In unserer Reihe geben wir Autor:innen die Möglichkeit, ihre Eindrücke aufzuschreiben und bei uns vorzustellen – eine Stunde an einem Ort im Wedding, eine Stunde voller Beobachtungen, menschlicher Begegnungen und jeder Menge Weddinger Atmosphäre. Heute begibt sich unser Autor Maximilian an die Müllerstraße.
Tief steht sie noch, die Märzsonne an der Müllerstraße, so tief, dass ein Mann mit rot-blauer Steppjacke und geblümtem Einkaufstrolley zwei Bonuskarten vor die schwarz behaarte Schläfe hält, damit er die Zeilen auf dem Bildschirm des Bankomaten lesen kann. Auf der anderen Straßenseite fährt derweil der 120er vor, nahezu leer und gläsern, sodass sich die Fassaden von Geschäften und Rathaus überlappen, bevor sie wieder vom Bus abgleiten.
In den Schaufenstern der Bankfilialen spiegelt sich das Treiben auf dem Bordstein: lange und kurze Jacken, über Ärmel geschobene Masken, bunte Folientüten, die letzten Winterstiefel. Hinter den Scheiben liegen hingegen aufgeräumte Orte. Weiße Lamellenvorhänge schwingen wie in Zeitlupe. An anderen Stellen blickt man in schmale Räume, in denen Aufsteller aus transparentem Kunststoff ihre geheimnisvollen Schatten auf weiße Gipskartonwände und Granitböden werfen. Transparenz sollen auch die Listen auf den Aufstellern zeigen. In kleiner Schrift stehen dort die Namen des Beratungspersonals, die tagesaktuellen Wechselkurse, die Zinssätze für Geldanlagen. Darüber hängt ein Plakat: „Anlagen. Jeder hat eine Meinung. Aber wer hat Ahnung?“ Ja, wer hat sie? Das mögen sich manche der Vorbeigehenden fragen.
Einige Schritte weiter, unter einer breiten Markise, schimmern weiße Plastiktüten vor dem Kunstrasenüberzug der Obstauslagen wie seidige Leibchen. Es raschelt, an einem der Bündel wird gezerrt, Finger versuchen die Folien voneinander zu trennen. Grapefruits fallen in die dünne Hülle und formen sie zu einer bauchigen Skulptur. Viele Stimmen, ein Stoß Menschen zieht vorbei. Es ist unergründlich, warum sich immer wieder einander unbekannte Leute auf dem schmalen Fußweg in solchen Gruppen verfangen. Haben sie sich bereits an den Ampeln am Cittipoint versammelt? Saßen sie im gleichen Bus? Oder wurde im Supermarkt eine zweite Kasse geöffnet?
Die vielen Tüten an der Müllerstraße sind so unterschiedlich wie die Hände, die sie tragen. Manche sind schwarz und mit Ornamenten bedruckt, Rauten aus goldenen Linien. Viele sind jedoch weiß, rot oder blau und halb durchsichtig. Und sie werden es umso mehr, je voller sie sind. In rot-weiß kariertem Papier eingepacktes Fleisch lässt sich erahnen. Birnen drücken sich durch. Ein Mann mit einer Takke auf dem Kopf hat so viele Äpfeln eingepackt, als könne die prall gefüllte, die verletzliche Haut jederzeit reißen. Hier bleibt nichts im Verborgenen. Eine Frau mit Zebraprint-Kopftuch bleibt vor den Auslagen stehen und stickt ihre volle Plastiktüte in einen roten Sparkassenbeutel.
Text/Fotos Maximilian Ludwig