter, unter einer brei­ten Mar­ki­se, schim­mern wei­ße Plas­tik­tü­ten vor dem Kunst­ra­sen­über­zug der Obst­aus­la­gen wie sei­di­ge Leib­chen. Es raschelt, an einem der Bün­del wird gezerrt, Fin­ger ver­su­chen die Foli­en von­ein­an­der zu tren­nen. Grape­fruits fal­len in die dün­ne Hül­le und for­men sie zu einer bau­chi­gen Skulp­tur. Vie­le Stim­men, ein Stoß Men­schen zieht vor­bei. Es ist uner­gründ­lich, war­um sich immer wie­der ein­an­der unbe­kann­te Leu­te auf dem schma­len Fuß­weg in sol­chen Grup­pen ver­fan­gen. Haben sie sich bereits an den Ampeln am Cit­ti­point ver­sam­melt? Saßen sie im glei­chen Bus? Oder wur­de im Super­markt eine zwei­te Kas­se geöffnet?

Die vie­len Tüten an der Mül­lerstra­ße sind so unter­schied­lich wie die Hän­de, die sie tra­gen. Man­che sind schwarz und mit Orna­men­ten bedruckt, Rau­ten aus gol­de­nen Lini­en. Vie­le sind jedoch weiß, rot oder blau und halb durch­sich­tig. Und sie wer­den es umso mehr, je vol­ler sie sind. In rot-weiß karier­tem Papier ein­ge­pack­tes Fleisch lässt sich erah­nen. Bir­nen drü­cken sich durch. Ein Mann mit einer Tak­ke auf dem Kopf hat so vie­le Äpfeln ein­ge­packt, als kön­ne die prall gefüll­te, die ver­letz­li­che Haut jeder­zeit rei­ßen. Hier bleibt nichts im Ver­bor­ge­nen. Eine Frau mit Zebr­aprint-Kopf­tuch bleibt vor den Aus­la­gen ste­hen und stickt ihre vol­le Plas­tik­tü­te in einen roten Sparkassenbeutel.

Text/Fotos Maxi­mi­li­an Ludwig

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